...angesichts dieser märchenhaften
Szenerie – des Meeres, der Berge,
der Wolken, des weiten Himmels –
dachte Gurow daran, dass im Grun-
de, wenn man es recht überlege,
alles in dieser Welt schön sei, alles,
mit Ausnahme dessen, was wir
selbst denken und tun, wenn wir die
höheren Ziele des Daseins, wenn wir
unsere menschliche Würde ver-
gessen.
A.P.Tschechow in der Erzählung „Die Dame
mit dem Hündchen"
Zu hören im Radio Podcast
Nachrichten aus der Zukunft
Eilmeldung vom 16.8.2038, 11.00
Eine Gruppe von über 800 interationaler
Wissenschaftler ist mit einem alar-
mierenden Bericht an die Öffentlichkeit
getreten.
Mit Hilfe der KI haben sie in der Natur
einen Selbszerstörungsmechanismus
entdeckt. Dieser kann durch den
Klimawandel ausgelöst werden. Daher
wird an alle Regierungen appelliert,
nun endlich die längst geplanten
Maßnahmen zu ergreifen.
Auf die große Gruppe von Menschen,
die den Klimawandel für eine Lüge hält,
dürfe man nicht mehr Rücksicht
nehmen. Das Beste wäre, sie auf dem
Mond anzusiedeln, wo es garantiert
keinen Klimawandel gibt.
Dazu eine weitere Meldung: Aus Krei-
sen der UNO wurde bekannt, dass sich
Unbekannte in ihr Archiv eingehackt
und den Zugriff auf sämtliche Daten
unseres Planeten blockiert haben. Die
Daten sind für die in der Zukunft
geplante Besiedlung des Mars
notwendig. Es liegt eine Forderung der
Hacker vor, das Wirtschaftswachstum
zum Schutz unseres Planeten zu
beenden. Andernfalls würden sie die
Daten vernichten. Wie es heißt, handelt
es sich bei den Hackern um eine
Gruppe, die sich "Söhne undTöchter der
Erde" nennt und die Ausplünderung
unseres Planeten stoppen will.
Führende Kreise der Wirtschaft halten
das für einen üblen Trick. Nach ihrer
Überzeugung wollen fortschrittfeindli-
che Elemente eine Diktatur der Gleich-
heit errichten.
Die UNO zeigt sich zu Verhandlungen
bereit.
Über die weitere Entwicklung informie-
ren wir Sie in den nächsten Nachrichten.
Der große Kaufrausch
Auf einem Trödelmarkt suchte ich einen
Stand mit gebrauchten Büchern. Da hörte
ich eine wilde Stimme. Es war ein Mann
und obwohl es Sommer war, trug er einen
dicken braunen Kapuzenmantel, er schrie
wie ein Besessener.
„Vergesst, was ihr wisst! Es ist alles an-
ders! Das Universum ist zuusammenge-
kauftes Zeug! Irgendeiner kauft dauernd
im außerirdischen Internet ein. Geht ein
Stern am Himmel kaputt, kauft er dafür
gleich zwei neue. Und gibt es was Neues
im Angebot, muss er es haben. Auch ihr
Menschen seid bloß gekaufte Ware, aber
eine alte. Ihr langweilt ihn. Er braucht
Neues! Darum kauft er jetzt Roboter und
lauter kleine digitale Albert Einsteins.
Schaut euch um, sie sind schon da!
Ja, den da oben hat ein richtiger Kauf-
rausch gepackt, ihr werdet sehen, die Erde
platzt noch vor Überfüllung. Euer Ende ist
nahe! Ich allein kann euch retten, ich lege
für euch bei dem großen Konsumenten
ein gutes Wort ein. Tausend Euro, das
sollte euch die Rettung wert sein, mindes-
tens. Also her damit!“
Keiner hörte ihm zu, schließlich wurde er
davon gejagt.
Dann kam ein Sturm auf. Die Marktstände
flogen weg, ebenso die Hausdächer,
Bäume kippten um. Dann kam eine Flut
und riss die Menschen mit sich.
Hätten sie doch die tausend Euro bezahlt.
Ich drückte sie ihm in die Hand und wurde
gerettet. Jetzt sitze ich allein auf einem
unbekannten Planeten. Das reinste Para-
dies. Ich bin nackt, es ist so warm, ich
brauche keine Kleider.
Gerade sah ich eine unbekleidete Frau
vorüberhuschen.
Nicht möglich.. Oder geht es schon wieder
los?
Außerirdischer Besuch
Ich wollte den Planeten,
der „Erde“ heißt, mal sehn.
