Eika Aue
Geboren in Hamburg.
Tätig in der Medienbranche, danach selbständig.
Lebte in Hamburg, Bremen und Kiel.
Ihre große Liebe aber gilt Berlin,
dort ist sie zu Hause.
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Die Türme von
Pankow
Meine unmittelbare Umgebung habe ich noch lange nicht komplett erwandert. Gerade gab es eine gute Gelegenheit für ein Stück Heimatkunde. Ein Freund aus dem Umland kam zum Kaffee in meine Gegend;
ich holte ihn vom S-Bahnhof ab und wir bummelten die betriebsame Berliner Straße hoch bis zur Kreuzung Breite Straße.
Hier steht auf dem historischen Dorfanger die alte Pfarrkirche Alt-Pankow „Zu den vier Evangelisten“. Auffällig und ungewöhnlich sind die zwei Türme. Meine Vermutung lässt sich
belegen: hier haben im 13. Jahrhundert Zisterzienser-Mönche gelebt und gebetet. Im 19. Jahrhundert haben dann Preußens berühmteste Architekten Hand angelegt: Schinkel und auch F.A. Stüler
waren an den Umbauten beteiligt. Schon einige Male habe ich mich bei Gottesdiensten, Lesungen oder Musikveranstaltungen vom schönen Interieur überzeugen können.
Links und rechts knattert der Verkehr, die Mönche würden sich im Grab umdrehen. Dieser Dorfanger, ein breiter Grünstreifen, der die Breite Straße teilt, bietet dreimal pro Woche dem ältesten
Wochenmarkt Berlins Raum. Die „Fliegenden Händler“ sind ein willkommener Ausgleich zu den Filialen der Handelsketten, die leider alle Städte in diesem Bereich gleichmachen.
Am Ende der Breiten Straße stehen wir vor dem imposanten, rot verklinkerten Rathaus Pankow, erbaut 1903. Das Wahrzeichen des Stadtteils ist sehenswert - und einen Turm hat es natürlich auch. Die
Eingangshalle mit Stuckornamentik und herrlichen Jugendstillampen findet sich noch nicht in allen Reiseführern, ist aber unbedingt sehenswert. Das ist mir allerdings schon seit über 30 Jahren
bekannt, denn zu DDR-Zeiten musste ich mich hier anmelden, wenn ich Freunde in der Parkstraße von Hamburg aus besuchte.
Mein Begleiter möchte keine weiteren Türme sehen, sondern endlich das Kaffee- und Kuchen-Angebot versuchen. Wir finden ein großes, anonymes Café mit Selbstbedienung und bodentiefen Fenstern,
durch die wir auf das Treiben draußen schauen können und uns über die Moden amüsieren und je kühner sie waren, um so berlinerisch kamen sie uns vor. Fehlt noch eine Kleinigkeit, um den Nachmittag
perfekt zu machen. Da ist es! Als wir den Kuchen von der Theke holen, sehen wir Film- und Fernseh-Star Henry Hübchen an einem Tisch sitzen, ganz nah bei uns, auch am Fenster. Er scheint mit
seinem Gegenüber irgendwelche Vertragspapiere zu prüfen und ist ganz im Gespräch versunken. Ich komm mir vor wie im alten Wien, wo die Cafés für manche zu Wohnstuben wurden. Er sieht aus wie im
Film, seine Gesten sind wie im Film, spielt er eine Rolle? Nein, das ist echt. In Lederjacke und ungeschminkt sitzt er da.
Kurz überlegt, ob wir das Handy zücken sollten. Wir entschieden: nein.
Es lebe die Privatsphäre!
Ein Nachmittag in Mesopotamien
Zum Glück gibt es in meiner Familie Schulkinder. Vom 11jährigen erfahre ich hin und wieder, was gerade im Unterricht durchgenommen wird. Ich hatte ebenfalls Erdkunde-Stunden, die sich mit dem Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris beschäftigten. Lange ist es her. In Berlin haben wir ja alles vor der Haustür, um diese Erinnerungen aufzufrischen und dem Schüler von heute einen Blick auf die archäologischen Kostbarkeiten zu vermitteln. Auf ins Pergamon-Museum!
Die Tram 12 fährt von Prenzlauer Berg fast direkt vor die Haustür des Museums. Ein paar Umwege über Baustellen müssen wir machen, denn seit 2013 wird hier bei laufendem Betrieb saniert. Der Saal mit dem Pergamonaltar ist leider eingerüstet und deshalb geschlossen. Die zweite große Attraktion im Vorderasiatischen Museum ist aber zugänglich: das Ischtar-Tor und die Prozessionsstraße. Wir sind schwer beeindruckt von der Größe und Farbigkeit. Die Rekonstruktion erfolgte aus farbig glasierten Original-Lehmziegelbrocken und zeigt einen Teil der Thronsaal-Fassade. Nebukadnezar wusste, was Eindruck schindet! Stiere, Drachen und Löwen zieren die Wände. Durch die Info-Tafeln erfahren wir, dass assyrische Könige die Löwenjagd liebten und dass der Löwe das Symbol der Planeten-Göttin Ischtar ist. Sie verkörpert den Planeten Venus und ist gleichzeitig Göttin des Krieges.
Ich finde es spannend, mich durch die Neffen-Inspiration mit dieser Zeit ein wenig zu beschäftigen. Bei einem früheren Besuch dachte ich lediglich: „Oh toll, riesengroß und irre Farben, dieses tiefe Blau und Türkis...“ Jetzt weiß ich, dass diese Anlage seit 1930 im Pergamon-Museum zu besichtigen ist und einst zu den 7 Weltwundern der Antike gehörte!
In der Flusslandschaft Mesopotamiens (heute Irak) ließen sich zum ersten Mal Menschen dauerhaft nieder. Es entwickelten sich Königreiche, Stadtstaaten mit einer Rechtsordnung; Privateigentum, Grund und Boden waren möglich. Die Keilschrift wurde erfunden. Ziegelstein, Keramik, Streitwagen und das Bierbrauen waren weitere Entwicklungsstationen. Die Menschen hatten außergewöhnliche handwerkliche Fähigkeiten, bauten Bewässerungssysteme, um die Residenz mit Trinkwasser zu versorgen, züchteten Baumwolle, um daraus Kleidung herzustellen. Faszinierend. Hier könnte ich mich noch lange aufhalten und mein Grundschulwissen ergänzen, aber die Museumsluft macht ungeheuer müde. Das geht mir nicht allein so. Auf jeder Treppe, in jeder Ecke hängen schlaffe Schülergruppen herum. Ich bin froh, dass es mal keine Alterserscheinung ist, müde zu sein.
Auf dem Rückweg zur Tram, die „Am Kupfergraben“ bereitsteht, gehen wir am bewachten Wohnhaus von Angela Merkel vorbei. Sie ist niemals müde, obwohl sie den Bau-Lärm vor der Haustür aushalten muss!
Ein neuer Name
Ein Leser regte an, mein Berlin-Tagebuch in Berliner Flanierbuch umzubenennen, weil es so wenig Persönliches enthält. „Einem Tagebuch vertraut man Geheimnisse an.“, sagte er. Stimmt. Früher
nannte ich mein privates Tagebuch Klagebuch, weil es mich entlastete, wenn ich meine Sorgen und Nöte mit lila Tinte aufschreiben konnte. Aber mein Berliner „Tagebuch“ hat für mich eine
andere Qualität.
Ich bin keine eingetragene Feministin, dennoch hat es mich gestört, dass der Duden das Substantiv Flaneur nur maskulin ausweist. Die weibliche Form gibt es nicht. Die Lebenswanderung ohne Gepäck,
der Spaziergang in die eigene Existenz, ist den Männern vorbehalten. Der Flaneur lässt sich durch die Menge treiben, er ist intellektuell, meist adelig, hat offensichtlich keine Geldsorgen, denn
seine Kleidung ist tadellos, bürgerlich-vornehm. Seine Lebenskunst besteht in der interessenlosen Neugier. Edgar Allan Poe hat diesem Typus in seinen Geschichten, z. B. in „Der Mann in der
Masse“, ein Denkmal gesetzt. Es heißt dort: „Es wäre vergeblich, ihm zu folgen, denn man wird weder ihn noch sein Tun tiefer durchschauen.“ Also ist Spaziergang ein typisch bürgerliches
Verhaltensmuster, das durch Langsamkeit und Dandyhaftigkeit unterstrichen wird.
Aber ich gehe ja gar nicht spazieren. Meistens habe ich ein Ziel und bin trotzdem für jeden Umweg, jede zufällige Abschweifung zu haben. Der Flaneur genießt planlos die Lektüre der Stadt, er
schlendert, streift anonym in der Großstadt umher, er liebt das Zufällige. Vielleicht ist die Wiederkehr der Flaneure noch am ehesten mit der Idee der Stadtschreiber zu begründen, die jeweils für
ein Jahr eine Kulturrente erhalten und nach Möglichkeit ihr Flanieren beschreiben sollen. Eine Grundlage des Kulturjournalismus, um Galerien, Passagen, Bibliotheken abseits des Konsumklimas zu
beschreiben. Das soziale Geschehen in aller Langsamkeit beobachten.
Und so heißt für mich „flanieren“, mit einer Schildkröte spazieren zu gehen. Aber erstens ist das Berlin kaum möglich, man würde zum Verkehrshindernis, und zweitens: es ist auch nicht meine Art.
Bei meinen Wegen geht es um Entdeckungen, Erweckungen, Erinnerungen. Begegnung, Recherche und Unterhaltung sind die Basis für meine Texte, auf die ich ein durchweg positives Echo
erfahre.
Darum, lieber Leser, kann meine Tagebuch auf keinen Fall – wie du es mir vorgeschlagen hast – „Berliner Flanierbuch“ heißen. Aber wie wär's damit: „Berliner Journal“? Trifft besser?
Also gut: Ab nächstes Mal kein „Eikas Berlin-Tagebuch“ mehr, sondern „Eikas Berlin-Journal“.
Ansonsten bleibt alles, wie es war.
