Eika Aue
Geboren in Hamburg.
Tätig in der Medienbranche, danach selbständig.
Lebte in Hamburg, Bremen und Kiel.
Ihre große Liebe aber gilt Berlin,
dort ist sie zu Hause
Siehe auch Eikas Berlin-Journal 2
Therme Hier kurte Maxim Gorki Trau-Kirche Schmeling-Ondra
Alles friedlich hier. Scharmützel werden gerade nicht ausgetragen. Das Wort gefällt mir sehr, obwohl etwas Militärisches damit gemeint ist. Es beschreibt einen kleinen, bewaffneten Konflikt - vor
oder nach einer Schlacht. Es wird zeitlich begrenzt, wild, also regellos gekämpft. Keine Ahnung, warum dieser schöne See, die ruhige Landschaft, noch heute so genannt wird.
Mein heutiges Ausflugsziel vom Alexanderplatz aus ist Bad Saarow. Mit der Regionalbahn in einer knappen Stunde zu erreichen. Die kleine Reise führt nicht zu einem Kriegs-Schauplatz. Ganz im
Gegenteil. Hier gibt es Kliniken und Erholungsheime ohne Ende. Gärten, Parks, schönste Uferlandschaften und seit 1998 ein attraktives, großzügiges Thermalbad.
Aber schon mein noch so geringes Forschungsinteresse stößt auf Militärisches. Zu DDR-Zeiten gab es hier eine Akademie für Militärmedizin und Feld-Chirurgie. Das damalige (angegliederte)
NVA-Krankenhaus wurde 1991 zum Bundeswehr-Krankenhaus und 2006 von der Helios-Gruppe übernommen. Darum sind echte Uniformierte nicht mehr auszumachen, lediglich weiße Bademäntel. Auch eine Art
Uniform der Villenbewohner am Ufer.
Ein Kurort am „Märkischen Meer“, so nannte Fontane den Scharmützelsee. Der Ort Saarow hatte schon in Vorkriegszeiten einen guten Ruf. Eine der noblen Villen hatte sich Max
Schmeling erboxt. In der Saarower Kirche wurde er mit Anny Ondra am 27. 7. 1933 getraut. Ein anderes edles Haus bewohnte zu jener Zeit die Schauspielerin Käthe
Dorsch.
Unter den argwöhnischen Augen der politischen Polizei kurte und schrieb der lungenkranke Maxim Gorki 1922/23 im Eibenhof.
Nach 1945 hatte u. a. DDR-Kultusminister Johannes R. Becher selbstverständlich ein Sommerhaus in Saarow.
Genug Name-Dropping. Es ist wohl immer gut, Prominenz am Ort zu haben, darum kann ich leicht darauf verzichten, die Namen von heute zu erforschen. An freien Grundstücken weisen sowieso Schilder
darauf hin, dass es hier „hochherrschaftlich“ mit den Bauvorhaben zugehen soll.
„Marina Apartments by Sir David Chipperfield und Enzo Enea“ sind die futuristischen Unterkünfte.
Der Aufenthalt in der ehemaligen Landhaus-Kolonie ist nix für den Mittelstand. „Für alle reicht es nicht"“ (Bertolt Brecht).
Das seit 2013 stattfindende Festival „Film ohne Grenzen“ macht Hoffnung. Es heißt im Flyer, dass es „den Dialog über Humanität, Menschenwürde und Solidarität“ fordert.
Es kommen also nicht alle mit teurem Automobil oder Wasserflugzeug zum Golfen, Segeln und Feiern. So lange das öffentliche Schienennetz besteht, kann jeder die Flucht in die Tortenmanufaktur der
Seestrasse antreten. Ich empfehle im „Gateaux Rosé“ ein Stück Framboise-Baiser zum Americano. Kostet die halbe Mitgift, aber was soll 's?
Der Onkel Tobias vom Rias
Den kennen aus meiner Generation wohl (fast) alle. Und die atemlosen, kurzen Sätze des großen Kulturkritikers Friedrich Luft ebenfalls. „Die freie Stimme der freien Welt“ versicherte
seinen Hörern jede Woche : „Wir sprechen uns wieder, wie immer - gleiche Zeit, gleiche Stelle, gleiche Welle.“
Und der große Showmaster, Hans Rosenthal, nach dem dieser Ort benannt wurde, begann hier ebenfalls eine legendäre Karriere und fesselte Radio-Hörer- wie auch später TV- Seher.
„Dalli, Dalli“ war sein großer Erfolg.
Aber WO wurde in der geteilten Stadt damals Radio gemacht? frage ich mich und sitze schon in der U Bahn Richtung Schöneberger Rathaus. Laut Plan befindet sich das denkmalgeschützte RIAS-Gebäude
hier in der Nähe.
Durch den Rudolph-Wilde-Park locken Fontänen, Bänke und Rabatten die zahlreichen Besucher vorbei am Hirschbrunnen. Ganz in Gold leuchtet das stolze Tier. Die Szene wirkt wie ein altmodisches
Bühnenbild. Aber die Moderne naht. Auf der anderen Seite des Parks sichte ich das riesige RIAS-Gebäude im Stil der „Neuen Sachlichkeit“. Vorbei mit Hirsch und Gemütlichkeit. Dazu sagt mein alter
Architektenfreund: „Raumgreifende Wirkung im Stadtbild“, der auch weiß, dass Walter Borchard zwischen 1938 und 41 diesen Auftrag ausgeführt hat, das damals für die Bayerische
Stickstoffwerke AG in Auftrag gegeben wurde. Imponierend ist die runde Ecke, das Satteldach mit Gauben und die schmucklose, hell verputzte Fassade.
Am 6.6.1948 zog der amerikanische Besatzungssender hier ein und sorgte für heiße Musik im Kalten Krieg. Die Legende RIAS nahm ihren Lauf. Bis 1990 wurde aus diesem Haus gesendet. Die Fortsetzung
hieß dann SFB und bezog Quartier in der Masurenallee. Das RIAS - Programm wurde am 31.12.93 eingestellt. Seit Januar 1994 war hier dann der Sitz von DeutschlandRadio Berlin, jetzt
DeutschlandfunkKultur, mit eigener Programmzeitschrift von hoher Qualität.
Da im Gebäude einmal wieder umgebaut wird, konnte ich nichts besichtigen und musste mich auf Äußeres konzentrieren. Vor allem gibt es hier viel zu hören, was einem Radiosender nicht fremd ist.
Die nahe Ringbahn rattert und quietscht. Die Stadtautobahn A 100 macht ihre eigene Musik. Hans Rosenthal würde sich im Grab umdrehen. Darum hat er eine ruhige letzte Stätte gewählt auf
dem Jüdischen Friedhof am Scholzplatz im Westend.
Hollywood oder Jerusalem?
Die Frage stellt sich gar nicht, denn es geht beides in Görlitz, der östlichsten Stadt Deutschlands. In der wunderbar restaurierten Altstadt wurden in den letzten Jahren an die 100 Spielfilme
gedreht, darunter auch berühmte Hollywood-Produktionen, wie „The Grand Budapest - Hotel“ oder „Inglorious Basterds“. Ich habe sie beide gesehen und damals schon beschlossen, eines Tages mit der
Bahn von Berlin nach „Görliwood“ zu fahren.
Diesen Namen muss die schöne Stadt sich nun gefallen lassen, obwohl 1955 ein Defa-Film hier den Anfang machte. Das clevere Tourismus-Büro bietet Führungen zu allen möglichen Drehorten an. Schon
in der Bahnhofshalle spielt „Die Bücherdiebin“. Fast alles, das ich heute streife, habe ich schon in einer Folge von „Wolfsland“ im TV gesehen. Jetzt müsste Götz Schubert um die Ecke
biegen. Leider nicht der Fall, darum lese ich weitere Filmtitel: Käthe Kruse, Die Vermessung der Welt, Der Turm, Der Vorleser, Frantz, Goethe, Lore, Das schweigende Klassenzimmer, Der junge Karl
Marx. Der würde jetzt auch langsam Hunger bekommen!
Es ist Zeit für eine Rast im Gasthaus direkt an der Neiße - mit Blick aufs polnische Ufer. Grenzland! Auf der Speisekarte steht ganz oben natürlich „Schlesisches Himmelreich“ (Schweinebauch mit
Backobst und Kartoffelklößen), das modern, darum übersichtlich angerichtet ist und besser schmeckt, als ich es in Erinnerung hatte.
Nach den weltlichen Genüssen hat Görlitz auch einiges Himmlisches zu bieten. Dem Mittagessen im Schatten der Pfarrkirche St. Peter und Paul (mit der berühmten Sonnenorgel) folgt jetzt körperliche
Ertüchtigung auf dem Jakobsweg. Auch hier führt der berühmte Pilgerweg vorbei, der durch ganz Europa bis zum Grab des Apostels Jakobus in Santiago de Compostela in Spanien führt. An einem ganz
speziellen Gebäude sehe ich die Jakobsmuschel, das Erkennungszeichen an Routen und Unterkünften.
Ich stehe vor der Anlage „Heiliges Grab“, einem der ersten symbolischen Landschaftsgärten. Die Anlage aus dem Jahr 1504 ist eine Kopie der mittelalterlichen Begräbnisstätte Christi in Jerusalem.
Wer baut so etwas in der Oberlausitz?? Ein reicher Bürger(Meister), der nach einer „Verfehlung“ die Pilgerreise nach Jerusalem antrat, dort die Absolution seiner Sünden erfuhr und zum Kreuzritter
geschlagen wurde. 1465 kehrte Georg Emmerich geläutert zurück und legte den Grundstein für dieses Ensemble. Für mich ohnegleichen.
Um das Grab des berühmten Görlitzer Schuhmachers und Theosophen, Jakob Böhme, zu besuchen, fehlt mir nun doch die Zeit. Ich möchte zurück nach Pankow, damit ich nicht hier irgendwo in
Quarantäne muss. Hätte ich eine Zahnbürste dabei, würde ich in der Pension „Zum dreibeinigen Hund“ übernachten. „Der Klötzelmönch“, „Das Sechste Gebot“ oder „Der Holzwurm“ bieten sich auch zu
moderaten Preisen an.
