In letzter Zeit hatte Herbert Gruner, Dramaturg an einem Berliner Theater, das Gefühl, als beginne sich das Leben von ihm zu entfernen. Sprachen ihn die Schauspieler bei Bühnenproben an, kam es
ihm vor, als ginge das Schauspiel weiter und er bekam Panikattacken.
Er suchte seinen Arzt auf, dieser riet ihm, eine Auszeit zu nehmen.
„Und entdecken Sie wieder Ihre Hände und Füße und Ihre Sinne! Weg von der geistigen Arbeit, arbeiten Sie körperlich.“
Die Zeit war günstig. Die Theaterferien hatten begonnen. Schon am Tag seiner Ankunft griff er zur Säge und Axt. Um die Sicht von seiner Ferienhütte zum nahe gelegenen See zu verbessern,
hieb er alles Buschwerk weg bis auf eine junge Birke. Birken mochte er, in seinen Augen waren sie Stars einer Show. Sie beginnen damit, dass sie sich langsam anziehen. Das hat etwas
Unschuldiges, aber nur bis zum Augenblick, wenn der weiße Körper durchs Kleid schimmert. Doch als wollten sie die Zuschauer für ihre lüsternen Blicke bestrafen, werfen sie sich in ein
dunkelgrünes Matronenkostüm. Gerade, als die Show zu lanweilen beginnt, verwandeln sie sich in Diven mit goldenem Flitter. Das Publikum ist entzückt, doch dann reißt ein Wind das prächtige Kleid
von ihnen. Schließlich stehen sie nackt da. Sanft dreht der Beleuchter das Licht herunter, Dunkelheit breitet sich aus. Ende der Vorstellung.
Und deswegen ließ er die Birke stehen.
Drei Tage später, die Arbeit war getan, machte er einen Spaziergang zum See. Es war Mittsommer. Nichts schien sich zu bewegen. Die Luft flimmerte vor Hitze.
Auf dem Rückweg schlug ihm der brandige Dunst eines Weizenfeldes entgegen. Ein kurzes, behagliches Schnüffeln, dann schritt er auf seine Hütte zu. Verblüfft blieb er stehen. Die Birke
schien kleiner als sonst.
Er beeilte sich und als er am Baum stand, sah er, dass die Birke tatsächlich geschrumpft war. Ihre Spitze reicht nicht einmal mehr bis zur Dachrinne. Er prüfte den Stamm mit der Hand, er war
glatt und kühl wie immer. Trotzdem stimmte etwas nicht. Verwirrt stieg er zur Veranda hoch, sah noch einmal zur Birke und erschrak.
Sie bewegte sich. Äste und Zweige verschmolzen mit dem Stamm und der Baum formte sich zur Statue einer Venus.
Über die Sandstraße zum See brauste ein Auto, eine Staubwolke hinter sich herziehend. Er warf eine rote Wolldecke über die Statue. Das sah merkwürdig aus, aber bestimmt nicht so
schockierend wie eine schneeweiße Venus vor seiner Hütte.
In der Küche trank er ein Glas Wasser. Als er zum Fenster sah, war die Figur samt roter Decke verschwunden. Er hörte ein Geräusch und drehte sich um. Da saß auf dem Sofa eine Frau, aus
einem bleichen Gesicht blickten ihn grüne Augen an. War sie lebendig? Als hätte sie seine Gedanken erraten, bewegte sie sich, die Decke glitt von ihren Schultern. Sie war splitternackt.
Er gab ihr ein blauweiß kariertes Hemd und seine gelbe Jogginghose. Sie verstand ihn sofort. Beim Anziehen gab sie ein Fauchen von sich, wahrscheinlich ihre Art Lachen, denn sie warf ihm
belustigte Blicke zu. Dann setzte sie sich wieder aufs Sofa und sah ihn erwartungsvoll an.
Er fragte sie, wer sie sei. Und überhaupt: was soll das Theater. Sie schwieg. Ihre Augen bewegten sich etwas, man hätte das als eine Aufforderung bezeichnen können. Er nahm ihr gegenüber im
Schaukelstuhl Platz. Er musste nachdenken.
Gut, es war eine Frau. Aber wer war sie? Eine Schauspielerin? Übrigens, wie haben sie die Birke verschwinden lassen? Dahinter musste ein raffinierte Technik stecken. Und was wurde hier
gespielt? Sicher ein Sketsch. Er lächelte. Er wird mitspielen.