Friedenauer
Meile
Nachdem ich das Gleisdreieck abgearbeitet hatte, taten sich durch die Lektüre des neuen Stadthaus-Verlag-Buches "68-Es gab nicht nur Demos" sofort weitere interessante Berliner Orte auf. Die
Künstler (vor allem Schriftsteller), die in der Umgebung vom im Buch geschilderten Buchladen wohnten, haben die Nachkriegsliteratur wesentlich geprägt. Allen voran noch einmal Nobelpreisträger
Günter Grass, der in der Niedstraße 13 wohnte. In dem gemütlich wirkenden Häuschen ist heute eine Naturheilpraxis. Die Natur im Vorgarten wirkt allerdings ziemlich krank. Dicht
daneben wohnt e im elfenbeinturmfarbenen Haus Uwe Johnson. Der Herausgeber der Literaturzeitschrift TOTAL wohnte in der Handjerystraße 38, der Verleger und Freund Lenz lebte mit seiner
Familie im Eckhaus Handjerystraße 86. Auch bei Hans Magnus Enzensberger, Lars Gustafsson und Christoph Meckel war die Wohngegend damals beliebt.
Friedenau, das hört sich schon so heimelig an und passt zu den wunderschönen Gründerzeit-Häusern hier. Diese Landhaus-Kolonie wurde im Gedenken an den Frieden zwischen Preußen und Frankreich so
genannt.
Und weil hier schon so eine Art Freundes-Nest war, zog es auch den Schweizer Schriftsteller Max Frisch hierher. Er bezog im Februar 1973 mit seiner Frau Marianne eine Wohnung in der
Sarrazinstraße 8. Hatte er genug von Zürich, Berzona und Rom? Nicht nur heute strebt alles nach Berlin. Zuwanderungswellen gab es in regelmäßigen Abständen. Bei Max Frisch und anderen
Künstlern war es sicher die Neugier auf Ost-Berlin. Er wies häufig darauf hin, dass Literatur im anderen Teil Deutschlands noch ernst genommen werde und ließ keine Gelegenheit aus, sich mit
DDR-Schriftstellern „drüben“ zu treffen.
Das halbe Berlin war für viele faszinierend. Auch für mich. Das ist wieder eine andere Geschichte. Aber ich ließ auch keine Gelegenheit aus, dem gelebten Sozialismus näher zu kommen. Max
Frisch habe ich am Grenzübergang nie getroffen, kein Wunder, als Schweizer musste er den Checkpoint Charly passieren. Er hat auch ein „Berliner Journal“ 1973/74 verfasst. Ich habe seine
Eindrücke sehr gern gelesen, in denen er Berlin als Vakuum beschreibt, das aus weiten Nebenstraßen besteht, die in kein Zentrum führen, allenfalls in andere Bezirke.
Genau das unterscheidet mich von Max Frisch, denn ich gehe diese Nebenstraßen für mein Leben gern und entdecke immer wieder Neues. Nach ein paar Schritten stehe ich in der Rubensstraße, auch hier
wohnt eine Nobelpreisträgerin: Herta Müller. Und alle zusammen kauften am Samstagmittag auf dem mickrigen Markt am Breslauer Platz im Schatten des Rathauses ein. Hier wurden also die
berühmten und geheimen Rezepte der Hobbyköche getauscht und „Fische mit Kopf“ (G. Grass) gekauft.
Ich möchte noch nicht mit der U-Bahn zurückfahren, obwohl die Stationen Friedrich-Wilhelm- und Walther-Schreiber-Platz in der Nähe sind. Mein Flanieren wird belohnt, denn ich entdecke eine
wunderschöne Siedlung , die in den zwanziger Jahren gebaut wurde: die Ceciliengärten. Der Architekt Heinrich Lassen hatte ein Herz für Ornamente, Staffelungen, Spitzdächer, Fassadenschmuck
und üppige Innenhofgestaltung. Ein öffentliches Freilichtmuseum der Art déco. Der Umweg hat sich gelohnt. Auch hier geht es nicht ohne einen berühmten Namen. Der Maler George Grosz hatte in
diesem Turm über dem Tor eine Atelierwohnung.
Gleisdreieck
Freund und Verleger Dieter Lenz hat gerade ein neues Buch herausgebracht: „68 – Es gab nicht nur Demos“. Das 50jährige Jubiläum der 68er Generation haben er und vier weitere AutorInnen mit damals
selbst Erlebtem beschrieben. Ein Name, der häufig vorkommt, hat mich nun bewogen, ebenfalls in Erinnerungen zu graben. Günter Grass (1927 - 2015) ist mir zwar nicht begegnet, aber ich habe in
Erinnerung, dass seine „Blechtrommel“ (1959 erschienen) der erste Erwachsenen-Roman war, den ich las. Alle Freunde und Mitschüler lasen ihn. Wir mussten uns allerdings zuhause immer neue
Verstecke zum Aufbewahren suchen, weil es darin ja Stellen gab, die nicht jugendfrei waren. Das wussten auch unsere Eltern.
10 Jahre später zog ich nach Berlin und ich begegnete (wahrscheinlich im TOTAL-Büchershop)
wieder einem Buch von Günter Grass: der Gedichtsammlung „Gleisdreieck“. Wie konnte man ein Buch nach dieser Gleiswildnis nennen?
Damals fuhr ich auf dem Weg zur Arbeit täglich an dieser Station vorbei. Manchmal stieg ich aus, um vom dortigen Paket-Postamt eine Sendung meiner Eltern aus West-Deutschland abzuholen. Gleise,
Brücken, Gasometer zierten die riesige Bahnbrache des ehemaligen Potsdamer und Anhalter Bahnhofs. Ein unwirtlicher Ort, an dem immer Novemberstimmung war.
Inzwischen ist dort eine öffentliche Grün- und Erholungsanlage entstanden, die rund um die Uhr geöffnet hat. Auf einer Fläche von 31 Hektar können Kinder toben, Freiluftanhänger spazieren oder
Schattenboxen üben. Im Sommer rauchen die Grillfeuer und alle, alle sind hier und vergnügen sich.
Das habe ich bisher - Jahrzehnte später - auch nur aus meiner vorbeifahrenden U 2 gesehen. Aber in diesem Jahr nehme ich es mir ganz fest vor, dem Geheimnis der Gleise-Spinne, die Günter Grass
beschreibt, auf die Schliche zu kommen.
Rahels Erster Salon
Die Remise der Mendelssohns und ihr Mäzenatentum auf dem Gebiet der Musikförderung sind nicht die einzige Attraktion der Jägerstraße. Die städtische Hinweistafel „Geschichtsmeile“ zeigt,
dass hier eine Wiege europäischer Kultur stand, die unmittelbar von Preußen ausging. Im Eingang des Hauses Nr. 54 weist eine Gedenktafel drauf hin, dass hier eine jüdische Vor-Denkerin der
Emanzipation einen Salon führte. Als ich mir vor 30 Jahren die (wenig gelesene) Gesamtausgabe ihrer Werke kaufte, ahnte ich nicht, dass ich einmal vor dem Haus stehen würde, in dem die Karriere
dieser berühmten Frau begann.
Rahel Levin (1771 - 1833) war die Tochter eines Juwelenhändlers aus Dessau. Man weiß über Salonnièren, dass sie nicht nur selber geistreich sind, sondern ebensolche Menschen um sich versammeln,
vornehmlich aus gebildeten Kreisen: Künstler, Politiker, Gelehrte waren gern zu den Tee-Gesellschaften in der Dachwohnung der Rahel Levin gesehen. Sie war eine Anhängerin der Französischen
Revolution, darum kamen auch gern aufmüpfige junge Aristokraten, deren Themen sich um eine „Republik des freien Geistes“ und Rechte der Frauen (!) rankten. Es war wohl eines besondere Atmosphäre
des Sich-Bildens, die es bisher nicht gab. Leitmotive ihrer Kunstbegeisterung gaben Goethe und Fichte vor, in deren Ich-Philosophie der schöpferische Mensch das höchste Prinzip darstellt.
Mon Dieu, welch gloriose Entwicklung liegt hinter uns! Haben wir es heute noch nötig, Vor-Denker um uns zu versammeln, damit wir etwas gelten? Nicht wirklich. Aber für mich eindrucksvoller als
jeglicher Bildungsgedanke ist Rahels Wunsch, Christin zu werden, „deutsch“ zu sein. Zeitlebens litt sie unter ihrer jüdischen Herkunft. Sie trachtete mit aller Kraft danach, durch Einheirat in
den preußischen Adel aus der ungeliebten Herkunft auszubrechen, was ihr letztendlich auch gelang. Vier Tage vor der Eheschließung mit dem Diplomaten Varnhagen trat Rahel zum Christentum
über.
Nach Napoleons siegreichem Einzug in Berlin 1806 endete Rahels Erster Salon. Jüdische Salons wurden gemieden, Deutschsein war alles. Die Niederlage Preußens war zugleich das Ende der Berliner
Geselligkeit. Erst im Jahre 1819 gelang es Rahel Varnhagen, einen Zweiten Salon in der Französischen Straße (ganz in der Nähe) zu gründen. Aber das ist eine neue Geschichte.
Zum Zweiten Salon gehörte die Freundschaft zu Heinrich Heine, der sich über das Fehlen kosmopolitischer Grandezza der Berliner Salons beklagte. Er sah darin ein Treffen biederer
Teekränzchen voller Steifheit und Sentimentalität:
Sie saßen und tranken am Teetisch
Und sprachen von Liebe viel.
Die Herren, die waren ästhetisch,
Die Damen von zartem Gefühl.
„Die Liebe muss sein platonisch“,
der dürre Hofrat sprach.
Die Hofrätin lächelt ironisch,
Und dennoch seufzet sie : "Ach!"
Der Domherr öffnet den Mund weit:
„Die Liebe sei nicht zu roh,
Sie schadet sonst der Gesundheit.“
Das Fräulein lispelt. „Wieso?“
Die Gräfin spricht wehmütig:
„Die Liebe ist eine Passion!“
Und präsentiert gütig
Die Tasse dem Herrn Baron.
Bei Mendelssohns
Genauer gesagt, donnerstags um Eins bei Mendelssohns in der Remise. Im Hinterhaus. Aber was für ein Hinterhaus! Ich erfahre, dass es bereits seit 10 Jahren donnerstags um Eins diese
Mittagskonzerte gibt, die von Studenten der Hochschule für Musik Hanns Eisler, die sich in der Nähe befindet, durchgeführt werden. Gratis!!!! Zu diesem klassischen Hör-Vergnügen
fahre ich ins „Wohnzimmer“ Berlins, in die Friedrichstadt, zum Gendarmenmarkt. Von der U-Bahn-Haltestelle Hausvogteiplatz aus sind es nur wenige Schritte zur Jägerstraße.
Hier lag der zentrale Ort der Mendelssohn-Familie, die in sechs Häusern mehr als hundert Jahre lebte und arbeitete. Bankiers, Künstler und Gelehrte der Familie haben über fünf
Generationen Deutschlands Kultur- und Wirtschaftsgeschichte geprägt. Jüdische, evangelische und katholische Nachkommen beeinflussen bis heute die deutsch-jüdische Historie. Ich gestehe,
dass ich mehr an der Musik der Geschwister Fanny und Felix Mendelssohn-Bartholdy interessiert bin als an den Bankiers in deren Ahnentafel.