MARZAHN MON AMOUR
lautet der Titel eines Buches, das ich gerade ausgelesen habe. Die Autorin ist nicht etwa „Cindy aus Marzahn“, die aus Luckenwalde stammt und in Wilmersdorf wohnt. Katja Oskamp hat in
diesem Buch ihre Erlebnisse als Fußpflegerin aufgeschrieben. Ich hab's gern gelesen, es ist gut erzählt, mit viel Herz und Verstand. Es passiert mir häufig, dass der Ort des Geschehens wichtig
wird.
Der Name Marzahn weckte bei mir früher Erinnerungen an den Elvis-Song „In the Ghetto“, - not a place to be. Aber so schlimm wie in Chicago ist es hier wirklich nicht.
An einem Sommermorgen bringt mich die S-Bahn in 20 Minuten in die größte Wohnsiedlung auf dem seinerzeitigen DDR-Gebiet. In den 1970er Jahren wurden hier überwiegend in Plattenbauweise Wohnungen
geschaffen für das schnell wachsende Ost-Berlin. Fernwärme, moderne Ausstattung, jede Wohnung mit Bad, das war ein Traum vom Luxus.
Die DDR hielt ihre Grenzen dicht, darum gab es keine nennenswerte Immigration - und das erklärt den geringen Ausländeranteil noch heute in diesem Bezirk. Das negative und fremdenfeindliche Image
hat sich lange gehalten. Trotzdem gilt Marzahn als der sicherste Bezirk Berlins. 85 % der Bewohner sind Deutsche, 7% kommen aus den Ländern der ehemaligen SU, 1,7% stammen aus Vietnam.
Bewohnergruppen aus anderen Ländern liegen jeweils unter 1%. International ist Berlin in anderen Stadtteilen.
Auf mich wirkt Marzahn angenehm aufgeräumt. Die Pflege der Häuser und Anlagen überträgt sich wohl unmittelbar auf die Füße mancher Bewohner. So hatte die Autorin leichtes Spiel mit ihrem Buch,
denn sie hat viele Kunden.
Das große Wohngebiet hat natürlich einen angemessenen Konsumtempel, der sich EASTGATE nennt. Wohlsortiert und gut besucht liegt dieses Raumschiff in der Mittagssonne. Hier gibt's wirklich alles,
nur keinen Briefkasten.
Wikipedia erklärt, dass Marzahn ein slawisches Wort ist und Sumpf bedeutet. Der kleine Fluss Wuhle verursachte früher Überschwemmungen, wodurch Sümpfe entstanden. Weitere Forschungen unterlasse
ich und freue mich einfach an den so unterschiedlichen Straßennamen hier : Frank-Zappa -Str. oder Pyramidenring, gegenüber von Spinatweg oder Radieschenpfad. Könnte ich mir hier eine Adresse
aussuchen, würde auf meiner Visitenkarte stehen : „Allee der Kosmonauten“
Wohnen im Weltkulturerbe
Wie sich das wohl anfühlt ? Das werde ich heute sicher nicht erfahren, denn ich kenne niemanden von den Leuten, die hier in der Siedlung am Schillerpark wohnen. So kühn bin ich schon lange nicht
mehr, dass ich eine Frau, die gerade das Staubtuch ausschüttelt, frage, ob ich mal kurz in ihre denkmalgeschützten Räume schauen könnte. Mein inzwischen verstorbener Freund Richard, Architekt,
hätte sich das getraut. Schließlich fühlte er sich als direkter Nachfolger des berühmten Wegbereiters des modernen Siedlungsbaus, Bruno Taut, der den Planungsauftrag für diese Siedlung vor fast
100 Jahren bekam.
Seit ich vor 8 Jahren erneut nach Berlin zog, sprach er davon, mir diese berühmten Siedlungen aus den 20er und 30er Jahren zu zeigen und zu erläutern. In einer davon wohnte er selbst, in der
Waldsiedlung in Zehlendorf, Am Fischtal. Darauf war er sehr stolz.
Nun muss ich selbst herausfinden, was an der Siedlung Schillerpark im „Englischen Viertel“ im Berliner Wedding so besonders ist. Es ist sehr still hier, keine Leute auf der Straße, das mag aber
an der Corona-Situation und am Samstagnachmittag liegen. Es gibt kein einziges Geschäft, keine Kneipe, keine Urbanität. Auf dem Sportplatz gegenüber zaghafte Ballspiel-Versuche An die andere
Tangente grenzt eine riesige Laubenkolonie, die auch schalldämmend wirkt. Ich komme mir etwas verloren vor, weiß aber, dass ich nach 10 Minuten Fußweg in das laute Leben auf der Seestraße mit den
riesigen türkischen Supermärkten, Dönerbuden und Konditoreien eintauchen kann.
Für die berühmte Wohnstadt war 1924 Baubeginn. Bis 1930 entstanden 303 Wohnungen, die alle Bäder, Balkone oder Loggien hatten. Das war damals sensationell für Menschen mit kleinerem Budget, für
die der Berliner Spar- und Bauverein hier baute. Raus aus dem 3. Hinterhof der Kaiserzeit, in dem TBC und Armut wüteten, rein in die hellen, begrünten Wohnanlagen mit Gemeinschafts-Waschhaus und
Kindergarten. Die Wohlfühl-Siedlung, die Volkswohnung war geboren. An der Gestaltung der Fassaden herrschte Strenge. Stuck und Kitsch waren Vergangenheit, es sollte aber auch keine
„Armeleutekunst“ entstehen, darum waren Einheitlichkeit und Minimalismus die Gebote, die durch räumliche Gliederung von Vorsprüngen, Fenstern, Loggien und Eisenbetonstützen an den Eingängen
hergestellt wurden. Mit den roten Backsteinen im Amsterdamer Stil und den minimalen weißen und blauen Putzflächen hat diese Siedlung einen eigenwilligen Reiz.
Richard hätte jetzt noch vieles mehr erzählt, vor allem aber auf die flachen Dächer hingewiesen, die damals sensationell waren und für einen „Dächer-Kampf“ sorgten. Mich würde allerdings ein
anderer Kampf noch mehr interessieren, denn aus der Literatur weiß ich, dass diese Siedlung auch als „Rote Bonzenburg“ bezeichnet wurde, weil hier auffällig viele Bewohner Mitglieder in der SPD
oder KPD wohnten.
Wenn ich den Rotwein ausgetrunken habe, werde ich mir endlich mal wieder das Lied vom ROTEN WEDDING, gesungen von Ernst Busch, anhören, denn er muss ja wissen, was hier geschah !
Die typischen Taut-Türen
Berlin Alexanderplatz Eisenhüttenstadt Magistrale
Eisen auf Sand gebaut
An einem trüben Tag fühlen sich Langweile und Tristesse am Alex besonders hart an. Mehltau legt sich aufs Gemüt und Fluchtgedanken kommen auf. Schließlich gibt es im Bahnhof Alexanderplatz vier Gleise, die diesen Gedanken unterstützen. In drei Minuten fährt ein Regio Richtung Cottbus. Mit der Rentner-Monatskarte kann ich in ganz Brandenburg herumreisen, muss keine Fahrkarte lösen. Will ich wirklich nach Cottbus, das in den Medien gerade nicht so positiv wegkommt? Nein, ich steige vorher aus und bin bereits nach 110 Kilometern in Eisenhüttenstadt gelandet.
Der Name fasziniert mich und meine Fantasie entwirft das feste Bild einer gottverlassenen Gegend, in die nach dem Krieg von der DDR ihre gesamte Stahlindustrie samt Wohnstadt in den märkischen Sand gestampft wurde. Hochöfen und Hochhäuser, kein Baum, kein Strauch, dicke Luft und schwarze Wäsche auf den Leinen in den Vorgärten...
So dachte ich. Da über diese Stadt so selten berichtet wird, konnte sich mein Bild lange halten. In dieser Reißbrett-Stadt sollte es keinen Kirchturm geben, so hatte es DDR-Vater Walter Ulbricht beschlossen. Als habe er geahnt, dass sein Staat eines Tages von den Kirchen im Land zum Einsturz gebracht werden könnte.
Am Bahnhof ist nichts los, weniger als nichts. Von einem Linienbus lasse ich mich ins Zentrum fahren und steige am Rathaus aus. Geisterhaft leer sind die Straßen der Innenstadt. Die Häuser erinnern stark an die Karl-Marx-Allee, die alte Stalinallee im ehemaligen Ost-Berlin: viele Arkaden und Verzierungen, klassizistische Formen. Der neue Film, den ich vor Kurzem im Kino Internationale (an der Karl-Marx-Allee in Berlin) sah, wurde hier gedreht: „Und der Zukunft zugewandt“ von Bernd Böhlich. Fantasie und Realität liegen gerade dicht beieinander, bin ich nun in Berlin oder im Norden der Niederlausitz? 2017 wurde hier „Das schweigende Klassenzimmer“ von Lars Kramme gedreht und 2011 war Tom Hanks hier zu Besuch, als er in Babelsberg „Cloudatlas“ drehte.
Davon zehrt der Fremdenverkehrsverein noch heute und ließ T-Shirts mit dem Tom-Hanks-Ausspruch „Iron Hut City“ drucken. Dadurch wird es für mich auf den Straßen auch nicht lebendiger und die Hochhaus-Gebiete haben keinen Grusel-Faktor, denn Marzahn oder das Märkische Viertel in Berlin sind nichts anderes. Also alles Schnee von vorgestern.
Die Eisenhütte in der ersten sozialistischen Musterstadt auf deutschem Boden war und ist ein bedeutender Arbeitgeber. Sicher sind die Menschen froh über ihre modernen Wohnungen, denn verfallene alte Häuser in dunklen Straßen gibt es hier nicht. Früher war es die Stadt mit der jüngsten Bevölkerung in der DDR. Etwas wirklich Altes gibt es nur wenige Kilometer weiter zu bewundern, das Barockkloster Neuzelle. Bin gespannt, wann es als Filmkulisse dienen wird. Diese ganze Gegend ist ein einziges Film-Motiv.
Hast du Hollywood mal satt, komm nach Eisenhüttenstadt.
„Ganja Ganja!“ in
Kreuzberg
Vor kurzem habe ich im TV eine Dokumentation über den Reggae-Sänger Bob Marley gesehen, darum kenne ich dieses Wort, das Haschisch meint. Gestern Nachmittag im Görlitzer Park wurde es
mir mehrmals zugezischelt: „Ksch ksch... Ganja Ganja...“ Dabei wurden in der halb geöffneten Hand kleine Päckchen gezeigt. Einige der Rasta-Männer lächelten freundlich, andere guckten mürrisch,
weil ich nicht stehen blieb und kaufte. Endlich ahnte ich, um was es bei diesem „kriminalitätsbelasteten Ort“ geht, den die Stadt nicht in den Griff kriegt.
