Sigi Hirsch hatte die Fotografin beauftragt, großformatige Fotos für seine Zeitschrift "total - die literarische Illustrierte" zu liefern. Die Fotografin hieß Gesine, war um die zwanzig, hatte
kurzes stumpfblondes Haar und graublaue Augen wie der windige Himmel. Und so windig war sie auch.
Wir besuchten sie in ihrem Atelier. Sie hatte noch einen Besuch. Es war ein alter Mann in einem dunklen Anzug, um den Hals ein altmodischer Stehkragen, er verabschiedete sich gerade. Dabei
überreichte er der Fotografin eine rote Rose. Als er sich zum Gehen umdrehte, stießen er mit mir zusammen, er murmelte: „Verzeihung“ und ich sagte, um ihm seine im Gesicht erkennbare Bestürzung
zu nehmen, bewusst lpcker: „So, zahlt man hier mit Rosen das Honorar?“
Er entblößte ebenmäßige Zähne und erwiderte: „Lieber ein Pfund Geschäft als zwei Pfund Arbeit, wie man in Schlesien sagte“.
Weil meine Familie mütterlicherseits bis zur Vertreibung dort gelebt hatte, befanden wir uns Sekunden später in einem Gespräch.
Währenddessen huschte die Fotografin im halbleeren hohen Raum mit ihrem Fotoapparat hin und her, mir schien, als sei ihr der Ort ein Rätsel, dabei hatte sie selbst ihn gemietet, hier im Haus der
jüdischen Gemeinde. Nur ein paar Scheinwerfer auf hohen Stangen verrieten, dass es sich um ein Atelier handelte, aber das hatte ich bald vergessen, der Alte redete auf mich ein. Und dann ging er
plötzlich an mir vorbei, als gäbe es mich nicht. Steif ging er zur Tür hinaus.
„Halbblind ist er“, murmelte Sigi fast ehrfürchtig. „Aber er will keine gelbe Binde. Du weißt: die gelbe Armbinde mit den drei schwarzen Punkten.“
„Er hat als Kind den gelben Stern getragen“, sagte Gesine. Zum ersten Mal sah sie mich an. Ich dachte: Was für ein offener Blick, so offen wie die friesische Ebene.
Drei Monate später pumpte sie sich von mir 3000 Mark für einen Film, den ihr Freund an der Nordsee drehen wollte, und verschwand spurlos aus West-Berlin.
Aus: Berlin - gesehen und erlebt
Siehe auch Der Gelbe Stern