Der Himmel am Horizont färbte sich rot, er begann den Tisch zu decken. Aber sie blieb sitzen und rührte keinen Bissen an. Bei der Hitze musste sie doch wenigstens Durst haben! Er bot ihr eine
Tasse Tee an, da stand sie auf, nahm den Flieder aus der Vase und trank das Wasser. Sehr lustig! Er lachte gekünstelt. Aber jetzt ernsthaft. Er zog sie an sich, ein warmer, geschmeidiger
Frauenkörper. Sie fauchte ihr Lachen. War das ein Nein? Gerade liefen überall Me-too-Geschichten. Er ließ sie los.
Dann eben auf Romantisch, ein Kaminfeuer muss her. Als er nach einem Birkenholzscheit griff, kam ein furchtbarer Laut aus ihrem Mund. Mit abwehrenden Händen stellte sie sich vor den Kamin, er
verstand sofort. Na klar. Sie war ja mal eine Birke. Das hier könnte ja ein Mitglied der Familie sein.
Während er ihr das das Bett im Gästezimmer richtete, beobachtete er sie aus den Augenwinkeln. Also bitte. Deine Auftritt, meine Liebe! Sie ging an ihm vorbei, zeigte mit dem Finger zur Tür, er
verstand und sie schloss hinter ihm die Tür. Klar. Steigert die Spannung.
Wenig später lag er in seinem Bett, dekoriert mit seinem weinroten Pyjama. Alles blieb still. Nichts rührte sich. Als er am Morgen erwachte, lag sie neben ihm.
Zum ersten Mal verfluchte er seine Vorliebe für breite Betten. Hatte sie sich nur dazu gelegt oder war was passiert? Sie schlief, mit leicht geöffnetem Mund, eine Haarsträhne über der Nase.
Plötzlich schlug sie die Augen auf, ein grüner Katzenblick traf ihn, sie sprang, nackt wie sie war, aus dem Bett und lief in ihr Zimmer.
Während er frühstückte, hörte er von dort erst ein Rauschen, dann kurz einen Ton wie von einer Gitarrensaite.
Sie kam aus dem Zimmer, in den Händen ein Bündel Grünes, mit strahlendem Gesicht, sie war barfuß, trug seine Jeans und seinen blauen Pullover. Verblüfft beobachtete er, wie sie vom Küchenschrank
drei Blumentöpfe herunter holte. Sie lief nach draußen und begann in der Nähe des Fensters die Töpfe mit Erde zu füllen und die Pflanzen einzusetzen. Wie sie da kauerte und
übertrieben zärtlich mit dem Grünzeug umging, das ärgerte ihn. Eine völlige Missachtung seiner Person.
Sie kam herein und stellte die Töpfe auf das Fensterbrett bei seinem Schreibtisch. Jetzt sah er, was es war: Birkenschösslinge. Woher hatte sie die? Doch nicht gekauft? Wie soll man das einem
Publikum erklären?
Wenig später eine neue Wendung. Sie räumte den Küchentisch ab, fegte die Hütte, kochte eine Gemüsesuppe zum Mittag nur für ihn und alles, als hätte sie es schon immer getan. Und so ging es bis
zum Abend. Sie schien nie hungrig zu sein, sprach
auch kein Wort mit ihm, aber dass es eine Frau war und zwar eine richtige, hatte sie selbst bewiesen. Einmal umarmte sie ihn, offenbar nur, um ihn zu reizen. Aber jetzt wollte er nicht mehr, er
machte sich frei und schloss die Tür ab, als er zu Bett ging.
Am Morgen weckte ihn ein polterndes Geräusch. Es kam aus der Abstellkammer. Was war da los? Er öffnete die Tür. Sie kramte in dem Gerümpel nach alten Blumentöpfen für ihre neuen
Birkenschösslinge.
Die Hütte wurde zu einem Treibhaus. Sogar im Bücherregal standen Birkentöpfe, die Bücher hatte sie neben den Kamin aufgestapelt. Und überall ein feuchtwarmer Windelgeruch.
Er lief herum und wusste nicht, wohin mit sich. Dann hörte er draußen einen Spaten gegen Steine stoßen.
Durch das Fenster sah er, wie sie Löcher grub und ihre Schösslinge einpflanzte. Als sie hereinkam, ging er hinaus. Vor einem Schössling hockte er sich hin. Die Blätter waren noch nicht ganz
entfaltet. Vorsichtig bog er eines glatt, und dann traf es ihn wie ein Schlag. In der Aderung zeigte sich ein Gesicht. Kein x-beliebiges, sondern sein Gesicht. Ein Blatt nach dem anderen rollte
er auf. Überall sein Gesicht. Mal lachend, mal ernst, mal schlafend, mal vergrämt. Eines sah geradezu dämlich aus. Das Blatt riss er ab.