Hab gestern ihn betreten,
er sei, sagt man, sehr schön.
Man sagt, dort lässt sich's leben
für Wesen aller Art
und in den Lüften schweben
Geschöpfe fein und zart.
Und Blumen, Bäume, Meere,
voll Duft sind sie und rein.
Man kann dort, wie ich höre,
nur froh und glücklich sein.
Doch dann stieß ich auf Plätze,
da sprießt kein einzges Gras,
und Menschen voller Hetze
die atmen Luft aus Gas.
Und überall ein Dröhnen,
dort schlägt man Menschen tot,
und andre hör ich Stöhnen
in ihrer Hungersnot.
Ich glaube gar, dem Leben
gibt man hier keinen Wert.
Muss auf mich Obacht geben,
noch bin ich unversehrt.
Milliarden Menschen leiden,
Begreife nicht, warum.
Ich will nicht länger bleiben.
Ich bin doch nicht so dumm.
Ich flieg in andre Welten,
die Erde preis ich nicht.
Wo Menschen gar nichts gelten,
da üb ich gern Verzicht.
Verse auf der Kachelwand / Zukunft
Ohne Tempolimit
Keine Lust auf Wartezeiten!
Wir sind nach dem Neuen wild,
wollen uns ein Fest bereiten,
das von Luxus überquillt.
Und wir schlittern auf der Milchstraß
fröhlich hin im Tempowahn,
sausen dann als Pixelfraß
in den Rachen vom WLAN.
Deutsches
Kleine Biografie
Dies ist meine Vergangenheit:
Auschwitz,
West-Berlin.
Nicht dass mein Fuß
Auschwitz je berührte,
doch berührte
mich Auschwitz ganz
und ließ sich
in meinem
Schatten
nieder.
West-Berlin
war Sturm und Morgen,
Sonnenaufgang zu jeder Stunde.
Dann
griff das Leben mich,
gab mich
dem Lachen der Kinder,
der Umarmung der Frau.
Heute taste ich mich durch Wörter
zum Anfang aller Dinge.
Und finde ein Kind,
das meinen Namen trägt.
Verse auf der Kachelwand/Deutsches
Deutsche Eiche
Ach du deutsche Eiche!
Was für eine Seuche
hat dich so versaut?
Statt den Stolz der Reife
zeigst du auf dem Leibe
braune Pockenhaut!
Und die Blätter wimmern.
Eine Flut von Spinnern
wälzt sich ran wie Schlamm.
Muss ich euch erinnern?
Spechte, ihr müsst zimmern!
Sonst bricht noch der Stamm.
Hörspiel Der gelbe Stern Auszug (Schluss):
THERAPEUT: Hören Sie zu. Da draußen ist die
Vergangenheit Ihres Vaters! Und Sie sind kein Wurm!
Stellen Sie sich auf die Seite der Bedrohten! Bestimmt
ist darunter jemand wie das Mädchen auf dem Foto.
MANN: Ja! Ich verstehe, ich verstehe! Sie haben Recht.
Ich werde es tun. Und Sie?
THERAPEUT: Wieso? Ich hab doch keine Probleme... Halt,
nehmen Sie das Buch mit!
Lesen / Hören Radio Podcast
Das Erbe
Was sie uns hinterließen,
sind keine Heldentaten,
sind keine Blumenwiesen,
es ist ein großer Schaden.
Muss ich das Erbe nennen,
sag ich es schamvoll leise.
Doch will ich laut bekennen,
solang ich Deutscher heiße:
Wir sind gemacht aus Toten
und hört, was sie uns mahnen:
Helft den vom Krieg Bedrohten!
Seid anders als die Ahnen!
Was ich
möchte
Möcht von einem Juden
in den Schlaf gesungen werden..
Das wär der Wind
mit einem Lied
aus Holz und Stein.
Das wäre Schnee
zur Mittsommernacht.
Hasen laufen sich
sich blutige Pfoten
zwischen Kugeln und Dornen..
Das wär mein Traum
mit vertrautem Gesicht
und er spricht: Weißt du noch?
Und ich weiß, ich weiß.
Das wär der Schrei
des Glases beim Atmen.
Und ich gäb ihm dafür
mein Herz,
damit es bricht.
Freut euch des Lebens!
Früher Morgen
Auf Fensterscheiben tropft es nieder,
es ist der Todesschweiß der Nacht.
Noch einmal glüht sie auf im Fieber,
ihr Atem weht, es ist vollbracht.