Ich kann den Ort der Gratis-Veranstaltung nicht verfehlen, denn es hat sich bereits eine lange Schlange gut situierter kulturinteressierter, durchweg grauhaariger Menschen gebildet. Wie in
der Kirche. Oder wie an einem Ort, an dem es etwas umsonst gibt. Das heutige Mittagskonzert soll 45 Minuten dauern. Der berühmte Komponist (1809 - 1847) hat es 16-jährig geschrieben. Ein
Streichoktett in Es-Dur op.20 wird zu Gehör gebracht.
Endlich schweigen die Quasseltanten hinter mir. Der lautstark erzählte Teneriffa-Billigurlaub mit Halbpension passt nicht so richtig in das edle Ambiente. Wenn frau für lau ein Konzert hören
möchte, kann sie sich nicht das Auditorium aussuchen. (Wenn sie bezahlt, allerdings auch nicht.) Dicht gedrängt sitzt das Gratis-Publikum auf Ikea-Klappstühlen, die genau nach 45 Minuten die
Wirbelsäule quälen. Man ist begeistert von der Leistung der jungen Studenten und der Beifall ist zu Recht üppig. Aber auch das schreckliche Takt-Geklatsche Zu-ga-be, Zu-ga-be ringt ihnen
keinen weiteren Ton ab. Für alle Acht eine Rose von der Professorin und dann bitte hinaus, vorbei an den Spendenkörben, deren Inhalt hoffentlich dieser tollen Hochschule zugute kommt. Ob ich
wiederkomme, weiß ich wirklich nicht.
Ein Vorstandsmitglied der Mendelssohn-Gesellschaft richtet noch entsprechende Worte ans Publikum, man möchte der Gesellschaft beitreten, spenden wie verrückt, klar, ehrenamtlich mitarbeiten, auch
klar. Ich habe nicht den Eindruck, dass die Stiftung am Hungertuch knabbert oder gar meiner Mitarbeit bedarf; ich habe aber etwas sehr Beindruckendes im Logo der Mendelssohn-Gesellschaft
entdeckt: den Kranich mit dem Stein. In einer antiken Legende heißt es, dass Kraniche nachts Wachen ausstellen, die aufschrecken, sobald der Stein, den sie in der Kralle halten, zu Boden
fällt. Mit dem Motto „Ich wache“ steht der Kranich als Wappentier der Mendelssohn-Gesellschaft für den Auftrag bürgerlicher Verantwortung. An dieser Stelle ist es wohl erlaubt, sich
und andere zu fragen, was unsere Gesellschaft zusammenhält??
Haus der Spione
In der Scheinwelt des Kalten Krieges spielte Berlin eine Hauptrolle. Und eine der attraktiven Hauptdarstellerinnen ist das Haus in der Fasanenstraße 28. Das erfährt der geneigte Leser im neuesten
Roman des Spezialisten für dieses Milieu: John le Carré.
Seine Agentenromane habe ich verschlungen und die Verfilmungen gern und mehrmals gesehen. Den „Spion, der aus der Kälte kam“, mit dem genialen Whiskeytrinker Richard Burton, kennt fast
jeder. Aber die Funktion des Charlottenburger Hauses, das 1899 erbaut wurde und unversehrt, stabil und schön blieb, kenne ich erst aus dem neuen Buch „Das Vermächtnis der Spione“ von le Carré.
Schon jetzt mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet, kann der 1931 geborene, englische Autor, seine Trophäen-Galerie um einen Pokal erweitern. Der studierte Germanistikprofessor lehrte am
englischen Eton-College Französisch und Deutsch. Und seine Geheimdienst-Erfahrungen sind echt, er war als „M16-Agent“ in Hamburg und Bonn eingesetzt und kennt sich bestens aus. Er ist
George Smiley.
Im „Safe-Haus“ in der Fasanenstr. 28 befand sich in den fünfziger Jahren ein getarntes Büro für Agenten des Secret Service, die in der DDR tätig waren. Das deckt sich wohl mit Stasi- Unterlagen,
in denen entsprechende Hinweise und Fotos gefunden wurden. Und die Realität scheint sich mit der Fiktion zu decken, wie schön. Das Haus, mit einem Hinterausgang, der zur Uhlandstraße führt, war
natürlich gezielt ausgewählt und ideal für brenzlige Situationen.
Die Fasanen-Passage, die heute die eine Straße mit er anderen verbindet, hat nicht wirklich Charme. Viel Leerstand, zwei Geschäfte für Überflüssiges und zwei Galerien, am Ende ein riesiger
Sushi-Tempel namens ZEN. Passagen sind eine grässliche Erfindung. Aus dem Roman erfahre ich nicht, wie es zur Agentenzeit hier ausgesehen hat.
Die Umgebung des zentral gelegenen Hauses Fasanenstr. 28 ist heute wunderschön. Rechts ein Palast der Hochkultur: das Berliner Literaturhaus mit dem Café Wintergarten und einer
formidablen Buchhandlung: Kohlhaas & Co. Links vom Agententreff sind Galerien und Auktionshäuser der Ersten Klasse.
Gut recherchierte Romane haben für mich durchaus Reiseführer-Funktion. Es ist ein schöner Effekt, der Geschichte auf diese Weise nachzuspüren. Schade, dass der Autor schon wieder zu Hause ist,
ich hätte ihn gern im Literaturhaus zur Tea-Time getroffen. Nächstes Mal.
Next Time, Mister Smiley.
Flüchtlingsgeschichten
Die Welt ist in Bewegung und die Völkerwanderung ist kein modernes Phänomen. Direkt gegenüber dem S-Bahnhof Pankow, an der Florastraße, fällt ein Name aus Metall-Lettern ins Auge: hier ist der Garbáty-Platz. Mit dem Namen Josef Garbátys und seiner Frau Rosa Rahel verbindet Pankow so einiges.
Ende des 19. Jahrhunderts floh das Paar vor den Judenpogromen von Weißrussland nach Preußen. In Berlin angekommen, stellten sie Zigaretten und Tabakwaren in Heimarbeit her und öffneten 1879 die erste kleine Fabrik an der Schönhauser Allee. Die Erfolgsmarke „Königin von Saba“ machte sie reich, denn damals wurde kräftig geraucht, was ja heute fast sittenwidrig ist. 1906 entstand hinter dem ehemaligen Jüdischen Gemeindehaus an der Berliner Straße, in der Hadlichstraße, ein veritables Fabrikgebäude, das unter Denkmalschutz steht, wie dieses gesamte Anlage. Inzwischen ist der Komplex zu 160 Wohneinheiten umgebaut worden, das Portal trägt die Beschilderung nur noch zur Erinnerung, denn hier wird nichts mehr produziert. Die zweite große Erfolgsmarke, die hinter diesen Mauern entstand, war „Kurmark“, die von unseren Großvätern geraucht wurde.
Die jüdische Familie, die für vorbildliche Sozialeinrichtungen und ihr Mäzenatentum berühmt war, musste auch die zweite Heimat verlassen und emigrierte während der Nazizeit 1939 nach Amerika. Die Fabriken wurden zwangsverkauft. Fast zur gleichen Zeit wurde das Jüdische Waisenhaus in unmittelbarer Nachbarschaft an der Berliner Straße 121 von den Nazis beschlagnahmt und zweckentfremdet. Hier waren zu jener Zeit Flüchtlinge untergebracht, Waisenkinder, die dort eine Schulausbildung erhielten und bis zum Ende der Lehrzeit dort wohnen konnten. Leider wurden sie alle 1942 deportiert.
Das imposante Gebäude mit dem mächtigen Giebel ließ die jüdische Gemeinde Pankow u.a. mit finanzieller Unterstützung des Garbáty-Imperiums 1912/13 errichten. Die wechselvolle Geschichte dieses Hauses ist filmreif. Zu DDR-Zeiten war es Sitz der Kubanischen Botschaft, stand dann wieder leer, verrottete, bis es eine Stiftung kaufte, sanierte und vermietete. Heute beherbergt es eine öffentliche Bibliothek und eine Schule. Zwischendurch zog die Libanesische Botschaft ein, dann sollte es an den Staat Israel übereignet werden. Aber der Staat guckte dem geschenkten Gaul ins marode Maul und dankte - bis eben die Stiftung sich erbarmte.
Wie froh bin ich über meine 2. Heimat Berlin und hoffe sehr, nicht vertrieben zu werden, weil ich eigentlich nach Hamburg gehöre.
Dino-Park
Wie oft bin ich mit der Tram am Museum für Naturkunde vorbeigefahren? Wie oft habe ich mir vorgenommen, auszusteigen und dort ein paar Stunden zu verbringen? Heute ist der Tag. Die Sonne strahlt
vom hellblauen Winterhimmel und tout le monde rennt draußen herum, Fotosynthese heißt das Zauberwort der blassen Bevölkerung.
Im dunklen Museum sind die Fenster verhängt, die Welt bleibt draußen. Sie alle haben den Tyrannosaurus TRISTAN schon 2016 bestaunt, das Gerippe eines großen Sauriers. Ich erinnere mich an
Presseberichte. Aber deswegen bin ich gar nicht hier, komme allerdings nicht an ihm vorbei. Schulklassen jeden Alters werden hier von Lehrern und Reiseführern mit Informationen versorgt.
Auch Kita-Gruppen, brav mit Leucht-Westen bekleidet, wird erklärt, dass wir alle mal sooooo ausgesehen haben. Wirklich? Wie kommt es, dass der Hype mich nicht trifft? Gestehe mir ein, keine
Tierfreundin zu sein und schleiche weiter in die Mineralien-Abteilung, vorbei an all den ausgestopften naturgetreuen Affen, Nashörnern, Bären und Zebras, die auch nicht wirklich
in den Mittelpunkt meines Interesses rücken. Sie tun mir ein wenig leid, auch wenn ich höre, wie Lehrer Lempel die Wichtigkeit der Objekte erklärt.
Aufgespießte Schmetterlinge und Insekten in hundertfacher Vergrößerung - ganz bedrohlich ist die Vogelspinne in ihrem Netz aus Perlenschnüren. Es ist hier alles sehr, sehr lehrreich,
riecht aber ziemlich nach Staub und altmodischer Pädagogik. Im Museumsprogramm werden „Taschenlampenführungen“ angeboten oder Treffen „Abends im Museum“.„Wissenschaft im Sauriersaal“ muss
auch ohne mich stattfinden. Kosmos und Sonnensystem lasse ich auch hinter mir, denn mein Horoskop beziehe ich aus anderer Quelle.
