Willy, steh auf!
Ja, es sind schlimme Zeiten.
Gerade jetzt brauchen wir Redner, die uns aufmuntern, die uns den Weg in die Zukunft zeigen. Mitreißende Redner, leidenschaftliche, begeisternde Redner, deren Worte
die Herzen höher schlagen und die Augen leuchten lassen – und nicht weiter ins Tal der Tränen führen.
Einmal gab es in Deutschland einen solchen Redner.
Hier ein Auszug aus einer seiner Reden.
„Für J.F. Kennedy und seinen Bruder Robert gab es ein Schlüsselwort, in dem sich ihre politische Leidenschaft sammelte (...). Dieses Wort heißt ‚Compassion‘:
Die Übersetzung ist nicht einfach ‚Mitleid‘, sondern die richtige Übersetzung ist die Bereitschaft mitzuleiden, die Fähigkeit, barmherzig zu sein, ein Herz für den anderen zu haben. Liebe
Freunde, ich sage es Ihnen und ich sage es den Bürgerinnen und Bürgern unseres Volkes, habt
doch den Mut zu dieser Art Mitleid! Habt den Mut zur Barmherzigkeit! Habt den Mut zum Nächsten! Besinnt euch auf diese so oft verschütteten Werte! Findet zu euch
selbst!“
Jetzt raten Sie mal, wer das gesagt hat. Ja, Willy Brandt war das 1972 auf dem
SPD-Parteitag . Politiker der CDU/CSU und der FDP reden über Flüchtlinge und Migranten in unserem Land, als seien sie der Untergang Deutschlands. Wobei die FDP die sozial Schwachen gleich dazu
packt.
Eine Partei, die schon lange Untergangsstimmung verbreitet, freut sich darüber. Was die anderen Parteien fordern, hat sie ja schon immer gefordert. Und so findet
sie immer größere Zustimmung und Zulauf. Sie ist sich sicher: ihre große Zeit wird kommen. Sie braucht nur abzuwarten.
Doch Hatten wir nicht schon mal eine große Zeit?
Hierzu ein Schlusswort von Willy Brandt:
"Die Zukunft wird nicht gemeistert von denen, die am Vergangenen kleben."
Ach, Willy... Steh auf!
Der fremde Verwandte
Geh leise durch dein Heimatland,
sie dürfen dich nicht sehn.
Du gehst mit einem Hand in Hand,
dem sie schon Stricke drehn.
Er hat die Augen ganz wie sie,
die Nase und den Mund,
und stößt er sich einmal das Knie,
so wird's wie ihres wund.
Ich seh da keinen Unterschied,
wir sind mit ihm verwandt.
Wenn einer etwas andres sieht,
hat er sich nicht erkannt.
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Und zu lesen im Lesetheater
Das Erbe
Was sie uns hinterließen,
sind keine Heldentaten
und keine Blumenwiesen,
es ist mit Schuld beladen.
Muss ich das Erbe nennen,
dann flüster ich es leise.
Doch laut will ich bekennen,
solang ich Deutscher heiße:
Lebendig sind die Toten!
Und werden ewig mahnen:
Geht nicht mit den Verrohten!
Seid nicht wie eure Ahnen!
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Zukunft
Die Zukunftsfrage
Wollen wir uns eigentlich entwickeln? Fühlen wir uns nicht bestens in dieser Mischung aus Urzeit und Zukunft? Mit den Füßen im Schlamm, mit dem Kopf unter Sternen, ein Kreuzung aus Raubtier und Träumer.
Am Ende geht es uns nur um den Spaß. In wenigen Sekunden können von einer Gestalt in eine andere wechseln, von einem Ort zum anderen. Und dennoch: aller Fortschritt, alle Erfindungen brachten uns nur der Trägheit, der Bequemlichkeit näher, so zu bleiben, wie wir schon vor Tausenden Jahren waren, mit einer kleinen Frage: Was wäre wenn..
Was wäre, wenn wir uns wirklich höher entwickelten?
Bitte schön, ja. Aber nur soweit, dass wir uns dabei nicht ändern müssen.
Der Mensch
Ihm sind irdische Beschwerden
aufgesetzt als Dornenkron
und er träumt, erlöst zu werden
durch den ungebornen Sohn.
Viel zu früh ist er geboren
und die Wehen quälen ihn.
Seine Träume treiben Sporen
zu den fernsten Zeiten hin..
Traumzeit
Einst liebte er den Klang
der Glocken seiner Dome.