Da es heller Mittwochnachmittag ist, fürchtete ich mich nicht wirklich, denn alles Schlimme, was die Medien über den „Görli“ bringen, findet wohl im Dunklen statt. Ich las, dass ein Zaun geplant
sei (sic !) und das Aufstellen von Coffeeshops und Imbissbuden an den Eingängen, um dort die Spaliere von Dealern aufzulösen.
Im Mai malte sich ein Politiker einen bunten Skandal auf den Park-Rasen. Mit Farbe wurden kleine Areale umrandet, wo Dealer sich aufhalten sollten, ähnlich töricht, wenn nicht gar bescheuert wie
die Rauchzonen auf Bahnsteigen. Die Unzulänglichkeiten werden zum Ereignis umdefiniert - und so teilt die Stadt politisch korrekt mit: „Wir werden uns auf die Weiterexistenz des Handels dort
einstellen müssen.“
Immerhin funktioniert hier die heimische Wertschöpfungskette, denn die extra langen Blättchen
für den original Kreuzberger „Görli-Park-Joint“ werden von einer Firma in Pankow produziert.
Bei meinem Ausflug in den „Görli“, den ich heute zum ersten Mal betrat (Parks sind mir nicht geheuer, darum meine Zurückhaltung), stellte ich einen Produkt-Überschuss fest.
Alle 10 Meter steht ein orangefarbener BSR-Mülleimer mit der heiteren Aufschrift „Park Ranger“. (Erinnert mich an die frühe TV-Soap „Texas-Ranger“). Sauber und aufgeräumt ist es hier, jawoll. Und
Parkläufer in grüner Bekleidung, die das Ordnungsamt stellt, sind Ansprechpartner, dürfen aber bei Übergriffen nicht Polizei spielen... sondern sie im Notfall nur herbeirufen.
Um nichts zu provozieren, gibt es keine Fotos aus dem Park.
Kreuzberg, wie hast du dich verändert! Auch zu meiner Zeit gab es schon Drogen aller Art und dazu noch die Postzustellbezirke 36 und 61 für Kreuzberg, wo es hieß: „36 brennt, 61 pennt“.
Zwischen diesen beiden Welten tobte 1969 das Berliner Leben. Ich möchte es nicht missen und eine Ikone meiner Jugend zitieren:
„Der Geist der Controverse erhält die Welt in Gang, und Witze ölen das (ansontsn schaurije) Getriebe.“ (Arno Schmidt)
Alte Liebe in Neu-Westend
Der expressionistische Dichter Gottfried Benn und selbst ernannte Magier hatte es echt drauf.
Im Brotberuf „Arzt für Haut und Liebe“ hatte er seine letzte Praxis und Wohnung in der Bozener Straße in Schöneberg. Neu-Westend ist nicht nur eine Ecke weiter.... aber für eine Blaue Stunde war ihm kein Weg zu weit. Es ist jetzt erst bekannt geworden, dass der Mann, der die Frauen liebte noch im letzten Jahr vor seinem Tod im Sommer 1956 eine sehr viel jüngere Geliebte hatte. Erst vor kurzem erschien das aparte Bändchen (Uwe Lehmann-Brauns „Benns letzte Lieben“) und ergänzt meine Benn-Bibliothek.
Ja, ich hätte ihn sehr gern gekannt, darum interessiere ich mich nicht nur für seine Gedichte, sondern explizit für seine Frauen und habe wohl die meisten Briefe an sie alle gelesen. Die einseitige Korrespondenz mit Gerda Pfau konnte ich nicht kennen, da sie erst posthum veröffentlicht werden durfte. Eine sehr diskrete Frau, die ihm kein einziges Wort schrieb, sondern nur telefonierte. Das ist schon speziell, denn ihr Brotberuf war das geschriebene Wort. Sie war Journalistin beim Berliner Tagesspiegel.
Benn war bis zum Tod mit seiner 3. Ehefrau, der Zahnärztin Ilse Kaul, verheiratet. Seinen „Stab und Stecken“ hätte er niemals verlassen, das weiß man heute, aber den Freundinnen war es immer eine
vergeblichen Versuch wert, ihn abzuwerben. „Gute Regie ist besser als Treue“ war sein Lebensmotto, mit dem er bis zu drei innigen Beziehungen neben der Ehefrau steuerte. Er konnte nur gut leben, arbeiten, dichten, wenn er eine „irdische und eine himmlische Liebe“ hatte; der letzten irdischen bin ich als Stadtwanderin heute auf der Spur.
Ganz in der Nähe der Wohnung von Gerda Pfau habe ich im Jahr 1969 bei einer Werbeagentur in der Reichsstr. 4 gearbeitet, schräg gegenüber. Genau 13 Jahre später war ich auch in dieser Gegend .... zu spät.
Vielleicht haben sie sich im berühmten Wiener Café an der U-Bahn-Haltestelle schon zum Kuchenessen getroffen? Oder zum Sekt, Whisky, Weinbrand? Sie waren beide Biertrinker und haben sich dafür wohl häufiger in seiner Wohngegend getroffen, in seiner Stammkneipe „Dramburg“, heute „Robbengatter“. Für mich beruhigend, dass er kein Torten-Typ war. Seine Leibesfülle ging wohl eher darauf zurück, dass er ein notorischer Stubenhocker war. Sport hätte nicht zu ihm gepasst. Zu mir auch nicht.
Ein Bericht über einen berühmten Dichter muss natürlich mit einem Zitat beendet werden, das er für Krisensituationen ausgegeben hat:
„Sich abfinden und gelegentlich aufs Wasser schauen.“
Wohnt Gott im Wedding ?
Wenn ich ein spannendes Buch lese, hat das oft Folgen. Durch einen Roman von Lars Gustafsson begeisterte ich mich für die Musik von Claudio Monteverdi und ich hörte wochenlang
die Schallplatte mit der Marienvesper. Jahrzehnte später ging ich all die Orte in Berlin ab, die Wolfgang Herrndorf in „Arbeit und Struktur“ beschreibt. Bücher dienen mir nicht
nur zur Information, Inspiration und Unterhaltung. Sie setzen mein Forschungsbedürfnis frei.
Der Titel von Regina Scheers neuem Roman „Gott wohnt im Wedding“ verführt den
bekennenden Berlin-Fan auf der Stelle. Ich spüre ihrer ausgezeichneten stadthistorischen Recherche nach und erfahre die Geschichte des ältesten Mietshauses in der Utrechter Straße. Das
Schicksal des Hauses, das 120 Jahre alt ist und das der Bewohner, speziell aus den letzten 70 Jahren, entfaltet langsam und anhaltend seine Wirkung. Ich lege das Buch aus der Hand und fahre
hin. Das Buch dient als Stadtführer.
Aus der Tram 50 steige ich an den Osram-Höfen aus. Verwobenes Straßengeflecht soll auf mich wirken, ich will nicht in den Straßenplan schauen, die Utrechter Straße wird sich zeigen. Zwischen
Müller-, See- und Reinickendorfer Str. stehe ich dann vor der Kreuzung Utrechter- /Malplaquetstr. Dieser nordfranzösische Ort war mir bis heute unbekannt. Inzwischen weiß ich, dass dort
1709 eine blutige Schlacht im spanischen Erbfolgekrieg stattfand.
Beim Lesen des Buches sehe ich den ehemals roten Wedding, der 13 Jahre während der Nazizeit ziemlich braun war, ganz anders. Es erzählt von den Verstecken in Kellern und auf Dachböden. Hier
fanden Verfolgte Unterschlupf. Einige wohnten dort ihr ganzes Leben lang, für andere war es eine Durchgangsstation. Früher lockten die billigen Mieten in den heruntergekommen Häusern die
Heimatlosen, die Wanderarbeiter aus Ost-Europa an. Menschen mit Transfer-Einkommen mussten sich mit oft unhaltbaren Wohnsituationen begnügen. Inzwischen ist alles durchsaniert, die Investoren
kommen von überall her, genau wie die ehemaligen Bewohner der einstigen Abbruchhäuser. Es wiederholt sich alles und doch ist es nicht dasselbe.
Ich habe durch Regina Scheers kenntnisreiche Schilderung viel über das Leben der Sinti und Roma erfahren, der Menschen ohne Lobby. Mit Feingespür und Sorgfalt fürs Detail hat sie mir
viele interessante Wege gewiesen, die ich noch lange nicht zu Ende gegangen bin. Die Frage, ob Gott im Wedding wohnt, blieb bisher unbeantwortet. Aber ich habe ja noch 200 der insgesamt 417
Seiten vor mir. Mein Lesezeichen liegt jetzt an einer Stelle, an der Leo, ein ehemaliger Bewohner, nach 70 Jahren aus Israel zurückkehrt, um Erbschaftsgeschichten zu regeln. Er hat lange in einem
Kibbuz gearbeitet und schildert seine Erinnerungen. Am liebsten würde ich mich sofort auf den Weg machen..
Prenzlberger Salonkultur
Die Berliner Salonkultur ist nicht mit Rahel Varnhagen oder den Mendelssohns gestorben; sie hat sich gehalten und wird intensiv mit den heutigen Mitteln fortgesetzt. Die
Gastgeber und Teilnehmer haben lediglich andere Namen. Ich hatte das Glück, in der Galerie Amalienhof Ekke Maaß kennenzulernen, der seit 1978 in seiner Wohnung Schönfließer Str.
21 einen literarisch-politischen Salon betreibt. Kunst, Lieder, Zeitzeugenberichte und (Stasi)Akten bestimmen das Geschehen dort. Sein Salon wurde zu einem der wichtigsten Treffpunkte
einer Künstlergeneration, die sich viele Jahre vor dem Mauerfall von der kommunistischen Ideologie und den staatlichen Strukturen der DDR lossagte. Ekke Maaß erzählt gern von den
ausspionierten Sprachspielen, die allesamt aktenkundig wurden, denn wie in einem finsteren Krimi spielte hier der Doppelspion Sascha Anderson jahrelang eine Hauptrolle. Der junge
Schriftsteller aus Weimar verriet den Freundeskreis an die Stasi, ließ sich in Ekkes Salon und Familie nieder, spannte ihm die Frau aus und lebte auf seine Kosten. Filmreif. Der Film
„Anderson“ über diesen Fall erschien 2014. Ich sah ihn im Babylon und wusste damals noch nicht, dass ich vier Jahre später einen Abend in dieser Wohnküche verbringen würde, die komplett im
Studio für diesen Film auf- und abgebaut wurde.