Bevor ich den ersehnten Ausgang erreiche, muss ich noch durch die „Nass-Sammlung“. Ein anderes Wort konnten die Spezialisten nicht finden für die Welt in Formalin. Über 3.000 Gläser in
allen Größen stehen hier wie im Kabinett des Dr. Caligari. Vom Hering bis zum Bandwurm kann der geneigte Hobbyforscher hier die eingelegte Welt bestaunen. Es wirkt alles so altmodisch auf
mich. Moderne Kunst in hellen Räumen ist mir einfach lieber. Dem Sog dieser Evolutionsparade kann ich mich leicht entziehen.
Am Ausgang mache ich dann noch eine versöhnliche Entdeckung. Ein Institut der Lebenswissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Uni befindet sich gleich nebenan. Die Tür des Dekanats ist mit
diesem schönen Schild geschmückt. Ich frage mich , ob der Dekan mit Nachnamen Gotthelf heißt oder ob Gott vor der Einführung des Imperativs hier angerufen wird.
Moabiter Mischung
Einmal pro Monat übe ich das Ehrenamt einer Schöffin am Landgericht in der Turmstraße aus. Die neobarocke Architektur ist derartig wuchtig und einschüchternd, dass auch dem letzten Spitzbuben
klar wird: er befindet sich in einem Gerichtsgebäude. Das zentrale Treppenhaus hat schon in vielen Krimis eine Hauptrolle gespielt und ist ein beliebter Drehort. Immerhin war dieses
„Criminalgericht“ das erste elektrisch beleuchtete Gebäude Berlins. Ein Staatsanwalt ist der Meinung, dass dieses Gebäude „ein kaiserlicher Faustschlag ins Gesicht der Moabiter
Arbeiterklasse“ (heute ohne Arbeit) ist.
Ich habe keine Verhandlung mit prominenten Angeklagten, aber 4 Fortsetzungstage sind aufgrund des Umfangs bereits beschlossen. Ohne mich haben hier im Laufe der Zeit schon bekannte Prozesse
stattgefunden. Zum Beispiel gegen den „Hauptmann von Köpenick“, gegen den Kaufhauserpresser Arno Funke, bekannt als „Dagobert“; die Attentate auf die Disco „La Belle“ und das Restaurant „Mykonos“
wurden hier verhandelt wie auch Prozesse gegen die Mitglieder des ZK der SED Honecker und Mielke.
Nach der Arbeit das Vergnügen: Ich spaziere am nahen Helgoländer Ufer entlang der Spree, winke den vielen Ausflugsbooten zu und bestaune ein riesiges Gebäude am Spreebogen, das auf dem Gelände der ehemaligen Meierei Bolle entstanden ist.
Noch zwei Ecken weiter und ich bin am Ziel: im kleinen, feinen „Salon Gartenhaus Parterre“ von Friedemann und Regina Holst-Solbach. Seit sechs Jahren betreibt das Ehepaar eine ungewöhnliche Galerie, denn hier bekommen ausstellende Künstler für ihre verkauften Werke 100 % der Verkaufssumme. Die Vernissagen und Finissagen sind stets willkommene Anlässe für Freunde des Hauses, Gäste aus der Nachbarschaft und natürlich auch von weit her. Die Gastgeber sind viel herum gekommen, darum sind Aussteller und Publikum international. Interessante Gespräche bei Wein (zum Selbstkostenpreis) und Brot ergeben sich bei Lesungen und Konzerten, die monatlich stattfinden. Ein Besuch in der Krefelder Straße 17 ist sehr zu empfehlen.
Beseelt von Kunst, Wein und einem Vortrag über Theodor Fontane trete ich den Heimweg an. Um die S-Bahn-Station Bellevue zu erreichen, muss ich die Spree überqueren. Die 1894 eröffnete
Bären-Brücke verbindet Moabit mit dem Hansaviertel. Gusseiserne Bärenskulpturen gibt es hier seit 1981 wieder. Vor dem 2. Weltkrieg wurden sie eingeschmolzen.
So kann es gehen mit der Kunst!
Weihnachten im
All
In diesen Tagen ist so häufig von Bewohnern des Himmels die Rede: von Engeln, die dort Posaune spielen, von Gott-Vater und Sohn, dem lieben Jesulein. Himmlische Heerscharen, wohin ich höre und
blicke. Seit 3 Wochen Weihnachtslieder im Radio, in jedem Einkaufscenter, auf den Märkten und in der Oper.
Aber in der Galaxis spielen sich noch ganz andere Dinge ab. Davon habe ich mich heute in meinem Lieblings-Kino überzeugt. Der Krieg der Sterne findet auf der Leinwand statt. "Die letzten Jedi" ist der Titel der neuesten STAR-WARS - Episode. Ein großes handgemaltes Plakat an der Frontseite lockt mich ins KINO INTERNATIONAL an der Karl-Marx-Allee zwischen Alexanderplatz und Strausberger Platz. Hier wird also 3mal pro Tag dieser Blockbuster gezeigt. Das englische Wort steht für "Wohnblock-Knacker". In dieser Gegend trifft das total zu, denn das Kino befindet sich zwischen den ersten Wolkenkratzern der Ex-DDR.
Im ehemaligen Berolina-Hotel neben dem Kino ist heute das Rathaus Mitte unterge-bracht. 1963 wurde das Kino gebaut, ein Zeugnis der architektonischen Moderne, das inzwischen unter Denkmalschutz steht. Bis 1989 war es das angesagte Premierenkino Ost-Berlins, in dem alle erfolgreichen DEFA-Filme gezeigt wurden, allen voran "Die Spur der Steine" und "Solo Sunny". Für Mitglieder der Partei und Staatsführung wurde die 8. Reihe mit besonders viel Beinfreiheit ausgestattet. Nach der Filmpremiere ging es dann an die Bar im schicken Foyer mit bodentiefen Panoramafenstern und freiem Blick auf die Allee und das Café Moskau.
Eine weitere Besonderheit ist ein kleiner Bunker im tiefen Keller des Kinos, zu dem ein Fahrstuhl führt. Hier sollten die wichtigsten Personen wohl einen irdischen Krieg überleben. Bisher musste der Bunker nicht genutzt werden, weil der Krieg sich viel weiter oben abspielt. Harte Kämpfe im Andromedanebel hat Luke Skywalker zu bestehen. Ständige Explosionen und rasende Raumschiffe beherrschen die riesige Leinwand. Der letzte Jedi mit Mönchskutte und Laserschwert hat einiges zu regeln.
Ich kann nicht wirklich der Handlung folgen, bin aber von der gesamten Technik und auch der Musik sehr beeindruckt.
Ehrlich gesagt bin ich in der Muppets-Show besser aufgehoben, wenn es wieder heißt: "Schweine im Weltraum" und Miss Piggy Sterne sieht und vor Vergnügen quietscht.
Palazzo
Barberini
Dieses überaus schöne neue Museum am Alten Markt in Potsdams Mitte ist eine Reise mit der S-Bahn wert! Gestiftet vom Software-Mogul Hasso Plattner, dem SAP-Mitbegründer, schmückt es die
Brandenburgische Landeshauptstadt.
Von der Fassade bis zu den Treppengeländern ist alles von großer Qualität und erlesenem Geschmack. Der Innenhof öffnet sich zu den Havelterrassen mit Blick auf die gegenüberliegende
Freundschaftsinsel. Der Palazzo, nach römischem Vorbild erbaut, steht im schönen Kontrast zum Plattenbau der DDR-Fachhochschule, die vom Abriss bedroht ist. Mir gefallen Gegensätze sehr -
ganz im Gegensatz zu Günther Jauch, der in einer TV-Sendung jüngst gelassen das Wort „Notdurft-Achitektur“ aussprach für diesen Bau neben all der barocken Pracht.
Aber ich bin nicht als Architektur-Kritikerin unterwegs. Die große Ausstellung über DDR-Künstler "Hinter der Maske" lockt mich. Qualität hat ihren Preis: 14,-- Euro kostet die Eintrittkarte, mit
der ich die Heiligen Hallen betrete. Dafür bekomme ich einiges auf 3 Etagen zu sehen.
Fast 30 Jahre nach dem Ende der DDR gibt es hier einen grandiosen Überblick der Werke von DDR-Künstlern aus der Zeit von 1945 bis 1989. Selbst- und Gruppenbildnisse, Rollen- und
Atelierbilder zeugen vom kritischen Blick nach innen. Die Künstler standen im Spannungsfeld von verordnetem Kollektivismus und Individualität.
16 großformatige Bilder aus dem Palast der Republik sind ausgestellt, die ich Ende der Siebziger Jahre im zentralen Kultur und Parlamentsbau in Ostberlin schon einmal sah. Viele bekannte Namen
begegnen mir. Gemälde, Photographie, Graphik, Collage und vor allem Skulptur sind Zeugen eines versunkenen Landes.
Bis zum 4. Februar 2018 kann man „Hinter der Maske“ nach Erinnerungen der deutsch-deutschen Vergangenheit suchen.
Totenstille
Am Totensonntag bietet sich ein Friedhofsbesuch natürlich an. Dafür gibt es in Berlin viele Möglichkeiten. Das weiß kaum jemand besser als ich.
Mitten in Mitte finde ich zwischen Rosenthaler Platz und dem Hackeschen Markt den etwas versteckt liegenden „Alten Berliner Garnisonfriedhof“ in der Kleinen Rosenthaler Straße. Hier ist die Pforte nur sonntags zwischen 12.00 und 15.00 Uhr geöffnet, darum ist mir dieser Friedhof, auf dem heutzutage keine Beisetzungen mehr stattfinden, noch nicht aufgefallen. Völlig allein wandle ich auf feuchtem Laub an diesem Novembertag zwischen sehr alten Gräbern und eindrucksvollen Kreuzen mit goldenen Buchstaben.
Ich erfahre, dass geehrte Soldaten, die „an ihren Wunden gestorben“ sind, hier begraben wurden. Tod fürs Vaterland. Militäradel unter sich. Auch Zugehörigkeiten zu weltlichen und mystischen Vereinen bleiben nicht unerwähnt. Dicht hinter der Friedhofsmauer ragen alte und neue Häuser empor. Auf einer der Fassaden steht die Warnung „Soldaten sind Mörder“ . Ich frage mich, ob der Förderverein, der diesen denkmalgeschützten Friedhof betreut, die Auseinandersetzung häufig führen muss.