Jetzt lauscht er dem Gesang
der tanzenden Atome.
Des Nachts im Unruhfrieden
gibt er sich Träumen hin.
Und wo’s nicht reicht, dem Müden,
da nimmt er Kokain.
Und wenn der Tag sich zeigt,
ist er der Umgekehrte,
der aus der Traumflut steigt,
das neue Kind der Erde.
Der „gegenderte“ Mann
Kaum hatte ich meinen Reisepass in Händen, sah ich es: Bei Geschlecht stand ein F für „Feminin". Noch am selben Tag war ich beim Bürgeramt. Der Beamte nahm
mürrisch meinen Pass, las, sah mich an, las noch mal, dann sagte er streng:
„Sie haben gegendert!“
„Pardon“, erwiderte ich höflich, „Wie meinen Sie das?“
„Sie haben Ihr Geschlecht gewechselt. Wie-so?!“
„Hören Sie, das Wort Gendern bezieht sich nur auf eine neue Schreibweise.“
„Belehren Sie mich nicht über Orthographie!“
„Und zweitens: ich bin schon immer männlich! Seit meiner Geburt!“
„Und das?“ Der Mann drehte den Monitor zu mir und sah mich grimmig an. „Was ist das? Ist da auf Ihrem Online-Antrag ein F angekreuzt oder nicht?“
„Da hab ich mich wohl geirrt, pardon."
„Wie kann man sich bei seinem Geschlecht irren?“
In diesem Moment sagte eine sanfte Frauenstimme: „Um was geht es?“
Es war die Abteilungsleiterin. Ihr sonniges Lächeln erhellte das Zimmer.
In diesem Moment sagte eine sanfte Frauenstimme: „Um was geht es?“
Es war die Abteilungsleiterin. Ihr sonniges Lächeln erhellte das Zimmer.
Der Beamte brummte: „Er hat ein F im Pass und behauptet, ein Mann zu sein.“
„Geben Sie mir den Pass", sagte sie „Ich kümmer mich um den Kunden.“
„Kunde“ sagte sie. Ich war erleichtert. Wahrscheinlich war alles bloß eine Kostenfrage.
Sie nahm den Pass und mich beim Arm.
Und dann saß ich vor ihrem Schreibtisch. Sie sah sich den Reisepass an, sah mich an, wieder den Reisepass, wieder mich.
Und dann flüsterte sie: „Ich verstehe Sie.“
Ich flüsterte: „Danke!“
Sie lächelte
„Sie sind ein Mann.".
Ich nickte.
Sie schwieg einen Moment, dann sagte sie: „Und das schon seit 40 Jahren. Wie bewundernswert! Hören Sie, ich sag Ihnen was. Ein Fehler ist nicht immer ein
Fehler. Manchmal meldet sich da das Unterbewusstsein und zeigt, was man wirklich will. Man nennt es eine freudsche Fehlleistung. Und glauben Sie mir, das hier sagt ganz deutlich ‚Ich will eine
Frau sein‘. Geben Sie es einfach zu, es wird Sie erleichtern. Natürlich, wenn Sie darauf bestehen, korrigieren wir Ihren Reisepass. Aber meinen Sie nicht auch, es so stehen zu lassen, ist die
bessere Lösung für beide Seiten? Sie erfüllen sich Ihren geheimen Wunsch und wir hängen bloß ein 'a' an Ihren Vornamen Johann, damit ist die Sache erledigt. Denken Sie darüber
nach.“
Sie reichte mir den Reisepass und ich versprach, darüber nachzudenken.
Auf dem Heimweg erinnerte ich mich, wie ich in meiner Jugend davon träumte, auf einer Insel unter vielen Frauen zu sein. Ich gebe zu, den Traum habe ich manchmal
heute noch.
Ich holte meinen Reisepass heraus, sah ihn an. Eine Welle von Vorfreude erfasste mich.
Johanna… Johanna.. Das wäre auch endlich die Frau, die mich richtig versteht.
Der Eisbär und ich
Beim Fußball im Fernsehn lässt mich alles andere kalt. Selbst wenn die Welt unterginge. Und ich will auch nicht gestört werden. Denn genau dann fällt ein Tor. Als
sich meine Freundin zum dritten Mal vor den Fernseher stellte, fragte ich sie, ob ihr Vater Glaser sei? Das kapierte sie.
Nach dem Spiel rief ich nach einem Bier. Keine Antwort. Sehr seltsam. Ich ging in die Küche und musste feststellen: Sie war weg. Einfach so. Dabei fing der Abend
doch erst an.