Zu diesen Abenden, die Ekke Maaß veranstaltet, braucht man eine persönliche Einladung. Meisterhaft gespielte spanische Gitarre, Fado-Lieder und russische Gedichte bestimmten mein Erlebnis dort. Alles mit Unterstützung von Käse, Wein und Brot. Eintritt wird nicht erhoben; das große Glas, das später für freiwillige Spenden herumgeht, füllt sich schnell, denn alle sind begeistert von den vortragenden Künstlern. An den Wänden des Salons hängen Bilder von Penck, Cornelia Schleime, Ralf Kerbach, Christine Schlegel und Gerd Sonntag neben Arbeiten von Künstlern aus Litauen, Tatarstan, Georgien und Usbekistan.
Im Hinterhaus gab es damals die Keramikwerkstatt von Wilfriede Maaß, die viele Künstler aus der Szene unterstützte, indem sie Keramik bemalen und verkaufen ließ.
Über die Geschichte des Salons berichtet der Hausherr gern. Er gibt Erklärungen zu den Kunstwerken, bietet Einblicke in Stasiakten und singt Lieder von Goethe, Heine, Brecht, Biermann
und dem Moskauer Dichtersänger Bulat Okudshawa zu Harmonium und Gitarre. Er ist Kaukasus-Spezialist und bietet Reisen mit sachkundiger Führung nach dort an.
Ich bin froh, in einem so interessanten Teil von Berlin zu wohnen und mich immer weiter in die Vergangenheit voranzutasten.
Der Frieden ist blau
Obwohl ich schon seit genau sieben Jahre wieder in Berlin wohne, war dies mein erster
Gottesdienst in der Kaiser-Wilhem-Gedächtnis-Kirche am Zoo. Im deutsch-französischen Rundfunkgottesdienst wurde an das Ende des Ersten Weltkriegs vor hundert Jahren erinnert. Die Gäste der
protestantischen Gemeinde aus Paris zitierten aus Briefen und Tagebüchern der französischen Soldaten. Der deutsch-französische Chor, dem meine Freundin angehört, sang sehr einfühlsam zum Gedenken
an die Opfer des Ersten Weltkriegs und an die um sie Trauernden das „Ubi Caritas“ von Maurice Duruflé.
Durch Predigt, Gebete und Fürbitten wurden auch meine Erinnerungen wach. Klar, auch mein Opa sprach häufig von Verdun, wenn er einen Schnaps zu viel hatte. Mein Vater erlebte den zweiten
Weltkrieg in der Normandie. Frankreich war also häufig Thema in Gesprächen mit Kriegs-Kameraden, die viele Abende bei uns im Wohnzimmer saßen und tranken, wurde nichts Negatives, Ängstliches oder
Trauriges berichtet. Soweit meine Erinnerung.
An diesem Sonntagmorgen musste ich das alles neu überdenken und zu Hause nachlesen, wie es damals war, es ist weit weg.
Die Turmruine der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Kirche ist ein Mahnmal für den Frieden und heute ein Museum. Vom Karlsruher Architektur Professor Egon Eiermann wurde das Berliner Wahrzeichen,
der „Hohle Zahn“, 1961 um einen achteckigen Kirchenraum und einen Glockenturm ergänzt. Aus diesem Glockenturm erklang vor und nach dem Gottesdienst das Friedensläuten – wie zur gleichen Zeit
überall in Frankreich. In diesem Moment schien die Sonne durch das blaue Fenster-Mosaik, Faszination pur. Die vielen kleinen blau-bunten Fenster des französischen Glaskünstlers Gabriele
Loire aus Chartre sollen die Friedensbotschaft ausdrücken: „....nicht mehr lernen, Krieg
zu führen.“ Die Worte des Propheten Jesaja sagen es für den heutigen Tag.
Und für immer, hoffentlich.
Der Weg zum Schloss
Durch die stillen Wohnstraßen des Schlossbezirks in Charlottenburg lohnt sich der Bummel bei mildem Herbstwetter noch immer. Erstaunlich viele Einzelhändler konnten ihre Geschäfte halten, einige
wurden neu eröffnet, andere dafür leider geschlossen.
Genau so ergeht es mir mit den Freunden. Eine zog kürzlich hierher in die Knobelsdorffstraße, eine andere verstarb in der Schusteruhsstraße und ein ein Freund aus der Christstraße zog nach
Karlsruhe. Nur in der Schlossstraße wohnte bisher keiner, den ich kannte, bin aber mit vielen Bekannten und Freunden in den letzten Jahrzehnten hier immer wieder herumspaziert.
Axial zum Kuppelbau des Schlosses verläuft der großzügige Verkehrsweg. Zwei Fahrbahnen und eine mit 4 Baumreihen besetzte Mittelpromenade kennzeichnen den repräsentativen Zugang zum Schloss. Ich
kann mir gut vorstellen, wie der preußische Hofstaat sich auf den Weg machte, um Königin Sophie Charlotte, die Gattin Friedrichs I., zum Tee zu besuchen.
Ich komme natürlich nicht mit der Kutsche, sondern mit der U-Bahn und steige an der Station Sophie-Charlotte-Platz aus. Tee und Torte nehme ich heute mal nicht im Schloss ein, sondern im
Wirtshaus KASTANIE. Stimmung und Gäste sind nicht wie zu Königs Zeiten, eher wie damals im alten West-Berlin. Alle grauhaarig, in die Jahre gekommen, wie ich. Bier und Wein schmecken noch genau
so gut wie einst und die ganz Harten rauchen auch noch immer. Sie sitzen natürlich draußen auf dem Sommergestühl unter der Kastanie; in Decken gehüllt diskutieren sie noch immer über Politik. Auch die Boulespieler, die schon seit Jahrzehnten bei fast jedem Wetter den
Mittelstreifen nutzen, kehren hier ein. Meine Freundin erzählte, dass Boule jeweils in den Schulferien anstatt der Chorprobe des Deutsch-Französischen Chors hier stattfindet. C'est si bon!
Mein Date will ich aber heute nicht in der Kneipe treffen, sondern vor einer Kneipen-Szene; ich bin vor einem Picasso-Gemälde hier in der Schlossstr. verabredet. Berlin hat mehr als 175 Museen, 4
davon allein hier. Schräg gegenüber der KASTANIE gibt es das Heimat-Museum Charlottenburg-Wilmersdorf, die Villa Oppenheim. Mein Ziel liegt aber ganz am Ende der Straße, kurz vor der
Kreuzung zum Spandauer Damm. Die Surrealisten-Sammlung Scharf-Gerstenberg im östlichen Stülerbau ist es nicht und auch nicht das Bröhan-Museum für Jugendstil und Art Déco. Nein, ich entschwebe in
die sehr bevorzugte Sammlung Berggruen und hoffe, dass die „Absinth-Trinker“ von Picasso nicht gerade verliehen sind, denn dann würde mein älterer Freund sich sehr wundern. Es hängt dort, wo es
schon immer hing, und er hat zur Begrüßung Absinth in einem silbernen Flachmann bei sich.
Kunst und Urbanistik
„Wer nach allen Seiten offen ist, kann nicht ganz dicht sein“ , so lautet völlig zu Recht ein schönes Sprichwort. Im Alter sollte man sich nicht dem Neuen verschließen und mutig an der 10.
Berlin- Biennale für zeitgenössische Kunst teilnehmen. Eine kunstkundige Freundin lud mich zu einer Performance an einen Austragungsort in Moabit ein, ins ZK/U: das Zentrum für Kunst
und Urbanistik in der Siemensstraße 27.
Das Motto der Biennale WE DON'T NEED ANOTHER HERO prangt in rosa Lettern am Gartenzaun. Ich lese weiter, dass die zeitgenössische Kunst sich mit den anhaltenden Sorgen und Ängsten der heutigen
Gegenwart auseinandersetzt. Aha! Sie will das „politische Potential von Strategien der Selbsterhaltung“ erkunden und verweist deswegen auf diesen Songtitel von Tina Turner (1985).
The Tony Cokes Remixes, die im Flyer als choreographischer Remix angekündigt sind, finden im dunklen Keller dieses Güterbahnhofs statt. Flackernde Bildschirme mit Textzeilen und 1 Mann und 1 Frau
performen in englischer Sprache und recht gestenreich die Sorgen und Ängste der Gesellschaft....wie so oft ging es eindeutig um Potenzsorgen. An dieser Stelle muss ich zugeben, dass es kaum
etwas gibt, das mich mehr langweilt, und mich überkam die Angst, dass diese Darstellerin sich die spärlichen Klamotten noch ausziehen könnte. Nichts wie weg! Am stützenden Arm der Freundin
flohen wir aus dem dunklen Sorgenkeller der Kunst.
Oben in der Halle des sanierten Güterbahnhofs tobte ein bunter Flohmarkt, der hier „Gütermarkt“ heißt und monatlich stattfindet. Auf der Wiese davor fand ein Fahrrad-Markt statt und auf der Bühne
dahinter griff der Moabiter Willie Nelson in die Saiten und sang dazu: My Heros Have Always Been Cowboys. Vielleicht ist es doch an der Zeit, sich mit den HEROS auseinander zu setzen?
Schönes Thema … Am umlagerten Stand der Stadtfrauen-Küche schafften auch einige wahre HeldInnen die Bestellungen weg.
Ich freue mich, dass ich an einem Sonntagnachmittag, der häufig für Melancholie taugt, einen weiteren Heldenplatz in Berlin kennen gelernt habe, denn das Backsteingemäuer im Stadtgarten zwischen
Westhafen und Beusselstraße wurde bereits 2013 aus Lottomitteln saniert und dient seitdem ca. 10 „Artists in residence“ als Atelier und Wohnung für die Zeit eines Stipendiats. So lernen
Künstler aus vieler Herren Länder diese Stadt kennen. Aber auch Stadtforschern wird die Gelegenheit gegeben, sich zu bewerben, denn ein steter Wandel an diesem unabhängigen Denk- und
Produktionsort ist geradezu erwünscht.