Er lief in die Hütte und baute sich vor ihr auf.
„Ich”, sprach er, als stünde er auf einer Bühne, „lehne die Vaterschaft ab. Sämtliche Blätter mit meinem Gesicht sind zu entfernen!“
Zur Antwort hämmerte sie mit den Fäusten auf seine Brust, er packte ihre Handgelenke. Sofort erschlaffte sie, er fing sie auf und trug sie zum Schlafzimmer. Jetzt wollte er es wissen. Aber vor
der Tür glitt sie aus seinen Armen und sprang davon.
Er warf sich aufs Bett.
„Die Hexe spielt mit mir!“
In der Hütte wuchs die Stille wie der Druck in einem Dampfkessel. Hau sie weg, dachte er, ist ja nur ein Baum. Er korrigierte sich. Eine Frau, die eine Birke spielt. Und das hier ist ja
eine Komödie. Eher noch ein ländlicher Schwank. Ein Mord passt da nicht. Und obwohl er gegen Schwänke und Klamotten war, wollte er kein Spaßverderber sein, ja, er wollte sogar etwas dazu
beitragen. Sein Einfall war so gut, dass er selber lachen musste. An der Rückenwand der Hütte lagerten Stücke von einem Birkenstamm. Daraus würde er Feuerholz machen.
Beim Klang der Axt kam sie ans Küchenfenster gestikuliertesie heftig.
„Na bitte“, flüsterte er, „jetzt mach mal eine richtiuge Szene!“
Als er wieder aufblickte, war sie verschwunden. Gut, der Spannungsbogen sollte wohl noch ein wenig ausgedehnt werden.
Eine halbe Stunde später trug er einen Arm voll Holzscheite in die Hütte. Sie kauerte im Schaukelstuhl, die Fersen auf der Sitzkante, das Kinn auf den Knien und starrte zum Kamin.. Umständlich
baute er in der Kaminhöhle die Scheite zu einer Pyramide und riss ein Streichholz an. Ein Seufzer, dann ein Stöhnen, und auf seinen Rücken sausten ihre Fäuste.
Er lachte in sich hinein.
Dann hörte er das Tappen nackter Füße, sie war davonlaufen.
Was zum Kuckuck soll das? Er schlich zu ihrem Zimmer, öffnete die Tür einen Spalt. Sie lag im Bett und schlief.
Sie schlief!
In der Asche des erloschenen Feuers herum stochernd, die Brauen zusammenziehend, dachte er: Jedenfalls weiß sie jetzt Bescheid. Sie wird kapieren, dass es mit dem Theaterspiel vorbei ist! Und um
es ganz deutlich zu zeigen, beschloss er, noch in diesem Augenblick seinen Waldspaziergang wieder aufzunehmen.
Der Waldweg schien dunkler als früher zu sein. Etwas Leichtes streifte sein Gesicht. Kurz darauf geschah es noch einmal, er griff zu, bekam einen Dornenstich in die Hand: es war der Zweig eines
Schlehenbusches. Verwirrt und beunruhigt setzte er den Weg fort. Der Weg wurde schmaler und die Bäume rückten näher. Er wollte umkehren, aber der Weg war verschwunden. Er drehte sich um, jetzt
war auch der Weg vor ihm nicht mehr da, nur Bäume und Gestrüpp..
Rechts stand eine Fichte. Mit ihrer Größe und ihrer Ruhe strömte sie Mütterlichkeit aus. Er kroch unter ihren dunklen Rock und setzte sich, den Rücken an den Stamm gelehnt, Da brachen Wurzeln aus
dem Boden, ein Erdbrocken traf sein Gesicht. Die Wurzeln umschlangen ihn, banden ihn an den Stamm. Triebe züngelten hoch. Einer klopfte an seine Lippen. Er öffnete den Mund und während er zu
saugen begann, schlossen sich seine Augen.
Drei Wochen lang suchte man ihn, dann brach man die Suche ab. Es hieß, er müsse in einem der Sümpfe umgekommen sein. Im Jahr daraf wurde das Grundstück verkauft. Der neue Besitzer fällte die
Birke. Sie störte seine Sicht zum See.