Im Lapidarium (Sammlung alter Grabsteine) und im ehemaligen Verwalterhaus gibt es eine Ausstellung zur Geschichte des Friedhofs, der Gemeinde und der Kirche der ehemaligen Berliner Garnison (Militärstandort). Mitglieder des Fördervereins bieten auch Führungen über den Friedhof an.
Wenn hier mildere Außentemperaturen herrschen, komme ich wieder und lass mir gern von kundigen Menschen erklären, was es mit den bedeutenden Persönlichkeiten, die ausgerechnet hier begraben liegen, auf sich hat.
Mit kalten Füßen eile ich in eine der vielen asiatischen Suppenküchen in dieser Gegend und denke mir: der Friedhof lebt!
Amalie
Diesen schönen Namen trug die Prinzessin Amalie von Preußen (1723 - 1787), eine Schwester Friedrichs des Großen. Ihr zu Ehren wurde eine elegante Wohnanlage, die 1897 in Pankow entstand, Amalienpark genannt. Neun freistehende, dreigeschossige Häuser im Landhausstil mit Gärten im Umfeld bilden diese Anlage. Zu DDR-Zeiten war dieser Wohnort ein Geheimtipp unter Künstlern und Intellektuellen, die sich hier ansiedelten. Auch das Ehepaar Christa und Gerd Wolf gehörte dazu. Von 1976 bis zu ihrem Tod im Jahre 2011 wohnte eine der bedeutendsten Schriftstellepersönlichkeiten, Christa Wolf, ganz in meiner Nähe! Dieses Pankow ist meine Schatzkammer. Hier gehe ich gern spazieren, auch in den flankierenden Straßen, die schöne Namen tragen, z. B. Eintrachtstraße oder Kavalierstraße.
Seit 20 Jahren gibt es das Kunst- und Literaturforum Amalienpark. Zu den Gründungsmitgliedern gehörten die Wolfs, die viele bildende Künstler kannten. Die Galerie führte in den ersten Jahren ein Keller-Dasein. Aber schon bald gab es einen Trägerverein, eine Stiftung, die den Umzug in eine große, schöne Wohnung in diesem Ensemble am Amalienpark ermöglichte. Dem kundigen Vorstand ist es zu verdanken, dass es hier 8 Ausstellungen pro Jahr gibt, die von Lesungen, musikalischen Darbietungen, Filmabenden und etlichen Gastvorstellungen begleitet werden. In jedem Herbst gibt es eine Kunstauktion
Auch nicht-bietende Gäste haben ihren Spaß, wenn die Kunstwerke fachgerecht versteigert werden, denn manche Kommentare sind durchaus kabarettreif. Zu solchen Anlässen oder Vernissagen (inzwischen werden auch Finissagen begossen) wird in der Küche eine Art Bar eingerichtet, in der Kaltgetränke und Schmalzbrote zum moderaten Preis über den Tisch gehen.
Ich bin hier sehr gern und habe eine Vorliebe für Ost-Künstler entwickelt, die hier vorwiegend anzutreffen sind, denn: „Im Westen nichts Neues.“
Mascha
Eigentlich bin ich gar nicht wegen der Gedenktafel für die „Dichterin der Neuen Sachlichkeit“ am Savignyplatz aus der S-Bahn gestiegen. Ich wollte mal wieder ins Kino gehen, ins „Filmkunst
66“. Und die ehemalige Wohnung der Kaléko war im Nebenhaus, so wurde ich an sie erinnert. Über diesen Umstand hätte sie vielleicht ein Gedicht gemacht oder eine kleine
Geschichte geschrieben, denn sie liebte Berlin genau wie ich, auch wenn sie hier in der Bleibtreustraße nicht ständig gewohnt hat (von 1936-19389, länger konnte der programmatische Straßenname
nicht für treues Bleiben sorgen.
Ich ziehe das „Lyrische Stenogrammheft“ aus dem Regal und suche nach einem Gedicht, das meinem Zustand entspricht:
Ganz kleiner Schwips
Mir ist so kognakfroh zumut!
Schon tanzen Wand und Schränke..
Ich sag dem Tischherrn, was ich von ihm denke
Und schließe daraus: der Schnaps war gut.
Wenn andre taumeln, hab ich knapp nen Schwips.
- Ich kann mich leider niemals ganz betrinken.
Und wenn die andern Hirne sanft versinken,
...Meins bleibt aus Gips.
Ich trink mit einem Frack auf 'Du und Du'
Und hab selbst dabei noch Salonmanieren;
Denn neben mir geht mein Verstand spazieren
Und sieht still zu. (...) "
Die Wurzeln der jüdischen Dichterin Mascha Kaléko waren in Polen. Die Familie lebte in Berlin im Scheunenviertel. Ende der zwanziger Jahre kam Mascha Kaléko mit den Avantgarde-Künstlern
Berlins, die sich im Romanischen Café trafen, in Kontakt. Sie wurde hier inspiriert und unterstützt, zu schreiben. 1933 publizierte sie „Das lyrische Stenogrammheft“.
Ihr ruheloses, manchmal trauriges Leben hat mich wiederum zum Schreiben inspiriert. Genau wie sie, habe ich eine Zeit lang meinen Lebensunterhalt als Werbetexterin verdient.
Mathilde
Meine Schweizer Freundin ist in Berlin zu Besuch. Sie war lange Zeit nicht mehr in den Hackeschen Höfen, darum treffen wir uns am Ampelmann-Laden, in dem es viele Souvenirs mit dem
DDR-Ampelmännchen gibt. Er existiert hier schon ziemlich lange, aber damals war er bedeutend kleiner. Ampelmann war ein Erfolgsrezept, während viele andere Geschäfte mehrfach Sortiment und
Inhaber wechselten.
Die Fassaden der Häuser begeistern uns aber durchgängig seit der Sanierung von 25 Jahren. In einem der schönsten Häuser im ersten Hof gibt es ein Kino in der 4. Etage. Das Treppenhaus mit
goldverziertem Stuck und Jugendstil-Ornamentik ist so schön, dass ich auf jeder Ebene eine Bewunderungspause einlege. Der Duft von frischem Popcorn kommt näher und erinnert uns daran, dass
sich hier oben ein Kino befindet.
In 20 Minuten startet hier „Mathilde“, ein Film, der laut Presse das russische Unterhaus zum Kochen bringt. Angeblich sollen die Kinos angezündet werden, die diesen Film zeigen. Ein
Politikum mit Popcorn. Der Film ist OmU, also in russischer Sprache mit deutschen Untertiteln.
Wir trauen uns trotzdem und sowieso bin ich Fan von Lars Eidinger. In den Gazetten war zu lesen, dass er nicht zur Premiere nach Moskau fuhr, weil er Morddrohungen bekam. Soweit ist es also
schon wieder. Die Zaristen sehen das Andenken an die Kaiserfamilie beschmutzt.
Lars Eidinger spielt den jungen Zaren Nikolaus, der weder den Anforderungen seines Amtes noch seinen Gefühlen gewachsen ist. Und das macht er verdammt gut. Der Zar soll eine Vernunftheirat
eingehen, liebt aber die Primaballerina Mathilde. Es gibt Hofstaats- und Ballettintrigen vom Schrecklichsten, dazu gewaltbereite Handlanger der Regierung und den Nervenarzt Dr. Fischl, der
als Medium praktiziert und Menschenversuche durchführt.
Ein Ausstattungsfilm erster Güte, dem ich in allen Kategorien die höchste Punktzahl geben würde. Eine bunte Phantasmagorie, für die sich das Erklimmen der vielen Treppen gelohnt
hat.
Das an den Haaren herbei gezogenen Politikum werde ich in der Presse weiter verfolgen.
Das Arbeitszimmer
Sobald ich auf meinem Lieblingsplatz in der Küche sitze, hefte ich den Blick auf diese unkomplizierten Worte. Das Arbeitszimmer befindet sich im Erdgeschoss des gegenüber liegenden Hauses.
Ich könnte stundenlang dorthin schauen und abwarten, ob etwas passiert.
Am Morgen ist noch alles dunkel. Gegen 10.00 Uhr verabschiedet sich küssend ein Pärchen, sie geht hinein, er schiebt sein Rennrad weiter. Nun kommt noch jemand auf dem Mofa, die Laptop-Tasche
quer umgeschnallt, und zwei Frauen mit etwas mehr Gepäck und bunten Jacken treffen ebenfalls ein.
Drüben sichte ich die ersten Kaffeebecher und Thermosflaschen auf den Schreibtischen. Ich ziehe mit und rühre mir ein Heißgetränk an. Brot und Marmelade schiebe ich beiseite und schon habe auch
ich ein Arbeitszimmer.
Aber diese Leute sind ja nicht bei sich zu hause wie ich in meiner Etagen-Küche. Sie haben sich den Schreibtisch gemietet. Für einen Tag, Monate oder gar Jahre? Im Gegensatz zu mir sind sie Teile
der nomadisierenden, globalisierten Gemeinschaft. Keine Ahnung, ob sie irgendwas verbindet, ob sie es tagelang und überhaupt in dieser Bürogemeinschaft aushalten können. Auch im unscheinbarsten
Zimmer einer ganz normalen Straße gibt es mittlerweile virtuelle Arbeitsplätze: Einstöpseln und fertig.
Vielleicht wird drüben ein neues Wirtschaftswunder in Gang gesetzt? Ein neues Google entsteht oder noch ein Zalando?
So richtig nach Mindspace sieht es hinter der Hecke nicht aus, aber wer weiß?
Vielleicht sitzt dort auch eine Frau, die zu Haus zu viel Trubel hat und die Inspiration der fremden Umgebung braucht, damit sie in Ruhe ihren Blog weiter schreiben kann?
Spazieren an der Spree
Die „Blaue Stunde“ naht. Für mich ist es die Happy Hour in meiner rauen Stadt. Noch glitzert die Spree durch die Brücken hindurch, in einer Stunde wird es dunkel sein. Ich starte am
(geschlossenen) Strandbad Mitte und gehe auf dem Kiesweg am Ufer. Die bunten Liegestühle sind längst eingeräumt, aber auf den Bänken des Monbijouparks und an der Uferbefestigung haben sich
Menschen mit ihren Flaschen und Gläsern niedergelassen. Zwei Barden konkurrieren singend um die Gunst des Publikums. Es ist angeblich nichts mehr los, denn das Podest für die Tangotänzer ist
abgebaut und das Hexenkessel-Theater mit Pizzeria und Bar wird gerade abetragen; der Platz wird winterfest gemacht.