Ob es sich bei den Produktionen um Heldentaten handelt, bleibt abzuwarten. Ich gehöre dann gern zur anderen Gruppe derer, die am Straßenrand stehen und klatschen, wenn die Helden durch Moabit
ziehen!
Boulevard des Nordens ...
.. oder Kudamm des Ostens? Ich finde, beides passt nicht mehr so richtig zur Schönhauser Allee. Die schnurgerade Allee (sie hat wirklich viele Bäume) ist das Rückgrat des Stadtteils Prenzlauer
Berg. Dieser Boulevard ist zu Ost- und West-Zeiten besungen, gemalt, gefilmt worden wie kaum ein anderer. Die berühmte Kreuzung unter der Hochbahnbrücke an der Station Eberswalder Straße fehlt in
keinem Berlin-Krimi, in keinem Werbespot zum Thema Großstadt.
Schon 1957 hatte die Kreuzung einen großen Auftritt im ersten „Halbstarken“-Film der Defa „Ecke Schönhauser“ mit Brecht-Schauspieler (und Schwiegersohn) Ekkehard Schall.
Fünf Straßen führen hier in sechs verschiedene Richtungen, drei Straßenbahnlinien ratten zwischen den Autos, Fahrrädern und Skatern. Oben die U-Bahn, unten die S-Bahn und die unzähligen Autos.
Als Fußgängerin muss ich hier hellwach sein, damit ich die andere Straßenseite lebend erreiche.
Es gab Zeiten, in denen ich mir einen Fußgänger-Orden verdienen wollte, indem ich einmal pro Tag die Schönhauser von Anfang (Torstraße) bis Ende (Wisbyer Str.) ging - auf der einen Seite
runter, auf der anderen wieder rauf. Zur Stadt-Indianerin bin ich nicht mutiert, habe aber in den letzten Jahren mitbekommen, wie Traditionsgeschäfte schlossen und Billig- und Klamottenläden
einzogen. Immer weniger Suppengrün, Damenhüte oder Kinderkleidung, dafür immer mehr Pfennigland, McGeiz und Nagelstudios. Verhungern wird hier niemand, denn die Futterkrippen aller Nationen
stehen dicht an dicht. Turnschuhe und Brillen, Spätis und Änderungsschneider haben Einzug gehalten, doch ein schönes Café suche ich vergebens. Nicht schlimm, denn die Schönhauser hat
Seitenstraßen ohne Ende mit guten Orten für Zerstreuung. Ich werde sie nicht alle beschreiben.... aber die Stargarder Straße mit der Gethsemane-Kirche ist wohl die wichtigste, weil hier, im
Oppositionsviertel, die Keimzelle der Bürgerrechts-Bewegung entstand. Die Kirche war ein von der Stasi überwachter „Sammlungsort“. Das 1893 aus roten Ziegeln gebaute Gotteshaus war gut 100 Jahre
später, am 7. Oktober 1989, der Ort, an dem der Widerstand von der DDR-Volkspolizei niedergeknüppelt wurde. Danach waren die Tage der DDR gezählt. Im Kirchenraum gibt es eine
Dauer-Ausstellung mit Dokumenten und Fotos aus jener Zeit.
Die neue Zeit findet an der nächsten Straßenecke statt, wo ein Szenefriseur seinen betont lässigen Haarschneidesalon HAEDHUNTER nennt. Mir ist bekannt, dass dieses Gewerbe immer auf der Suche
nach witzigen Bezeichnungen ist, um nicht „Friseur“ zu heißen. Jeder Schnitt kostet 20 Euro; Termine gibt es nicht, man zieht eine Marke wie beim Arbeitsamt und wartet, bis die Nummer
aufleuchtet. Ob Kunde und Haarschneider zusammenpassen, ist reine Glückssache. Wichtig ist, dass man die laute Techno-Music aushält und auch sonst gute Nerven hat.
Die gesamten abgeschnittenen Haare werden erst nach 21.00 Uhr zusammengefegt, so dass jeder die Übersicht hat, was da am Tag bei den vielen Kunden runter gekommen ist. Wirklich
ungewöhnlich - aber so soll es ja auch sein.
Vineta
Von der sagenumwobenen Stadt, die mit all ihren Schätzen einst vom Meer verschlungen wurde, ist hier an der U-Bahn-Station Vinetastraße der Linie 2 nichts zu sehen. In diesem Sahara-Sommer denke
ich nur all zu gern an die brausende, geheimnisvolle See, die über öde und trockene Straßen fegt. Fernere Ziele locken mich in diesen Tagen nicht aus der Stube, darum klebe ich am U-Bahnhof vor
meiner Haustür und schaue, ob es in der Nähe etwas Berichtenswertes gibt.
Schon von weitem ist der gelbliche Turm der Evangelischen Hoffnungskirche in der Elas-Brändström-Straße zu sehen. Sie gehört zu den schönsten Jugendstilkirchen der Stadt und ist mit Psalmworten,
die fragen und trösten, über den Portalen geschmückt: „Wen suchet ihr?“ „Gott ist unsere Stärke und Zuversicht“.
Der Innenraum ist farbenfroh und stimmungsvoll gestaltet. Über dem Altar leuchten die güldenen Sterne in einem nachtblauen Himmel, den ich schon bei manchem Konzert bewundert habe. Durch die
Trelleborger- und dann die Vinetastraße geht's unter prächtigen alten Kastanien zurück zum U-Bahnhof. Um in das östliche Viertel zu gelangen, überquere ich die Berliner Straße und passiere
einen fern-östlichen Pavillon mit dem Schriftzug China-Town.
Man erzählt sich, dass hier früher ganz wilde Tanz-Abende stattfanden. Ob heute an der wilden Kreuzung noch eine China-Pfanne angeheizt wird, weiß ich nicht. Ab Mittag sitzen hier eher die
Männer, die das Wenige, das sie essen, lieber trinken. Es wird schon mal laut, aber der Verkehrslärm von der Straße, der Tram, U-Bahn und Bussen schluckt gnädig alle Kritik an der Welt, die
von dieser Insel herüberschallt.
Bis hin zur Schrebergarten.Kolonie „Insel Rügen“ in Richtung Bornholmer Straße sind die Straßen nach versunkenen oder noch existierenden Ostsee-Orten benannt. In unmittelbarer Nähe streife ich
das „Tiroler Viertel“. Ötztal, Dolomiten und Zillertal sind hier keine aufregenden Landschaften mit Bergmassiv und Lawinen, sondern normale, etwas langweilige Wohnstraßen. Am Andreas-Hofer-Platz
biege ich dann ein in die Welt der Diplomatie. In sozialistischen Zeiten waren hier unter anderem die Auslandsvertretungen Brasiliens, Belgiens und der Schweiz. Heute sind in den etwas verloren
wirkenden Villen die Botschaften Eritreas, der Mongolei und Ghanas zu finden. Man erreicht sie über die Stavangerstraße.
Von einem Nachbarn, der schon seit 40 Jahren hier wohnt (ich erst 7) erfahre ich noch ein spannendes Stück Kino-Geschichte. Ein ganz besonderes Pflaster gibt es vor dem Haus Berliner Straße 27
(Höhe Milastraße) zu sehen. Genau hier begannen die Brüder Max und Emil Skladanowski 1895 mit der Vorführung lebender Bilder. Die Geburtsstunde des Kinos in Deutschland war an dieser Stelle im
Lokal „Feldschlösschen“. Das gibt es natürlich nicht mehr und das Kino „Tivoli“ , das später an dieser Stelle war, ist auch längst Vergangenheit.
Dennoch lässt sich der Ort nicht verfehlen. Ein Mosaik-Denkmal ist in den Gehsteig eingelassen. Der schwarzweiße Filmstreifen weist auf diese Pioniertat hin. Die Anregung dafür gab der Verein
„Die ersten 100 Jahre Kino in Berlin“, der den Pankower Künstler Manfred Butzmann mit dem Entwurf beauftragte. Zwischen den Sternen auf dem Pflaster steht „1895 - Bioskop – 1995“, ein Hinweis auf
die Erfindung des kinematografischen Apparats.
Ohne diese Erfindung gäbe es Hollywood nicht. Der wahre „Wall of Fame“ ist also in Pankow.
So viel an einem öden Sommertag
Im Zeichen des Regenbogens
An der U-Bahn-Station Nollendorfplatz bin ich früher nicht oft ausgestiegen.
Darum ist mein Kontakt zur Regenbogenszene nicht ausgeprägt. Heute sind bereits aus der Bahn die vielen bunten Fahnen zu sehen, die von Dächern und aus Fenstern wehen. Falls sie dort schon immer
wehten, sind sie mir nicht aufgefallen.
In der Motz- und in der Maaßenstraße wohnten in den siebziger und achtziger Jahren Freunde, die ich in ihren großen Altbau-Wohnungen mit den den hohen Decken besuchte. Häufig lebten hier in
friedlicher Koexistenz zwei Parteien, die sich die Miete teilten, getrennt durch das blinde „Berliner Zimmer“.
Die schmucken Miethäuser mit den repräsentativen Wohnungen wurden in der Kaiserzeit gebaut, vornehmlich für wohlhabende Bürger, Beamte und Offiziere. Aus dem Ersten Weltkrieg kamen viele
Offiziere nicht zurück. Deren Witwen saßen in den großen Wohnungen und wussten nicht, wie sie die Miete zahlen sollten. So entwickelte sich der Beruf der Pensionswirtin, die meistens im Berliner
Zimmer hinter einem Paravent schlief, denn die 6 oder 7 Zimmer waren vermietet. Der Zins war wöchentlich fällig und sie musste sicher wachsam sein, denn es gab viele flüchtige Mieter. Das Geld
war knapp in dieser Zeit.
Aber es gab auch Gäste, die jahrelang blieben wie Christopher Isherwood (1904 - 1966). Der englische Schriftsteller wohnte im Vorderhaus der Nollendorfstraße 17 in einer Pension von
1929 bis 1933. In der 2. Etage entstanden die Vorlagen zur Verfilmung der großen Berlin-Story der 20er-Jahre: CABARET. Den Film mit Liza Minelli haben wir wohl alle gesehen. (Gibt es eigentlich
irgendwas Berühmtes, das nicht in Berlin entstanden ist?)
