Der notarielle Brief mit der Kopie des Testamentes erreichte sie zwei Wochen nach dem Tod des Vaters, da war er schon beerdigt. Schon das kam bei den Söhnen nicht
gut an, aber so richtig empört waren sie über einen Passus im Testament: Sie bekämen das Erbe nur nach der Lektüre des Tagebuchs ihres Vaters.
„Und um sicher zu gehen, dass sie auch wirklich mein Tagebuch lesen, schlage ich zwei Wege vor: Das Tagebuch wird von meiner Frau in Anwesenheit meiner Söhne
verlesen. Oder sie einigen sich mit ihr auf eine andere Lösung.“
Das lehnten sie kategorisch ab. Darauf ihre Mutter: „Gefühle dürfen bei einer Immobilie keine Rolle spielen.“ Und nach einem Moment der Stille: „Vielleicht rechnete
er sogar mit eurer Ablehnung, damit sie das Haus bekommt.“
Worauf Jens, der Ältere, in seiner Haltung zu wanken begann.
Friedrich dagegen verzichtete lieber auf das Haus als lesen zu müssen, wie der Alte die Zeit mit seiner neuen Frau verbracht hätte.
Darauf habe er wahrhaftig keinen Bock.
Und außerdem: in der Provinz sei ein Haus sowieso nichts wert.
„Es ist doch nicht Stockholm oder?“
Nein, es war in Småland, wo die Familie regelmäßig ihre Sommerferien verbracht hatte, bis die Mutter eines Tages entschied, zukünftig lieber nach Spanien zu fahren,
der garantierten Sonne wegen. Der Vater blieb dem schwedischen Ferienort treu. Drei Jahre später ließen sich die Eltern scheiden, der Vater wanderte nach Schweden aus, Mutter und Söhne blieben in
Hamburg. Nur einmal hörten sie von ihm: als er sich mit einer Schwedin verheiratete.
Über drei Wochen ließen sie verstreichen, dann schrieb Jens der Witwe auf einem seiner Geschäftsbriefe, er könne nur allein kommen, sein Bruder sei
gegenwärtig gesundheitlich dazu nicht in der Lage. Er würde das Tagebuch vor Ort lesen und anschließend für seinen Bruder nach Hause mitnehmen.
Die Antwort kam postwendend auf einer Karte in einer schwungvollen Schrift und in einwandfreiem Deutsch: Einverstanden. Und sollte er abends eintreffen, würde sie
alle Zimmer zur Straßenseite beleuchtet lassen, damit er das Haus sofort fände.
Er packte nicht viel in sein Auto, er rechnete mit einem kurzen Aufenthalt. Vor der Abfahrt versicherte er seinm Bruder und seiner Mutter, er würde das Lesen des
Tagebuchs von der Qualität der Immobilie abhängig machen. Sei sie wertlos, käme er noch am selben Tag zurück.
Nachdem er in Malmö die Fähre verlassen hatte, fuhr er über fast leere Straßen, das war merkwürdig. Er schaltete das Autoradio an. Eine Reportage aus einem
Fußballstadion. Richtig, das war's: Fußballweltmeisterschaft in Deutschland. Gerade spielten in Berlin Schweden und Paraguay um den Aufstieg ins Achtelfinale. Er ließ das Radio nach einem
Musiksender suchen. Nichts. Doch dann..
Eine Frauenstimme mit einem schwedischen Lied. Obwohl er kein Wort verstand, spürte er, was sie sang. Die Frau hatte vieles hinter sich, vielleicht sogar das
meiste. Egal, sie verlangte noch etwas, ja, sie forderte es kraftvoll und klar. Doch dann ein Zittern, ein Zögern in der Stimme. Sie zweifelte. Vielleicht war es zu spät? Aus Sehnsucht wurde
Wehmut. Die Stimme zog sich in den Bauch der Gitarre zurück. Doch auf einmal sprang sie heraus, schwang sich in die Höhe, sie jubelte. Was war geschehen? Sieht sie etwas? Kommt da
jemand?
Na klar, er. Er fährt ja geradewegs auf sie zu. Gleich hinter der Kurve wird er sie sehen, sie steht mitten auf der Straße.
Hinter der Kurve war das Lied zu Ende. Und die Straße leer.
Rechts und links verschmolzen die Bäume zu dunklen Wänden. Darüber ein blasser Himmelstreifen wie eine Schlange, die dem Wagen voraus züngelte und wie ein Wegweiser
ihm den Weg wies. Ein fantastisches Bild, das er schon als Kind gehabt hatte.
Wenig später streiften die Scheinwerfer das Schild mit dem gesuchten Dorfnamen. Ein paar weit verstreute Häuser mit einzelnen erleuchteten Fenstern.
Dann ein Haus auf einem Hang mit Licht in allen Fenstern. Sie hat es getan, dachte er, sie hat es tatsächlich getan. Er war angekommen. Mit ausgestreckter Hand trat
sie ihm entgegen.
Eine kleine, zierliche Person in einem blauen, hochgeschlossenen Kleid. Dunkelbraune Augen unter schwarzen, dichten Braunbögen. Das schwarze, lockige Haar im Nacken
hochgebunden.
Und wie seine Mutter prophezeit hatte: bestimmt zwanzig Jahre jünger.
„Willkommen,“ sagte sie.
Er berührte ihre Fingerspitzen. Heimlich musterte er den Raum.
„Ich danke Ihnen für die Beleuchtung und dass Sie Deutsch mit mir sprechen.”
Sie lächelte.
„Kein Problem. Ich lernte Deutsch in der Schule. Außerdem sprach es mein Vater. Und dann, natürlich, dein Vater, obwohl er es vorzog, Schwedisch zu sprechen. Ein
komisches Schwedisch war das, ein deutsches Schwedisch. Wir mussten oft lachen.“
Wie zur Bestätigung lachte sie, aber angestrengt und kurz.
„Und bitte sag nicht Sie.“ Ihre Stimme wurde fester. „Wir duzen uns in Schweden. Es hat nicht viel zu bedeuten, macht aber vieles leichter. Hast du
Hunger?“
„Nein, danke.”
Die Größe der Diele beeindruckte ihn. Wie groß mögen die Zimmer sein?
Sie lachte auf, diesmal ...