Diese Herbststimmung mit den milden Farben gefällt mir.
Von der Brücke am Bode-Museum aus kann der Blick zu beiden Seiten schweifen. Hier sehe ich die S-Bahnen und Express-Züge über die Brücken rasen und auf der anderen Seite lockt in der Ferne
das sich drehende runde, neonrote Logo des Berliner Ensembles Besucher ins Theater.
Flachen Lastkähnen und Ausflugsdampfern schaue ich auch gern hinterher.
Auf den Treppenstufen des Bode-Museums warten viele Fotografen mit ihrem technischen Zubehör auf den magischen Moment, der Tag und Nacht trennt. Ich reihe mich ein. Die Stimmung erinnert mich an
Silvesternächte, die ich hier auch schon verbrachte, auf den magischen Moment um Mitternacht wartend.
Noch bin ich ohne Feierabend-Getränk, aber das ändere ich auf dem Uferweg, der bis zur Weidendammer Brücke führt. Restaurants und Bars laden mit Lämpchen in den Bäumen und Windlichten auf den
Tischen die Besucher ein, am Ufer zu sitzen. Nach einem Gin-Tonic im Halbdunkel zieht es mich dann doch wieder auf die laute, helle Straße.
Unglaublich, dieser Betrieb auf der Friedrichstraße mit ihren vielen Geschäften, Theatern, alten und neuen Häusern, Restaurants, Museen, Gedenkstätten und vor allem: dem
Friedrichstadtpalast.
The Show must go on. Das ist mal klar.
In
literarischer Gesellschaft
bin ich in Berlin ja an fast jeder Ecke. Mein Spaziergang zur Chausseestraße in Mitte führte mich zwar am ehemaligen Wohnhaus Wolf Biermanns vorbei, aber erst jetzt hatte ich Zeit, bei seinem
großen Vorbild B.B. vorbeizuschauen.
Das Literaturforum im Brecht-Haus ist fast ein Pilger-Ort. Hier wird für kulturelle Bildung gesorgt! Die Brecht-Weigel-Gedenkstätte mit dem Bertolt-Brecht-Archiv ist inzwischen eine
Einrichtung der Akademie der Künste und kann besichtigt werden.
Von seinem Arbeitszimmer in der Chausseestr. 125 konnte Brecht auf die Birken schauen, unter denen er 1956 auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof begraben wurde. Ein Ort, den ich
gern besuche und derer gedenke, die hier ruhen. Zweifelsfrei ist Brecht der bekannteste, wenn auch zeitlebens nicht der beliebteste. So hat Helmut Karasek einmal behauptet, er sei ein gutes
Aushängeschild gegen den Westen gewesen, aber zu links und zu formalistisch... Andere fanden ihn zu moralisch und die Frauen warfen ihm Untreue und mangelnde Körperhygiene vor..
Ob der Geheime Oberbaurat und Architekt des Königs, Friedrich August Stüler, sich länger im Badezimmer aufgehalten hat? Oder Fritz Teufel, auf dessen Grabstein sein
berühmtes Zitat steht: „Wenn es der Wahrheitsfindung dient“. Herbert Marcuse empfiehlt über den Tod hinaus: „Weitermachen“. Auch Heiner Müller wurde hier begraben,
allerdings ohne Zitat, wie auch Wolfgang Herrndorf, der sich vor 4 Jahren am Nordhafen erschossen hat.
So viele berühmte Menschen mit ihren Geschichten. Erst vor zwei Wochen wurde der unerschrockene Spötter und Menschenmaler, Johannes Grützke, hier beerdigt. Es gibt darum noch keinen
Gedenkstein, sondern vorerst nur ein Holzkreuz zur Erinnerung an einen, der sich der „Tyrannei der Abstraktion und des Rechten Winkels“ stets zu widersetzen wusste.
Ich komme bestimmt noch einmal hierher, spätestens dann, wenn jemand beerdigt wird, der die Quadratur des Kreises geschafft hat.
Der Weg zur Balance
führt erst einmal über das holprige Pflaster der Metzer Straße. Ich bin an der U-Bahn-Station Senefelder Platz ausgestiegen, um von hier aus den Ort zu finden, an dem ich Qi Gong erlernen möchte. Konzentrations- und Bewegungsübungen, die Körper und Geist kultivieren, werden mir gut tun.
Aus dem riesigen Angebot der Volkshochschule habe ich mir den Kurs rausgesucht, der an einem schönen Ort stattfindet. Ich überquere die Kollwitzstraße, die Kolmarer- und Belfortstraße, bis ich auf der Prenzlauer Allee lande. Durchsanierte Straßen, schöne Bäume in der Herbstsonne, viele Restaurants und Geschäfte - hier lässt es sich leben.
Die VHS-Kurs findet im Pankow-Museum statt. Da habe ich wieder einmal Glück gehabt, dass es keine muffige Turnhalle aus der Kaiserzeit ist, sondern die Aula im 3. Stock des Muse-ums, mit Stäbchen-Parkett und Kassettendecke. Ich bin begeistert, denn auch noch der Blick aus den vielen Fenstern hier oben wird belohnt. So finden die ersten Energie-Übungen zwischen Wasserturm und Bildungsstätte „Sebastian Haffner“ statt.
Wenn der wüsste.... Der große Publizist, Jurist und Historiker hat mich bereits in jungen Jahren beeindruckt und beeinflusst. Hier treffe ich nun wieder auf seinen Namen, der Kreis schließt sich.
Und nach diesen Wahlergebnissen werden seine Schriften zur Geschichte aktueller sein denn je.
Luther - und kein Ende
Heute brauche ich Input. Kein Ort in meiner Nähe eignet sich dafür besser als die Katholische Akademie in der Hannoverschen Straße. Ein Blick ins Programm sagt, dass heute Abend Friedrich Dieckmann und Dr. Wolfgang Thierse über den großen Befreier, Dr. Martin L., diskutieren werden.
In der Abendsonne spaziere ich vom Rosenthaler Platz durch die (zur Zeit sehr angesagte) Torstraße. Kleine und noch kleinere Restaurants haben ihre Tische auf den Gehweg gestellt. Zum Teil mit weißen Tischdecken und Blumenvasen dekoriert, wollen sie die Gäste anlocken. Noch ist fast alles leer, auch der Eck-Laden, der auf großen Tafeln mit Original nord-irakischer Küche wirbt. Ich bin nicht informiert, welche Spezialität sich hier offenbaren wird. Männer mit schwarzen Bärten und ölig zurück gekämmten Haaren hantieren im Inneren. Keine Zeit mehr, auf die Speisekarte zu gucken, denn Dr. M.L. wartet. Jetzt noch über diese wilde Kreuzung Chausseestraße-Torstraße-Hannoversche Straße. Es ist lange Rot und ich habe Zeit, das Haus an der "stumpfen Ecke" zu betrachten, in dem „olle Wolf Biermann“ zu DDR-Zeiten wohnte. Ich hatte von ihm damals eine LP mit einem wunderschönen schwarz-weiß Cover: „Chausseestraße“. Darauf waren all die Sehnsuchtslieder aus der versunkenen DDR-Welt. Donald Duck würde jetzt sagen: „Keine Sentimentalitäten.“
Ich erreiche die Katholischen Höfe des Erzbistums und bekomme einen guten Platz, um dem Diskurs zu lauschen. Das neueste Buch von Friedrich Dieckmann wird besprochen: „Luther im Spiegel. Von Lessing zu Thomas Mann“. Die zwei Stunden vergehen wie im Fluge und ich habe nicht nur neue Erkenntnisse gewonnen, sondern Herrn Thierse als charmanten und witzigen Moderator kennen gelernt. Außer mir gibt es wohl nur wenige, die KEIN Buch über Luther geschrieben haben...auch Herr Schorlemmer hat nachgelegt, wie ich beim anschließenden Wein erfuhr.
Das Angenehme an dieser Bildungsanstalt ist der freigiebige Umgang mit Wein und Wasser, der überaus freundliche Direktor, das angenehme Publikum und der freie Eintritt plus Ausschank an so manchen Abenden (wie heute).
Sehnsucht nach Berlin
Berlin wird immer mehr Berlin.
Humorgemüt ins Große.
Das wär mein Wunsch: Es anzuziehn
Wie eine schöne Hose.
Und wär Berlin dann stets um mich
Auf meinen Wanderwegen!
Berlin, ich sehne mich in dich.
Ach, komm mir doch entgegen!
(Joachim Ringelnatz)
Auf tausend Füßen kommt mir meine Lieblingsstadt täglich entgegen. Das passt vielen Bewohnern gar nicht, denn das Geschrei zum Thema Tourismus ist groß und hallt speziell in den
Straßen mit Hubbelpflaster laut wider: die Rollkoffer-Garde ist unterwegs.
Feindbilder gab es hier in meiner Erinnerung immer: Studenten, Ausländer, Schwaben, Yuppies, Hipster. Jetzt eben Touristen. Austauschbar. Wir, die zuerst hier waren, sind gegen
die Dazugekommenen. Und wenn die alle nicht in Berlin wären, würden die Mieten trotzdem nicht sinken.
Aber ohne Touristen wäre die Stadt langweiliger, finde ich. Die berühmte kulturelle Vielfalt ist ohne die Besucher nicht vorstellbar. Dafür müssen spezielle Gegenden (ich hasse das Wort
„Kiez“) leider viel Müll und Lärm ertragen. Wer in den Hotspots wohnt, hat wirklich guten Grund, genervt zu sein, aber nicht das Recht, die Besucher für die eigenen Probleme verantwortlich zu
machen.
Es geht ja nicht nur um die Feier-Ballermänner; viele Touristen bleiben mehrere Monate - und viele Berliner verhalten sich nicht anders, auch sie sind ständig in anderen Städten zu Besuch und
trinken die hier verpönte Soja-Latte. Ob der Berliner Tourist auf Jesus-Latschen leise und ohne Roll-Koffer übers mittelalterliche Pflaster in Heidelberg schleicht, wage ich zu
bezweifeln.
Mein Fußball spielender Neffe sagt in solchen Situationen: „Ball schön flach halten!“
Das Foyer-Restaurant der Deutschen Oper U-Bahnhof Vinetastr.
Alle Wege sind Heimwege
In Berlin ist man wacher als anderswo. Das wird mir immer wieder spät abends in der U-Bahn klar. Nach einer grandiosen Lohengrin-Aufführung steige ich an der Deutschen Oper in die U2. Für mich
das erste und einzige Opernhaus mit Gleisanschluss. Der U-Bahn-Ausgang führt direkt ins Parkett - und umgekehrt.