Eine Straße weiter logierte eine Ikone meiner Jugend, die berühmteste deutsche Dichterin Else Lasker-Schüler (1869-1945). Sie wohnte von 1924 bis 1933 in einem Dachzimmer des Hotels „Sachsenhof“,
das noch heute so heißt. Nach zwei gescheiterten Ehen, ohne Brot-Beruf, war es für eine alleinerziehende Mutter und Single-Frau unmöglich, eine Wohnung anzumieten. Von ihrer Dichtung konnte sie
den Lebensunterhalt für sich und den kranken Sohn nur knapp bestreiten und lebte wochenlang von Obst und Nüssen. Ein harter Weg in die Freiheit - von Wuppertal nach Berlin.
Kein Zweifel, diese Gegend um den Nollendorfplatz hat schon immer viele bunte Vögel angezogen, die sich hier niederließen. Heute bin ich noch gar nicht weit gekommen und treffe schon wieder so
viel Geschichte!
Unübersehbar, gleich gegenüber der U-Bahn-Station, ist ein riesiger grauer Stein-Palazzo, auf dem ganz oben GOYA steht. 1906 erbaut, war das Gebäude einst das „Theater am Nollendorfplatz“,
heute steht es leer. Hier hatte der berühmte Dramatiker, Intendant und Theaterpädagoge Erwin Piscator (1893 - 1966) seine Heimat. Nach dem 2. Weltkrieg öffnete er in dem Haus seine eigene Bühne
mit 1.100 Plätzen und allen technischen Neuerungen der Zeit. „Hoppla, wir leben“ und „Schweijk“ waren große Erfolge beim Kultur entwöhnten Publikum.
Die Liste der bekannten Personen, die hier wohnten, ist lang, darum schlage ich sie heute gar nicht erst auf, denn: „Life ist a Cabaret“. Meine Freunde sind inzwischen aufs Land gezogen und haben
ihre WGs in ehemalige Bauernhöfe verlegt. Früher hatte ich noch Bekannte, die im LETTE-Verein studierten und Berufe im sozialen Bereich ansteuerten. Aber jetzt sind Semesterferien, niemand ist
rauchend oder Kaffee trinkend im Hof. Neben diesem imponierenden Gebäude aus der Gründerzeit stehen die Nachkriegs-Bau-Sünden aus Beton. Es gibt nichts Harmonisches in dieser Gegend, weder
von der Bebauung noch von der Begegnung aller sozialen Schichten. Mein Ausgangspunkt, der Nollendorfplatz, 1864 einst als typischer Berliner Schmuckplatz angelegt, sollte die Grenze zwischen
Charlottenburg und Schöneberg markieren. Der Name erinnert an Preußens siegreiche Schlacht bei Kulm und Nollendorf ( heute Tschechien).
Keine siegreiche Erinnerung ist die Gedenktafel aus rotem Granit an der Bahnhofsmauer. Der Rosa Winkel war die Kennzeichnung der KZ-Häftlinge, die wegen ihrer Homosexualität dorthin
verschleppt waren.
Das Böhmische Dorf
Wieder mal ein Rendezvous mit der Vergangenheit. Vor über 40 Jahren musste ich für mein Publizistik-Studium an der FU ein dreimonatiges Praktikum bei einer Berliner Tageszeitung nachweisen. Ich
landete bei der „Mottenpost“ (Berliner Morgenpost) in der Lokalredaktion. Dort wurde ich häufig zu Vertriebenverbänden, in die Urania, zu Heimattreffen und auch nach Rixdorf
geschickt.
Eine der ersten PR-Aktionen, um weitere Abonnenten zu gewinnen, war ein Ausflug in das Böhmische Dorf, über den ich auf der Berlin-Seite berichten sollte. Mit meiner Freundin Rena an der
Seite und dem Berliner Lokal-Matador Jule Hammer haben wir den Tag bei Drehorgel-Musik, Buletten, Schultheiss-Bier und vielen Werbe-Einlagen durchgestanden.
Vieles wischt die Zeit ja fort, darum wollte ich heute meine Erinnerungen auffrischen. Mit der Ringbahn fahre ich bis zur Station Sonnenallee (das ist ja schon wieder eine andere Geschichte...).
Hier „oben“ sieht man kein deutsches Geschäft. Friseure, Lebensmittel, Kneipen, Klamotten- und Schmuckläden, alles in arabischer Hand. Straßenkreuzer hupen wie in Kriminalfilmen, Frauen in Burka
huschen über die Fahrbahn. Ich gehe in Richtung Richardplatz und Richardstraße.
Es ist wirklich alles noch am Platze. Kein Wunder, denn das Böhmische Dorf steht unter Denkmalschutz. 1737 wurde es von protestantischen Glaubensflüchtlingen aus Böhmen gegründet. Dort fand
eine Re-Katholisierung statt, deswegen flohen sie an einen Ort, wo man ihnen gewogen war. Die evangelische Freikirche, „Herrnhuter Brüdergemeinde“ war willkommen, die Mitglieder waren
bibeltreu und fleißig, sie hatten gesuchte Berufe wie Weber, Schmiede, Lehrer und Gärtner. Bis heute erinnern Johann-Hus-Weg, der Comenius-Garten oder die Kirchgasse an die stark von
der Religion beeinflussten Zeiten.
Damals vermutete ich hier viel mehr Mystik und traute mich kaum in den Bet-Saal der Baptisten oder in die Bethlehemskirche. Die böhmischen Gehöfte, Kolonistenhäuser, die Straßen, der Friedhof,
die Rixdorfer Schmiede und die beiden Gemeindehäuser sind noch heute in tschechisch und deutsch beschildert. Der ländliche Charakter der Richardstraße geht nun über in großstädtische Bebauung.
Die Passage zwischen Richardstr. und Karl-Marx-Straße ist eine einmalige kulturelle Anlage mit Kino, der NEUKÖLLNER OPER und dem Restaurant Hofperle. Einige Häuser weiter findet sich der
historische Saalbau Neukölln mit dem sehr engagierten Theater Heimathafen Neukölln. Jetzt ist schon das Rathaus Neukölln in Sicht und quirlig kann ich diese Gegend schon gar nicht mehr nennen,
eher hektisch.
Darum gehe ich in aller Ruhe den Weg noch einmal zurück durch das historische Kleinod, um meine Freundin Gabi E. aus der Neuzeit zu treffen. Sie nimmt an einem Kongress im Estrel-Hotel teil und
plötzlich bin ich von 1.400 Bibliothekaren umgeben in diesem utopisch anmutenden Hotel. Vergangenheit und Gegenwart prallen an diesem Tag zusammen.
Wir wollen nicht in dieser modernen Atmosphäre bleiben und gehen zurück in ein Alt-Berliner Restaurant am Richardplatz. Dort gib's Wiener Schnitzel, tschechisches Bier, serviert von einem
serbischen Kellner.
Die neuen Einwanderer sorgen dafür, dass es auch weiterhin heißt: „In Rixdorf ist Musike!"
Die Firma
„Horch und Schleich“
In der Nordwestecke des Ortsteils Mitte hat sich gewaltig was getan. Hier am ehemaligen Todesstreifen, ganz am Ende der Chausseestraße, entsteht ein neuer Stadtteil. Das einstige Ende der Welt wird wiederbelebt. Es werden noch einige Wochen vergehen, bis es hier wirklich losgeht. Zuletzt war ich Anfang 2012 hier, um gegen einen elend langen Bauzaun zu schauen und den Resten der DDR-Vergangenheit nachzuspüren.
Der Abriss des Stadions der Weltjugend an dieser Stelle hatte dem Viertel den Rest gegeben. In diese riesige Brache baute der BND, der Bundesnachrichtendienst (die Firma „Horch und Schleich“), seine neue Zentrale. Was wird eigentlich aus Pullach, wenn die 4000 Spione hierher umziehen? Diese Sorgen muss ich mir natürlich nicht machen, aber ein wenig zu spekulieren, was hier demnächst so passieren wird, ist wohl erlaubt.
Mit dem Kürzel Stasi haben wir uns nun ausreichend beschäftigt, auch ich habe eine Akte aus der Normannenstraße bezogen. Aber was ist nun mit dem BND? Was ist dort über uns gespeichert? Ich werde meine Fragen noch eine Weile zurückhalten müssen, denn die Festung in ihrer luxuriösen Nüchternheit ist noch geschlossen. Keine Tür, kein Gitter lässt sich auch nur einen Zentimeter bewegen, um Einlass in die dreiflügelige Trutzburg zu gewähren. Bis 2019 müssen wir uns wohl noch gedulden. Immerhin ist das Thema „Kunst am Bau“ bereits 2012 abgearbeitet worden. Ich erblicke durchs Gitter eine keilförmige Skulptur aus Stahlblech vom Düsseldorfer Bildhauer Stefan Sous, die 18t schwer sein soll und eine halbe Million gekostet hat. Der Koloss soll das Gesicht des BND werden. Verantwortliche haben es in etwa so formuliert: Wir wollen das Unbekannte aufklären und die eigenen Geheimnisse wahren. So spannend geht es hoffentlich bald weiter.
Doch nicht genug der Kunst: gegenüber des Haupteingangs hat der amerikanische Star-Architekt Daniel Libeskind (Jüdisches Museum) mit seinem Wohnhaus „Sapphire“ Maßstäbe gesetzt. Arm war gestern. 72 Eigentumswohnungen, deren Quadratmeterpreis bei 15000 € liegt. In der neuen Chausseestraße lebt man gehoben und hochpreisig. Bleibt zu hoffen, dass viele Gewerke, die sich nach und nach wieder ansiedeln, von den neuen Bewohnern profitieren. 2000 neue Wohnungen sind hier schon in den Nebenstraßen entstanden, das Viertel erfindet sich gerade neu und weist schon jetzt einen interessanten Mix auf, der sicher noch erweitert wird.
Ich sehe Cafés und kleine Restaurants mit Trendfutter, das Büro des Berliner Jagdvereins, Supermärkte, 2 Boutiquen, einen Herrenschneider, einen Blumenladen, kleine Handwerksbetriebe, einen Limousinen-Service und einige Wellness-Oasen. Ein Comic-Universum hat sich neu angesiedelt und das Ballhaus-Berlin daneben ist geblieben. Irgendwie passt das doch wieder alles zusammen. Agenten-Treffen unter Plastik-Palmen beim 5-Uhr-Tee mit Tisch-Telefon! Und die Comic-Zeichner von nebenan halten das mit ihrem blitzschnellen Stift fest.
