Der Schock
Dunkle Wolken treiben über das Dorf. Ein ruppiger, klammer Herbsttag.
In regelmäßigen Abständen kommt Eric in die Küche und klaut sich eines der Hefeteilchen, die auf der Anrichte am Fenster dampfen. Warme, lockere Schnecken, Hörn
chen, Rosinenkringel, Hefebälle, gefüllt mit Blaubeermar melade. Blaubeermarmelade aus Dalarna! Dem sonnigen, lichtüber fluteten Dalarna, noch vor einer Woche waren wir dort.
Wo sind wir jetzt? Wie nennt sich dieser furchtbare Teil der Erde? Småland? Was ist das?
Es ist ein praller, wässriger Pilz, auf dem wir wie In sekten kleben.
Wahrscheinlich gibt es hier überhaupt keinen Sommer.
Bestimmt denkt auch Lisa so. Seit gestern backt sie, als wollte sie das gesamte Mehl des Dorfes in Muffins und Plätzchen verwandeln.
Für den Winter, der in wenigen Stunden Schlag Mitternacht beginnt.
Das Haus und die Bewohner
Das Haus ist ein zweistöckiger, langgezogener, rechteckiger Holzbau, rot gestrichen, mit weißen Umrandungen an Fenstern, Giebeln und Hausecken. „Strandhem“
heißt es und steht oben auf einem Wiesenhang.
Ein Feldweg führt hinunter zu einem See mit Namen Bolmen.
Der Ort heißt Odinfred und liegt in Småland.
Das Haus hat 14 Zimmer und war einmal ein Altersheim. Die Svenssons kauften es (Eric ist Schwede, Lisa ist Deutsche) und wollen es zu einer Pension für
Feriengäste umbauen. Davor waren sie in Dalarna an einer anthroposophischen Schule für geistig behinderte Kinder. Ihr Kind, Ulf, ist gerade 8 Monate alt.
Eric trampte durch ganz Europa von Jugoslawien bis Spanien, während Lisa, seine Frau, Mathematik studierte. Sie behauptet, er hätte sie bei einem Kurzaufenthalt
in Hamburg gekidnappt und nach Schweden entführt.
Er ist groß mit breiten Schulten, hat eine Glatze mit Haarkranz („Guter Landeplatz für Mücken“ nennt er das) und rasiert sich nur jeden dritten oder vierten Tag.
Wenn sein Haar lange Zeit nicht geschnitten ist, kräuseln sich Locken hinter seinen Ohren und er könnte einer von Astrid-Lindgrens Vagabunden sein.
Seine Frau ist einen Kopf kleiner, ständig in Bewegung, hat braune, funkelnde Augen, die spöttisch bis vernichtend blicken können, und langes dunkles Haar, zum
Zopf gedreht, was uns sehr gefällt: an seinem Schwung können wir ihre Laune erkennen.
Zwei geistig behinderte Jungen aus der Schule kamen mit ihnen: Kore, hochgeschossen, spinnenhaft dünn mit langen Armen, und Sven-Gösta, stämmig gebaut, tapsig wie
ein Bär, mit seinen klobigen Fingern macht er oft Scherben. Ihre Familien leben in Småland, man sucht Ausbildungsplätze für sie. Bis dahin sollen sie bei den Svenssons wohnen.
Was mich betrifft, ich war „Praktikant“ an der Schule in Dalarna, einquartiert bei den Svenssons.
Jetzt bin ich hier und helfe, wo immer ich gebraucht werde.
Sven-Gösta
Irgendwie verdreht er beim Laufen seine Füße oder sie wollen anders als er. Er stolpert mehr vorwärts, als dass er läuft. Seine Lippen zittern wie Gummi, manchmal
hängen Speicheltropfen daran, die er – sofern er es bemerkt – einschlürft. Seine braunen Augen sind immer in Bewegung, entweder suchen sie nach etwas Essbarem oder sie drehen sich anklagend
zum Himmel. Und dann schallen schreckliche Flüche durchs Haus.
„Keiner versteht mich in diesem verdammten Dorf! O Herr Gott, warum leb ich? Warum? Lisa, Eric, sagt es! Warum? O du satanischer Gott, was hab ich
getan..."
Er leidet, und das kann man ihm ansehen.
Manchmal versucht er stundenlang an seinen Fingern bis 10 zu zählen. Ich soll ihm dabei helfen und sage ihm die Zahlen vor, aber bei ihm beginnt das Chaos schon
bei der 3, danach bringt er die Zahlen durcheinander..