Ich warte geduldig mit Leuten in Seidenkleidern, Perlenketten, Lackschuhen und gedeckten Anzügen. Die langen Glitzer-Roben sind längst ins Taxi gestiegen. Das elegante Publikum muss sich zwischen
die müden und bepackten Mitfahrer drängen, die vom ZOB kommen und bereits an der Station Kaiserdamm eingestiegen sind. Am Ernst-Reuter-Platz steigen um diese Zeit keine TU-Studenten ein oder aus.
Es geht zügig weiter zum Zoologischen Garten. Hier ist der erste große Wechsel. Die Eleganten werden weniger, dafür steigen jetzt Hungrige mit angebissenen Döner-Paketen und stinkenden
Nudel-Boxen ein. Grässlich, ich wechsle am Wittenbergplatz den Waggon. Der müde Verkäufer des Obdachlosen-Magazins schleicht hinterher. Seinen Spruch will keiner mehr hören um diese Zeit, ich
auch nicht. Zu meinem Euro bekommt er noch etwas von anderen Nighthawks und kann sich nun auch eine Nudel-Box kaufen.
Es geht weiter zum Nollendorfplatz. Hier wird es nun bunt und munter. Aus dem Einzugsgebiet der Schwulenszene steigen meistens interessant gekleidete und fantasievoll dekorierte Männer ein.
Leder, Lack und Latex. Grobe Stiefel und protzige Ringe an Händen mit schwarz lackierten Nägeln.
Die vielen Etablissements in dieser Gegend spucken um diese Zeit auch ihre Gäste aus, die am nächsten Morgen zur Arbeit müssen oder noch mal umsteigen, um weiter zu feiern. An der Bülowstraße
passiert nichts Spannendes.
Am Gleisdreieck steigen meist junge Leute aus, die hier in die U1 umsteigen, Richtung Warschauer Straße. Die angesagte Partygegend in Kreuzberg bekommt nachts nochmal richtig Zuwachs. Nicht nur
am Wochenende mit der Touristen-Invasion. Am Potsdamer Platz wird die Bahn wieder richtig voll. In Mitte gibt es so viele unterschiedliche Attraktionen. Bei den Fahrgästen kann ich auch hier
Kategorien bilden: diese kommen aus der Komischen Oper, jene von einem Empfang, andere von einer Wissenschafts-Veranstaltung oder einer Geburtstagsfeier.
Jetzt kommt die langweilige Strecke durch Berlins alte Stadtmitte, deren Geister-Bahnhöfe zur DDR-Zeit verdunkelt waren und nicht angefahren werden durften: Mohrenstraße, Stadtmitte,
Hausvogteiplatz, Spittelmarkt, Märkisches Museum, Klosterstraße. Wir erreichen den Alexanderplatz und wer schon sanft eingeschlafen ist, wird durch den Krach
wach gerüttelt. Es steigen wieder öffentliche Esser ein, aber auch laut grölende Trinker mit Bier und Schnapsflaschen. Mädchen mit sehr kurzen Kleidchen, die ihre kompletten Schmink-Utensilien
ausbreiten und in der Bahn noch alles nacharbeiten und Frisuren formen. Zum Hühnerduft kommen jetzt Haarspray und Rossmann-Parfüm. Schön ist das alles nicht. Schließlich ist die U2 kein
Erholungsort.
Am Rosa-Luxemburg-Platz steigen einige Menschen aus, weil es hier viele Hostels gibt. Die wenigen Nachtgäste aus dem Roten oder Grünen Salon der Volksbühne müssen jetzt schnell nach Hause und
fahren sicher mit bis Pankow. Der Senefelder Platz ist praktisch auch eine Hotel-Station, hier wird nur ausgestiegen. Die echte Party-Haltestelle kommt aber jetzt: Eberswalder Straße! Hier in der
Gegend muss die Post abgehen, denn hier steigen fast alle aus. Laut singend und die Flaschen schwingend trifft man sich auf dem Bahnsteig.
Nun ist die Bahn fast leer, kein Schminkstudio mehr, nur noch müde, leise schnarchende Mitfahrer. Die Schönhauser Allee ist tagsüber die lauteste und vollste Station, aber um diese Zeit steigen
nur noch wenige Menschen ein und aus, die schnell nach Hause wollen. Ich auch. Meine Station heißt Vinetastraße. Angekommen!
Das Wort vom
Sonntag.....
kommt aus keiner geringeren Kirche als dem Berliner Dom in Mitte. Schon die Tramfahrt dorthin durch die noch ruhige Stadt bringt ein schönes Sonntagsgefühl. Ich steige am Hackeschen Markt aus, um
mich von der Rückseite an das mächtige Gebäude heranzutasten.
Es ist 9.30 Uhr, aber die Reste der Berliner Nacht sind noch lange nicht weggeräumt. Zerbrochenes Glas, Partymüll ohne Ende und viele aufgeritzte orangefarbene Mülleimer der Stadtreinigung. Unter
den Brücken schlafende Personen, zugedeckt mit den bunten Decken der umliegenden Restaurants.
Müde Biergesichter taumeln durch die Straßen und saugen an filterlosen Zigaretten.
Und dort leuchtet mein Ziel mit goldener Turmzier in der Sonne..
Die Theologische Fakultät der Humboldt-Uni ist hier direkt am Spree-Ufer. Für einen Moment genieße ich auf der Brücke Sonne, Wind, Stille und die dahingleitenden Touristenboote auf dem Fluss.
Noch ein paar Schritte und ich stehe vor dem riesigen Portal. Mon Dieu, kleiner hatten sie es damals wohl nicht, es musste ja mit dem Petersdom zu Rom vergleichbar sein...
Viele, viele Ehrenamtliche mit wichtigen Gesichtern, Namensschildern und Programmen in den Händen stehen neben uniformierten Security-Männern mit Knopf im Ohr Spalier. Nach all den
schrecklichen Ereignissen ist es nicht mehr so einfach, einen Gottesdienst zu besuchen. „Fürwahr, wir leben in finsteren Zeiten“ , sprach einst Bert Brecht. Und das auf dem Weg zur
Erleuchtung....denke ich ganz still bei mir.
Ich habe es geschafft, ins Innere des "Wals" zu kommen, und schon wird es hell: ganz in Gold getaucht stehen die Repräsentanten meiner eingetragenen Religion rings herum. Hier wird geklotzt,
nicht mit Gold und Marmor gekleckert. Gott und Gold...
Zur Eröffnung und Anrufung dröhnt die große Orgel. Mir schwinden fast die Sinne. Glauben ist schön, laut, golden, mächtig. Am nächsten Sonntag versuche ich es mal eine Nummer kleiner. Amen.
Kleine Sommerreise
Von Berlin aus kann man prima ins Brandenburgische Umland verreisen. Mit dem BVG-Ticket (65 plus) kann ich nach Herzenslust und zu jeder Zeit ohne Aufpreis eine Reise starten. Diesmal soll es die Landeshauptstadt sein. Vom Bahnhof Friedrichstraße steige ich in den Regionalzug nach Potsdam. An diesem strahlend schönen Sommertag verzichte ich auf Preußens Gloria in der Altstadt und gehe über die Lange Brücke hinunter zum Anleger. Das Flaggschiff der Flotte erwartet mich. Auf der „Sanssouci“ werde ich die nächsten 4 Stunden durchs Havelland gleiten. Idyllisch gelegene Orte und die Sehenswürdigkeiten entlang des Flusses erklärt der Kapitän. Zu meiner großen Freude geschieht das in einem freundlich-neutralen Ton. Keine zweideutigen Witze oder Musik-Beschallung, die den friedlichen Tag stören könnten.
Welch ein Genuss, so sanft an Templin, Caputh , Petzow, Ferch und Werder vorbei zu fahren. Schlösser, Kirchen, Brücken und eindrucksvolle Wohnhäuser gibt es bestaunen, darunter auch das Sommerhaus von Albert Einstein. Und auf dem Wasser tummelt sich einiges: Hausboote und Flöße (die sind wohl sehr in Mode), auch die knallbunte Quietsche-Gummi-Ente kommt vor.
Die Anlegestellen führen nicht nur zu Restaurants oder historischen Besonderheiten, auch der Supermarkt-Gigant ALDI hat hier nah am Wasser gebaut und einen Boots-Parkplatz eingerichtet, an dem die Wasserfahrzeuge für eine Stunde festmachen können, um die Sonderangebote wahrzunehmen. Die Zeiten von Schiffszwieback und verfaultem Wasser sind vorbei, hier kauft man Schampus und französischen Käse. Bon appétit!
Summer in the City
Ecke Schönhauser Allee, ganz in meiner Wohnnähe, gibt es Emils Biergarten. Ziemlich verrottet, ungemütlich, laut, ungastlich, so, wie es der Berliner eben mag. Das Areal der ehemaligen Willner-Brauerei, seit etlichen Jahren zur Zwischennutzung vermietet, wurde gerade vom früheren Eigner und Karstadt-Bankrotteur, Berggrün, weiterverkauft.
Der wohlklingende Name erinnert mich an eine der schönsten Kunstsammlungen in dieser Stadt, die im Stüler-Bau, gegenüber dem Schloss Charlottenburg, untergebracht ist. Vater und Sohn = 2 Welten. Aber ich schweife ab.
BIERGARTEN: ein Muss für die sommerliche Metropolen-Existenz. Die regenfreien Tage werden sofort genutzt, lauwarmes Fass-Bier auf ungemütlichen Bänken im Freien zu trinken. Ja, es gibt auch Wein. Der wird aus großen Pappkartons mit Zapfhahn abgefüllt, rot oder weiß, größere Differenzierung ist nicht möglich. Um 21.30 Uhr ist die Farbe sowieso egal, denn bis 22.00 Uhr muss alles erledigt sein, weil sonst die dicht auf dicht wohnenden Nachbarn zu Recht die Polente rufen. Ruhestörung (mitten in der lauten Stadt) heißt dann das Delikt.
Trinken allein geht ja heute nicht mehr, darum muss ein Kulturprogramm her. Dienstag und Donnerstag sind während des Sommers die Kinotage mit Gruselfilmen wie „Komm, süßer Tod“ oder „Der Knochenmann“.