Ein Kunst-Erlebnis habe ich sogar an diesem Montagabend überraschenderweise noch am anderen Ende der Straße, in der Kapelle auf dem Dorotheenstädtischen Friedehof: eine Licht-Installation des amerikanischen Künstlers James Turrell. Samstags und Montags ist zur Zeit des Sonnenuntergangs in dieser renovierten Kapelle ein sehr eindrucksvolles, buntes Spekatel zu erleben.
In der Chausseestraße wird wirklich für alles gesorgt.
Gefillte Fisch
Anfang der 90er Jahre entwickelte sich langsam auch im Ostteil der Stadt wieder jüdisches Leben. Die große Neue Synagoge im maurischen Stil wurde fertiggestellt und das Centrum Judaicum wurde eingerichtet, eine ständige Ausstellung zum Thema „Jüdisches Leben in Berlin“. Mein Interesse war geweckt, aber meine Informationsfähigkeit noch nicht weit genug entwickelt, denn ich verwechselte Oranienburger Straße mit Oranienstraße. Eine damals ähnlich lange, graue und trübe Straße, auf der ich vergebens nach der goldglänzenden Kuppel suchte. Das Gebäude, 1866 vom Hofbaurat Friedrich August Stüler vollendet, nachdem Architekt Eduard Knoblauch erkrankte, konnte doch nicht wieder verschwunden sein. Im 2. Weltkrieg wurde sie fast zerstört, aber inzwischen sollte der Wiederaufbau auch für mich sichtbar sein. Ein freundlicher Polizist (!) informierte mich richtig und schickte mich von Kreuzberg nach Mitte in die richtige Straße.
Ich war endlich am Ziel und hatte Hunger. In einem Tagesspiegel-Artikel las ich, dass es hier auch jüdische Restaurants geben sollte. Das große, feine „Oren“ hatte noch geschlossen, aber es gab das ebenfalls neue „Beth-Café“. Am S-Bahnhof/Ecke Tucholskystraße bewundere ich das ehemalige Kaiserliche Postfuhramt. Es war eines der aufwändigsten Bürogebäude seiner Zeit und soll nach kultureller Zwischennutzung der Fotogalerie "c/o - Berlin" wieder eine Firmenrepräsentanz werden. Hier in der Straße lasse ich mich nieder.
Also her mit den neuen Spezialitäten. Der Rotwein vom Berg Carmel war sehr gut, dazu bestellte ich Gefillte Fisch. Ein feststehender Begriff in der jüdischen Küche, aber ich war wieder nicht gut informiert. Hatte eine Vision, die stark von der Wirklichkeit abwich. Ein Fisch war nicht zu sehen. Stattdessen kaltes Karpfen-Mus, zu Kugeln geformt, mit kalten Möhrenscheiben und Dillzweigen dekoriert. Es schmeckte einfach scheußlich und ich konnte gar nicht genug vom Roten trinken, um den Geschmack loszuwerden. Richtig beliebt ist dieses Gericht wohl nicht, aber es gehört einfach in die traditionelle Küche und wird gern zum Sabbath serviert, dann ist es allerdings aus der Dose, weil am Sabbath nicht gearbeitet wird. Von mir gab es dafür keinen Stern.
Inzwischen ist die Oranienburger von der Friedrichstraße bis zum Hackeschen Markt eine „geile Meile“ geworden, wie es neudeutsch heißt. Schräg gegenüber der Synagoge gibt es noch Reste des ehemaligen Kunsthauses TACHELES, ein vor dem Abriss geretteter Gebäudeteil des ehemaligen Kaufhauses Wertheim. Es werden Erinnerungen geweckt an die Ateliers, Galerien, Bars , Lesungen, Konzerte und verrückte Partys, die bis vor einigen Jahren hier stattfanden und dazu beigetragen haben, die Oranienburger Straße wiederzubeleben. Die Künstler sind inzwischen weiter gezogen und haben nicht nur diese riesige Bau-Lücke hinterlassen. Der Tacheles-Geist der Nachwende-Jahre ist verweht.
Neben der Lücke, im Haus Nr. 67, wohnte Alexander von Humboldt von 1842 bis 1859, Bettina von Arnim betrieb nicht weit davon ihren Salon. Ein sehr traditionsreicher Straßenabschnitt. Ich passiere den Monbijou-Park, eigentlich schön zum Ausruhen und Flanieren, aber in der Sommerzeit leider auch ein beliebter Platz für wildes Grillen. Rauchwolken, verbranntes Fleisch, Geschrei und viel Müll. Schnell weiter gehen. Im letzten Drittel gibt es fast nur noch Schuhgeschäfte und auf der anderen Straßenseite ein Restaurant neben dem anderen. Ich würde gern noch mal einkehren und dabei den Wandel dieser Straße überdenken. Currywurst? Zum Syrer? Oder ins „Miami“, American Hamburger essen?
Jedenfalls NIE wieder Gefillte Fisch!
Ein Lieblingsmaler
„Die Papageienallee“ ist ein Bild von Max Liebermann (1847 - 1935) , das in der Bremer Kunsthalle hängt und mich bereits zur Schulzeit beeindruckte. Eine elegante Dame im langen Rock mit
weißer Bluse und Strohhut betrachtet die bunten Vögel in einer Allee. So stellte ich mir meine Oma Mimi vor. 2004 sah ich eine große Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle: „Im Garten von Max
Liebermann“. Mehr als 100 farbenprächtige Gemälde und Pastelle zeigten sommerliche Motive seines Gartens und das Leben am Wannsee.
Seit nunmehr 14 Jahren will ich diesen Garten besuchen. Mein Lebens-Dreieck Bremen-Hamburg-Berlin macht es möglich: Auf nach Wannsee! Vom S-Bahnhof kann ich den Bus 114 nehmen, der
mich direkt zur Liebermann-Villa bringt und auch zum geschichtsträchtigen „Haus der Wannsee-Konferenz“ weiterfährt. Aber das ist ja eine andere Geschichte. Zwischen schönsten Villen, die
zum Teil Ruder- und Segelclubs direkt am See-Ufer beherbergen, erwarb Liebermann 1909 eines der letzten noch unbebauten Grundstücke in der Colomierstraße 3. Leider kann ich nur einige Fotos
von außen machen, denn hier ist dienstags geschlossen. Hätte ich doch mal ins Internet geguckt....egal, ich kann mir vorstellen, wie gern Liebermann hier in seinem „Schloss am See“ die
Sommermonate verbrachte. Hier entstanden zwischen 1914 und 1935 über 200 Gemälde.
Mit dem Bau der schönen Villa klassizistischer Prägung betraute er den Architekten Paul Otto Baumgarten. Den Garten richtete der damalige Direktor der Hamburger Kunsthalle, Alfred Lichtwark, ein.
(In Hamburg-Eppendorf wohnte ich zuletzt Ecke Lichtwarkstraße...) Es gibt einen Bauerngarten mit üppig blühenden Stauden, einen Nutzgarten, eine Blumenterrasse, 3 Heckengärten und eine
große Rasenfläche, die sich bis zum Wannsee-Ufer erstreckt.
Am Gartenzaun befindet sich eine „Berliner Gedenktafel“, die darauf hinweist, dass der große impressionistische Maler aus Protest gegen antisemitische Hetze 1933 alle Ämter
niederlegte. Der Sohn einer wohlhabenden jüdischen Fabrikantenfamilie mit Bilderbuchkarriere war seit 1920 Präsident der Akademie der Künste. Nach der Machtergreifung der Nazis zog er sich
ganz aus der Öffentlichkeit zurück. Zu seinem Begräbnis 1935 traute sich kein Würdenträger der Stadt, nur Freunde und Verwandte gaben im das letzte Geleit zum jüdischen Friedhof an der
Schönhauser Allee - ganz in der Nähe meines jetzigen Wohnortes.
Da über dem Wannsee jetzt ein Gewitter aufzieht, fahre ich zurück „in die Stadt“ , vielleicht habe ich Glück und kann einen Blick in Liebermanns Stadtpalais am Pariser Platz 7 werfen. Hier
in Mitte hat er mit seiner schönen Frau Martha, ebenfalls aus jüdischer Familie, von 1894 bis 1935 gewohnt. Seine Witwe nahm sich 1943 das Leben, um der bevorstehenden Deportation ins KZ
Theresienstadt zu entgehen.
Nach seiner Adresse gefragt, antwortete Max Liebermann mit Berliner Schnauze häufig: „Wenn Se in Berlin reinkommen, gleich links“. Bei Bombenangriffen wurde das Palais neben dem
Brandenburger Tor in Schutt und Asche gelegt. Zu DDR-Zeiten lag das Grundstück im Todesstreifen an der Berliner Mauer. Das jetzige Gebäude wurde 1996/98 von Josef Kleihues in Anlehnung an
das Original errichtet.
Leider ist auch hier alles geschlossen am Dienstag. Zeit genug zum Innehalten und mich an einen Liebermann-Satz voller Sarkasmus zu erinnern.
„Ick kann jar nich so ville fressen, wie ick kotzen möchte“ , kommentierte der Ausnahme-Künstler den Aufmarsch der SA-Truppen am Brandenburger Tor.
Das war
die Stadt von morgen
„In dieser Stadt kenn ich mich aus“... und entdecke sie jeden Tag neu. Am 1. Mai war ich früher auch gern in Kreuzberg, mal mit anderen auf der Demo, mal am Straßenrand. In diesem Jahr habe ich das Hansaviertel wieder entdeckt.
Die Mietskasernen-Bebauung mit den dunklen, engen Hinterhöfen war durch den Krieg zerstört. Auf den freien Flächen hielt die Nachkriegs-Moderne Einzug. Während um 1957 im Ost-Teil der Stadt auf der Stalinallee die Liedzeile „Auferstanden aus Ruinen“ umgesetzt wurde, hieß das Thema in West-Berlin „Interbau“. Berühmte Architekten, Stadt- und Landschaftsplaner wurden eingeladen, ihre Ideen für modernes Wohnen zu verwirklichen.
Im Hansaviertel sollte citynah das Wohnen im Grünen beispielhaft dargestellt werden. Von den vielen berühmten Architekten, die hier bauten, sind mir die Namen von Alvar Aalto, Le Corbusier, Walter Gropius, Max Taut und vor allem Werner Düttmann in Erinnerung. Er baute die Akademie der Künste am Hanseatenweg, die 1960 eingeweiht wurde.
