Wir waren von Berlin aufs Land gezogen, und auf einmal passierte mir, dass ich die Stadt vermisste. Nein, wenn ich länger nachdenke, war es nicht die Stadt selbst, sondern ...
Am besten ich erzähle es.
Unsere Wohnung war in Neukölln, zweite Etage. Über uns wohnte Raschke, er war Rentner und hatte das sprichwörtliche goldene Berliner Herz. Aber er war ein verdammter Besserwisser, und wenn er das
war und das war er am liebsten, dann hätte man gern auf sein goldenes Herz und alles weitere von ihm verzichtet.
Im Herbst waren wir eingezogen und Ende Februar wunderte ich mich. Immer mittags hob sich am Fenster neben Raschkes Balkon die Gardine. Dann fiel sie wieder.
Als ich das zum vierten Mal sah, fragte ich die Verkäuferin in dem Kartoffelladen gegenüber, ob ihr das auch schon aufgefallen sei. Sie meinte, das ist bei Raschke, der hätte jedes Jahr um diese
Zeit eine Erscheinung.
Mehr sagte sie nicht, und ich glaubte, sie mache sich einen Spaß mit mir.
Drei Tage später sah ich, wie Raschke einen Blumenkasten an seinen Balkon hängte. „Zu früh“, dachte ich und das sagte ich auch der Kartoffelfrau, bei der ich gerade Zwiebeln kaufte.
Sie blickte kurz zum Balkon, vergaß das Abwiegen der Zwiebeln und meinte, jetzt sei sie da, die Erscheinung, jetzt könnten wir uns alle freuen. Offenbar freute sie sich schon, ihre Stimmung hatte
sich schlagartig gebessert. Und dann traf ich Frau Regenberg aus der vierten Etage im Treppenhaus. Sie war geschieden, hatte drei Kinder und wurde vom Hauswirt für die Treppenreinigung bezahlt.
Und sie erzählte mir, was da jedes Jahr passiert.
Es beginnt in Raschkes Wohnstube. Immer zum Februarende stellt er einen bestimmten Tischstuhl beiseite. Dann betrachtet er das freigelegte Teppichstück. Nichts da? Also Stuhl zurück.
Das macht er ein paar Tage so.
Und dann, eines Mittags, sieht er einen gelben Streifen auf dem Teppich. Mit dem Zollstock misst er dessen Breite, schüttelt den Kopf. Zwei Tage später misst er wieder, er zeigt sich zufrieden.
Seine Frau setzt sich auf den beiseite gestellten Stuhl und blickt ergeben.
Ihr Mann holt aus dem Keller einen Balkonkasten mit blattlosen Geranienstöcken, hängt ihn außen an den Balkon.
Am Abend, nach dem Wetterbericht, bemerkt seine Frau:
„Haste jesehn? Et jibt Frost.“
„Et jibt ooch den Funkturm“, antwortet er.
Nachts geht die Balkontür. Ihr Mann holt den Kasten ins Zimmer. Hoffentlich tut er Papier drunter, denkt sie, und schläft ein.
Am nächsten Tag steht der Balkonkasten auch noch um zwölfe auf dem mit Zeitungspapier abgedeck ten Teppich. Von der Sonne ist nichts zu sehen.
„Siehste, du hast se viel zu früh hochjeholt“, sagt die Frau.
„Karla“, sagt ihr Mann, „jing det nach dich, täten wir noch im Sommer uff den Frühling warten.“
Eine halbe Stunde später bricht die Sonne durch. Gleich darauf hängt der Kasten am Balkon. Diesmal gibt es keinen Nachtfrost. Die nächsten Tage bleibt der Kasten angehängt. Einmal am Tag
gießt Rasch ke etwas Wasser aus einem Bierglas hinein.
Und dann schneit es.
Frau Raschke sagt keinen Mucks. Es ist ein kritischer Augenblick.
Der Schnee schmilzt, höher steigt die Sonne, dann ist es so weit. An einem Geranienstrunk geht eine Knospe auf, ganz klein.
Raschke schleppt die restlichen Blumenkästen aus dem Keller und hängt sie ein. Danach wässert er mit einer Gießkanne die Kästen.
Am nächsten Tag schlagen in der ganzen Straße die Balkontüren auf, Blumenkästen werden an Balkone gehängt, Gießkannen speien Wasser, zwölf genässte Fußgänger brüllen nach oben und eine
herrenlose Gartenschaufel wird wegen Körperverletzung angezeigt.
Sehen Sie, und das ist es, was ich hier vermisse: Einen Berliner, der dafür sorgt, dass wir nicht noch im Sommer auf den Frühling warten müssen.