Und dann Türklingeln.
Sehr gut, dachte ich, hat eine Pizza geholt.
Von wegen. Da stand ein Eisbär.
„Lass mich rein!“ brummte er.
Der Bär sprach! Wieder so ein Spaß von meinen Kumpels. Der Kerl im Bärenkostüm fläzte sich aufs Sofa und sagte:
„Wann kommt das Fressen?“
„Harry, du Fresssack“, sagte ich, „ich reiß dir den Kopf ab.“
Da hob er die Tatze - und die war so was von echt. Und die Schnauze… so was von Zähnen!
„Keine Angst“, kam's brummig, „ich beiß nicht, will hier nur wohnen. Am Nordpol ist's mir zu
warm. Deine Freundin hat gesagt, bei dir würde ich mich wohl fühlen, so kalt bist du. Also, was gibt's zu fressen?“
„Nichts!“ knurrte ich.
Er tappte in der Wohnung herum, hielt den Kühlschrank wohl für eine Eisscholle. Bevor er ihn zertrümmerte, öffnete ich die Tür. Danach war der Kühlschrank
leer.
Gut, dachte ich, jetzt ist Schluss mit der Gastfreundschaft. Und ich ignorierte ihn, zusätzlich gab's eine Portion eisiges Schweigen. Nach einer Weile schnurrte der Eisbär wie eine Katze: „Wie behaglich es hier ist!“
Ich griff zum letzten Mittel, rief die Polizei an, und machte sie aufmerksam auf einen Eisbärenüberfall in meiner Wohnung. Man drohte mir mit einer Anzeige. So eine
Polizei möchte man nicht zum Freund und Helfer haben.
Ich dachte nach. Da fiel mir was ein.
Wegen des Ärgers war mir heiß geworden, ich zog mich aus, drückte mich an den Eisbären und flüsterte: „Mein Lieber! Noch Wünsche?“
Erst rückte er etwas von mir ab, dann sah mich tieftraurig an. und machte sich davon.. Tags darauf, bei den Fernsehnachrichten, konnte ich es nicht glauben. Da saß
der Bär neben einem Politiker, der war nichts Besonders, aber eiskalt gegen Flüchtlinge. Er gab eine Pressekonferenz. Und da sagte er, indem er auf den Eisbären zeigte, er hätte einen
Klimaexperten mitgebracht, der könne bestätigen, es gäbe gar keinen Klimawandel, nicht mal am Nordpol.
Wie man so sagt: Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Gilt wohl auch unter Eisbären.
Und dann schickte ich eine SMS an meine Freundin:
„Bitte, Liebling, komm zurück! Ich bin jetzt wärmer als der Nordpol.“
Wenig später verschwanden modische Kleider aus dem Angebot und die Roboter fielen auf, besser als die Menschen gekleidet zu sein. Das reichte. Man erließ das Verifizierungs-Gesetz. Ab sofort muss jeder, der ein Geschäft oder Unternehmen betritt, sich als Mensch verifizieren.
Gott sei Dank geht das unbürokratisch. Am Gebäudeeingang ist eine Kamera mit integrierten Sensoren montiert. Vor ihr
muss ein Mensch sich verifizieren. Man muss etwas tun, was kein Roboter nachmachen kann. Ich zum Beispiel strecke meine Zunge heraus.
Andere bohren sich in der Nase, ziehen mit den Fingern ihren Mund in die Breite oder hauchen die Kamera an. Seltsamerweise gibt es Menschen, die verifizieren sich
mit einem Nadelstich in den Finger und zeigen stolz den Blutstropfen.
Manchmal gibt es auch Missverständnisse. Kürzlich ließ ein Mann seine Hosen runter. Man nahm ihn fest wegen Erregung
öffentliche Ärgernisses. Dabei hätte es für ihn genügt, in den Sensor der Kamera zu hauchen. Der Mann war betrunken.
Ich finde die Verifizierung großartig. Ich überlege, ob ich neben meiner Wohnungstür eine entsprechende Kamera anbringe. Ich bin schon zweimal von Robotern
bestohlen worden, die sich als Servicepersonal ausgaben. Sie klauten mir mein Smartphone. Das ist auch schon anderen passiert. Man vermutet, die Roboter könnten aus den gespeicherten Videos
typisches menschliches Verhalten extrahieren, um damit die Verifizierungskameras zu hacken. Im Ernst. Das ist doch unmöglich.
Oder etwa nicht?
Aus: Kurzgeschichten