Für mich ist der Ort nach all den Jahren noch immer magisch, weil hier häufig etwas für mich sehr Spezielles stattfand. Einige eindrucksvolle Erlebnisse, die zum Teil 45 Jahre zurückliegen: Meine erste Picasso-Ausstellung, mein erstes Kurzfilm-Festival, das morgens um 4.00 Uhr endete. Nachtwanderung zur Wohnung in Kreuzberg. Meine erste Malewitsch-Ausstellung „Der Sieg über die Sonne“.
Ob es die Arno-Schmidt-Ausstellung war oder die Begegnung mit Mary Bauermeister-Stockhausen bei einem Festival Neuer Musik, das „Besondere“ wurde stets durch diese spezielle Architektur unterstützt.
Das war das überragend Gute an „früher“: Ich ging los und war gespannt auf das, was angeboten wurde. Heute bestimmt die inzwischen erworbene Bildung, ob „man“ sich für dieses oder jenes interessiert.
Im Eingangsbereich gibt es ein Café, das auch feine Weine bereithält. Da an normalen Ausstellungstagen bis 19.00 Uhr geöffnet ist, kann sich der Dämmerschoppen bis dahin ziehen lassen. Der Fußboden innen ist mit Schieferplatten belegt, sehr stilvoll, aber jedesmal, wenn ein Gast den ebenso stilvollen Stahlrohr-Sessel auf dem unebenen Boden bewegt, entsteht ein schrilles Geräusch. Entweder gab es früher andere Stühle oder ich bin noch empfindlicher geworden. Da hilft nur eines: noch mehr Riesling. S- und U-Bahn sind ganz in der Nähe, so dass ich problemlos nach Hause komme, sonst würde es mich hinraffen wie die „Liegende“ von Henry Moore vor dem Akademie-Eingang.
Steine der Erinnerung
So richtig schön kann die Lieblingsstadt ja nicht überall sein. Klar. In solchen Fällen hilft die positive Erinnerung - wie in dieser trostlos scheinenden Gegend zwischen den U-Bahn-Stationen Spichernstraße und Hohenzollernplatz in Wilmersdorf. In der Nikolsburger Straße 11 war die Keimzelle für den Stadthaus-Verlag, auf dessen Website ich mein Berliner Journal veröffentliche.. Hier arbeitete Dieter Lenz den für den Bau-Verlag und hatte den Status, Studentenjobs zu vergeben. Einen davon bekam ich, um das Bafög aufzubessern. Welch ein Glück. Und so begegneten wir uns seit über 50 Jahre immer wieder. In diesem schönen Haus gab es nicht nur den bekannten Fachverlag. Einige Etagen darüber wohnte die berühmte Schauspielerin Edith Clever. Uns war sie aus Bremen bekannt, wo sie unter Kurt Hübner den legendären Ruf des Theaters am Goetheplatz damals mitbegründete. Fast geschlossen ging die Truppe damals nach Berlin, um hier an einem noch berühmteren Theater ins Leben zu arbeiten: der Schaubühne am Halleschen Ufer. Eine Pilgerstätte, in der Edith Clever großartige Rollen hatte. 1971 wurde ihre Tochter Friederike geboren. Friederike wurde Malerin und die Mutter, heute 77 Jahre alt, arbeitet als Regisseurin. Wir erinnern uns an große Bühnen- und Kinomonologe, die der Regisseur Hans-Jürgen Syberberg mit Edith Clever in den 80er Jahren inszenierte, z. B. "Die Nacht", "Penthesilea", "Die Marquise von O." Ich habe immer gehofft, der verehrten Schauspielerin auch einmal dort im Treppenhaus zu begegnen, aber das blieb nur Dieter Lenz vorbehalten.
Beim Verlassen des Hauses ist mir damals nie die prachtvolle Kirche am Hohenzollernplatz aufgefallen, die auf der anderen Straßenseite steht (direkt dem Haus gegenüber). Damals hatte ich wohl keinen Blick dafür, denn meine Kathedralen waren Theater, Uni und Kreuzberger Kneipen. Heute bewundere ich den norddeutschen Backstein-Expressionismus von Fritz Höger, der nicht nur diese Kirche in den 30er Jahren erbaut hat, sondern auch das berühmte Chile-Haus in Hamburg, meiner ersten Heimatstadt. Dieses futuristisch anmutende Kraftwerk Gottes wurde 1990/91 umgebaut. Wie in vielen Kirchen, finden hier inzwischen außer den Gottesdiensten auch Ausstellungen und kulturelle Veranstaltungen vieler Art statt. Für mich ist es das reine Architektur-Museum, das ich zur Besichtigung empfehle. Sicher hat es was zu bedeuten, dass Bauverlag und Sakral-Architektur sich gegenüber lagen. Aber was?
Wenn ich dem ehemaligen Bauverlag und der Kirche den Rücken drehe, stehe ich auch schon sofort vor einem Sünden-Babel. Das Gebäude eines ehemaligen Pumpwerks der Wasserbetriebe wurde zur Party-Location umgebaut. Eine große Brauerei hat die Finger im Spiel und sorgt dafür, dass der Kreislauf der Flüssigkeiten niemals zum Stillstand kommt. Der Name „Wasserwerk“ ist Tarnung für „Bierfabrik“.
Noch einmal Babylon ?
Als ich an der U-Bahn-Haltestelle Klosterstraße (Foto) ausstieg, war es für mich wie die Fortsetzung meines Museumsbesuchs auf den Spuren Nebukadnezars. Umgeben von dekorativen Kacheln mit babylonischen Palmen (Foto) steige ich zum Klosterviertel empor. Hier war im Mittelalter das Zentrum der Stadt.
An den turbulenten Umschlagplatz der Händler und Handwerker erinnert nichts mehr. Alte und neue, riesige Verwaltungsgebäude geben dem Viertel ein eher langweiliges Gesicht. Da fällt eine schöne Jugendstilfassade, wie man sie in Berlin nur noch selten findet, auf: das Bürohaus der Gebr. Tietz (Foto) stammt aus dem Jahr 1904.
Mein Interesse geht aber heute in Richtung Spree, darum überquere ich die verkehrsreiche , unschöne Stralauer Straße, vorbei an der schuppigen Fassade der Berliner Wasserbetriebe, die ihre ausgezeichnete Kantine auch für Nicht-Mitarbeiter öffnen. Hier kann man hinter Schaufensterglas alte Berliner Stadtansichten betrachten. Auf der anderen Straßenseite ist die Moderne Zeit zu bewundern, die imposante niederländische Botschaft, vom Stararchitekten Rem Koolhaas 2004 erbaut. (Fotos) Nach dem Koolhaas-Haus am Checkpoint Charly ist es das zweite Gebäude des mit vielen Preisen ausgezeichneten Rotterdamer Baumeisters.
Noch ein schneller Blick vom Spreeufer hinüber auf das Märkische Museum, den historischen Hafen, die Mühlendammschleuse und die alte Häuserzeile des Märkischen Ufers. (Foto)
Auf einer Brandmauer zwischen den Baustellen dort fand ich dieses Gedicht:
Berlin
Der Morgen ist ein besudeltes Kleid
Eine Seite mit einem Eselsohr
Ein Klecks
Die Stadt
Eine halb abgeschminkte Frau
Doch zuckend bäumt sie sich in den Himmel
Wie ein blaues Pferd von Marc im Luftgeschirr
Berlin
Die Sonne gelb
Bei den Promis von gestern
VIPs bevorzugen Pankow als Wohnort eh und je. Diese Gegend war bei der Parteipro-minenz von gestern und vorgestern beson-ders beliebt. Im Villenviertel Niederschön-hausen wohnten vor dem Krieg
viele Indu-strielle, die von der DDR-Regierung enteig-net wurden. Die Bonzen setzten sich in die schönsten Häuser, vornehmlich am Majakowskiring. Die ovale Ringstraße wurde nach Vladimir
Majakowski (1893 - 1930) benannt. Der „rote Poet“ vertrat den russischen Zweig des Futurismus in der Dichtung. 1922/23 besuchte er mehrmals Berlin und war fasziniert vom KaDeWe.
Der Majakowskiring war zu DDR-Zeiten ein „Städtchen“ in der Stadt, abgeriegelt mit Sperren-Kontrollen und einer Mauer rings herum. Bis 1960 wohnte hier die Parteiprominenz, die später in eine
Waldsiedlung nach Wandlitz im Norden von Berlin umzog, um noch abgeschirmter zu sein.
Die ruhige Ringstraße ist auch heute noch ein beliebter Wohnort. Im denkmalgeschützten Haus Nr. 46-48 wohnt die Schauspielerin Jasmin Tabatabai. Eine große Messingtafel an der Fassade zeigt, dass
hier einst Otto Grotewohl wohnte. Im Haus Nr. 34 lebte Johannes R. Becher, Kulturstaatsminister ab 1954 und Verfasser der DDR-Nationalhymne. „Auferstanden aus Ruinen...“ Eines der
prominentesten Häuser, von dem öfter mal ein Spaziergänger ein Foto macht, ist das das Haus Nr. 58. Hier wohnte Erich Honecker mit seiner ersten Ehefrau. In der Fachwerkvilla schräg
gegenüber lebte Günter Schabowski. Das Haus beherbergte ein Café, aber es ging leider pleite.
Ein edles Gebäude mit zwei korinthischen Säulen am Eingang war das offizielle Gästehaus der DDR. Links und rechts wurden Wirtschaftsdelegationen von weit her untergebracht. Auch an einem
kasachischen Kindergarten mangelte es nicht.
Von urbanem Leben kann hier keine Rede sein. Es ist alles still hier, als wäre niemand zu Hause. Kein Laden, kein Geschäft.. Jede Flasche Wein, jedes Stück Brot und Käse muss aus den
Einkaufszonen hierher geholt werden. Doch wer so teuer wohnt, hat natürlich auch ein Auto.
Ich drehe noch eine Runde und wünsche mir jetzt den legendären Udo Lindenberg-Song zu hören : „Sonderzug nach Pankow“.
1983 wollte Udo mit dem Oberindianer Erich Honecker einen Cognac trinken.
Das hätte Stimmung ins „Städtchen“ gebracht.