Aber das Grauen findet nicht nur auf der Leinwand statt. Von den morschen Kino-Liegestühlen reißt ständig der Stoff oder das Gehölz bricht zusammen. Schlagartig glotzen alle zum Knochenmann, der jetzt verwundet im Brauerei-Kies auf dem Boden liegt. Da hilft nur ein kalter Umschlag mit Rhabarber-Schorle und ein Anruf bei 112. Laut heulend bringt der Rettungswagen den Patienten in das nächste Krankenhaus mit dem schönen, aber verrückten Namen „Maria Heimsuchung“. Gruseliger kann kein Open-air-Film sein.
Stadt(teil) der Dichter und Denker
Auf Pankow lass ich so schnell nichts kommen. Ungeachtet der Tatsache, dass ich hier nun schon seit über 5 Jahren wohne, entdecke ich täglich Spuren von Menschen, deren Werke ich bereits längere Zeit kenne. Heiner Müller hat hier gewohnt ; am Kissingenplatz, in der
Nähe der S- und U-Bahn-Station Pankow. Als ich zum ersten Mal an diesem Haus vorbei ging, fiel mir einer seiner Kernsätze ein: "Kunst kommt von Niederlage" . In den 50iger
Jahren verbrachte er einige Zeit in dieser unscheinbaren Siedlung. Hier wohnte er mit
seiner 2. Frau Inge- Ein Dichter-Paar, das ich sehr verehre und deren Zusammen-Leben so schwierig wie möglich war, denn sie gerieten mit ihrer Kopf-Arbeit stark in Konkurrenz. Ein Thema, das mir sehr bekannt ist.
Eine schlecht lesbare Gedenktafel erinnert an ihre gemeinsame Zeit in Pankow. Inge Müller, die vor der Heirat mit Heiner bereits schwierige Zeiten im und nach dem Krieg hinter sich hatte, nahm sich in dieser Wohnung mit Gas das Leben. Aus einer Biografie weiß ich, dass sie auf dem Friedhof Pankow II in der Gaillardstraße beerdigt wurde. Das kaputte Schild an der klapprigen Pforte lässt schon ahnen, dass ich ihr Grab nicht finden werde. Hier ist alles schon fast abgewickelt, es gibt nur noch vereinzelte Gräber. Der alte Friedhof bei den Flora-Gärten muss weichen, es wird Bauland für neue Wohnhäuser gebraucht.
Ich hätte Inge Müller gern kennengelernt. Schöne Worte von ihr:
Allerleirauh
Mann ist und Frau
Finden und Trennen
Keiner kann's nennen
Allerleirauh.
Ihr (damals junger und sehr schwieriger) Ehemann Heiner wurde auf dem Promi-Friedhof der Dorotheenstadt an der Chausseestraße beeerdigt. Er hat sie Jahrzehnte überlebt und wurde sehr berühmt in Ost und West. Dort liegt er in guter Gesellschaft. Aber das ist ein anderer Friedhofs-Spaziergang, über den ich gern berichten werde.
Inge Müller schrieb 1956 ein Gedicht über ihren Mann, der beim Schriftstellerverband der DDR ein Jahr lang "Mitarbeiter für Dramatik" war und dafür 400 Mark im Monat bekam.
Seine Stirn ist breit und gewölbt
eine Gedankenkuppel
seine Wangen sind eingekerbt
ach so seine Augen schauende Gewässer
sein Gang wie ein Windspiel
an den Müllkästen des Lebens vorbei
nun ist er Dramatiker
um seine Lyrik zu schützen
das 21. Jahrhundert erwartet ihn
Zeit fürs Museum
"Antizyklisches Verhalten" ist ein Lieblingsbegriff von mir. Darum gehe ich bei größter Hitze im Hochsommer gern ins Kino oder ins Museum. Die wenigen Besucher stören nicht und es ist angenehm klimatisiert. Zuerst besuche ich das BODE-Museum auf der Museumsinsel. Es interessiert mich brennend, den Raum im Münzen-Kabinett zu sehen, aus dem die riesige Goldmünze vor einigen Wochen gestohlen wurde. Nach eingehender Tatort-Besichtigung zieht es mich dann aber doch in die unteren Räume zu herrlich bunten Mosaiken aus Byzanz, vielen, vielen Altarbildern und etlichen Darstellungen der Biblischen Geschichte. Hier begegne ich zum ersten Mal der Darstellung einer gekreuzigten Frau (Osnabrück 1520), der "Heiligen Kümmernis" , auch "Liberata" genannt. Sie wurde von ihrem heidnischen Vater wegen ihrer Liebe zu Christus gekreuzigt.
An einem anderen Tag war ich mit Kindern unterwegs, die sich im Museum für Kommunikation in der Leipziger Straße sehr wohlgefühlt haben. Sehr spannend ist dort die Rohrpost zum selber ausprobieren. Der Geschichte des Schreibens ist ein großer Saal gewidmet. Siegelringe, Federkiele und Tintenfässer, Brieföffner und Postkarten berühmter Leute gibt es zu bestaunen. 2270 Jahre altes Papyrus aus Ägypten ist das älteste Exponat. Und in der Schatzkammer des imponierenden Gebäudes gibt es die Rote und Blaue Mauritius zu bestaunen!
Kinder von heute haben für Rohrpost und alte Briefmarken natürlich nicht ewig Zeit, darum gibt es im Anschluss eine Fortsetzung mit zeitgemäßen Mitteln. Wir besuchen das private Museum für Computerspiele an der Karl-Marx-Allee. Aber hier habe ich nur die Rolle der Begleitung und muss gestehen, dass mich hier überhaupt nichts interessiert. Meinen kleinen Freunden geht es ähnlich und nach 30 Minuten sehnen sie sich ins Legoland. Also auf zum Potsdamer Platz !
Blaues Aufräumen
Ein Sommertag voller dunkelgrauer Wolken und der Ankündigung schwerer Gewitter. Schwül wie in Saigon. Zu viel Bewegung wird nicht empfohlen
Also beginne ich ganz langsam meine Bücher aufzuräumen, zu entstauben - und wieder einmal zu minimieren.
Ich bleibe bei einem ganz kleinen Reclam-Band mit BLAUEN GEDICHTEN hängen.
So ein schönes Thema!
Verzückt setze ich mich damit auf den Balkon zur (selbst gezogenen) blauen Ackerwinde und lese ihr blaue Gedichte vor.
Das war es wieder mal mit dem Aufräumen!
Blaupause
Schlaflos im Fenster die Nacht
Fragt wozu das Ganze
Weil ich die Antwort nicht weiß
Das Dunkel läßt nicht mit sich reden
Geh ich zurück in den Schlaf
Der Morgen vielleicht weiß es anders.
(Heiner Müller)
Von unten nach oben
„Berlin ist zu groß für Berlin“, so der Titel eines Buches von Hanns Zischler. Ich ziehe es immer wieder gern aus meinem Regal. Den
Schauspieler und Autor verehre ich sehr, aber seine Kritik an Berlin teile ich nicht. Mich animiert Berlins Größe zu Entdeckertouren.
Wie an diesem Sonntag. Um Mittag sitzen die Menschen fast alle in Frühstücks-Restaurants und die U2 ist angenehm leer. Ich steige am Olympiastadion
aus. Zum ersten Mal stehe ich vor diesem Monument, das von vielen negativ beurteilt wird. Man findet es fürchterlich, weil es an die braune Vergangenheit erinnert. Mich zieht nichts hinein, bin
weder an Sportveranstaltungen noch Konzerten dieser Größenordnung interessiert. Ich hab's gern 'ne Nummer kleiner und biege in die Trakehner Allee ein. Mein Ziel ist der Waldfriedhof
Heerstraße. An einem heißen Tag ist es hier gut auszuhalten. Terrassenförmig, mit vielen Bäumen und Büschen und einem See in der Mitte, breitet sich die grüne Ruhestätte vor mir aus. Zwei
Stunden habe ich hier zu gucken und nach den Gräbern Prominenter zu suchen.
Allen voran und mit dem größten Grabstein, der von vielen Enten geziert wird, finde ich den großen Loriot. („Herr Müller-Lüdenscheidt, die Ente bleibt in der Wanne !“) Unvergessen der
„Halbstarke“ Horst Buchholz, sein Gab ist ein schattige Platzt. Der berühmte Tenor, Fischer-Dieskau, dessen „Winterreise“ mich stets zu Tränen rührt, hat es etwas sonniger, wie auch der
Ex-Chef der „Schwarzwald-Klinik“, Klaus-Jürgen Wussow. Die Galerie der Grabsteine ist sehenswert und ich staune über die Ideen und deren Umsetzung. Über manches wundere ich mich. Alles
Geschmackssache. Zwangsläufig stelle ich mir das eigene Grab vor. Bevor es schlimmer wird, tauche ich wieder auf, gehe an der schönen Kapelle aus roten Ziegeln vorbei zum Ausgang.
Das Wiener Kaffeehaus am Steubenplatz erreiche ich geradewegs von der Trakehner Allee aus. Ich bin im schicken Westend und beeindruckt von großartigen Villen und
Häuserblocks. Berühmte Architekten schufen sich in Park- und Wohnanlagen hier ein Denkmal. Das werde ich alles noch einmal und dann viel genauer ansehen. Aber jetzt möchte ich im behaglich
gespiegelten Retro-Raum des Cafés bei Kaffee und Kuchen sitzen. Über dieses Café habe ich schon viel gehört und genieße das feine Aprikosentörtchen. Wäre ich nicht in Begleitung, würde ich noch
ein großes Stück Apfeltorte mit Sahne kommen lassen...
Wie gesagt: nächstes Mal. Nach der Stärkung geht es die Reichsstraße entlang in Richtung Theodor-Heuss-Platz. Vor dem Haus Nr 4 bleibe ich einen Moment stehen und denke an das Jahr 1969.
Damals befand sich hier die Werbeagentur „unilife“, bei der ich als Texterin gearbeitet habe. Meine Wohnung war in Kreuzberg. Damals wie heute ist mir kein Weg zu lang. Jetzt könnte ich in die U2
einsteigen, um auf direktem Weg nach Pankow zu meinem jetzigen Wohnort zu fahren. Doch die Verlockung siegt: in der Radio 1-RBB-Dachgarten-Lounge von hoch oben über Berlin zu sehen. Meine
Begleitung ist schnell überredet, wir fahren mit dem Lift in die 14. Etage. Noch bis Ende des Jahres ist der Dachgarten für jedermann offen. Wir werden mit einem großartigen Blick belohnt
und gönnen uns dann auch noch ein Bier an der großen Bar.
Von „unter der Erde“ bis „über den Wolken“ - und das an einem einzigen Nachmittag!
Ein Prost auf Hanns Zischler.
Vielleicht ist Berlin ja doch zu groß für Berlin? Aber wie sollen wir es zusammenschieben ?