Und dann geschieht am Himmel droben
auf goldnem Gong ein leiser Schlag,
und wie ein Junkie unter Drogen
steigt still herab der junge Tag.
Ich hab mich in den dunklen Stunden
ins Licht zu gehen nicht getraut.
Mir ist, als wär ich jetzt entbunden
von einer abgenutzten Haut.
Es regt sich Leben im Gebeine.
Ich sag zum jungen Tag kokett:
„Die Tür ist auf... Wir sind alleine.
Was willst du noch? Komm mit ins Bett.“
Gleich am ersten Tag – ich machte Ferien in meiner schwedischen Hütte – kam mein Freund Gunnar mit einem blank geschälten, wie eine Wünschelrute geformten Ast
und sagte, damit könne ich Wasser oder Frauen suchen, aber wegen des Sees in der Nähe sei Wassersuchen wohl nicht nötig.
Nachdem er mir den halben Kuchen aufgegessen und drei Tassen Kaffee getrunken hatte, ging er mit dem Versprechen, mir morgen etwas Besonderes zu zeigen: die
Dänengräber am Bolmen. Sie stammen aus der Zeit vor 300 Jahren, als die Dänen Südschweden bis nach Småland besetzt hatten, wogegen sich die Småländer heftig wehrten.
Er kam mit Axt und Säge. Und so radelten wir los. Eine knappe Stunde später kamen wir an. Unter hohen Eichen sah ich zehn längliche Hügel, auf ihnen Gesträuch und
einige mannshohe Birken.
„An die Arbeit! Wenn nichts getan wird, wächst hier alles zu. Eine Schande ist das. Also los, du gamla Indian!“
Damit meinte er mich, aber ich fand, ein Indianer würde bestimmt lieber etwas anderes tun, als Grünzeug aus der Erde zu reißen.
Plötzlich legte er sich rücklings auf einen der Hügel und murmelte: „Was für ein schöner Platz, zum Sterben.“ Innerhalb von einer Minute war er eingeschlafen
Es war ein sonniger Tag, vom nahen See kam leichter Wind, die Lichttrauben im Eichengewölb zitterten. Und während ich die Gräber von allerlei Gestrüpp befreite,
dachte ich: Er fing ausgeflogene Bienenvölker ein, er veredelte Apfelbäume, zog in einem aus Abrissfenstern errichteten Treibhaus Tomaten und Weintrauben und ließ sich von einer Bremse in den Arm
stechen und sah ihr wohlwollend zu, wie sich ihr Körper mit Blut auffüllte. Nie fuhr er über eine Ameisenstraße, sondern stieg vom Rad und trug es hinüber und bevor er ein Küken hob, hauchte er
seine Hände an.
Er behauptete, dass die Sonne mindestens einmal am Tag für jeden Menschen ganz allein scheine, man müsse nur aufpassen, damit man den Moment mitbekomme. Er
jedenfalls verpasse keinen. Und weil das wohl so gut klappte, stellte er sich abends oft auf die Haustreppe, sah hinauf zum Berg, wo die Sonne unterging, und rief übers Dorf und über den
ganzen Erdkreis: „Livet är härligt!“
Er ist schon seit ein paar Jahren tot, ich wohne in einem Dorf nahe Berlin. Ich habe von meinem Fenster einen Blick auf ein paar Kiefern, gerade sehe ich, wie die
Sonne die Stämme kupfern leuchten lässt und da ertönt fern eine schwedisch singende Stimme: „Das Leben ist herrlich!“
Und für einen Moment ist das Leben ganz allein bei mir.
Der Apfelbaum
Er steht so allein
und tut mir leid.
Viel wird nicht mehr sein
von seiner Zeit.
Vernarbte Wunden
sind da am Stamm.
Die Äste geschunden,
am Fuß hat er Schwamm.
Und seine Gestalt
so abgemüht...
Gott ja, er ist alt.
Doch seht, wie er blüht.
Eine schwedische Radtour
Einmal machte ich mich auf eine Radtour. Ich mag die kleinen småländischen Häuschen, versteckt hinter Bäumen, oder am Straßenrand mit einem Vorgarten, in dem zwischen den Blumen ausgesuchte Feldsteine liegen.
An diesem Tag hatte ich Pech. Nach einer halben Stunde spürte ich Rumpeln. Der Reifen des Hinterrades hatte Luft verloren, ich musste ihn aufpumpen.. Schon stoppte
ein Wagen und der Fahrer fragte, ob er helfen könne.
Ich sagte: „Nej tack! Ich muss nur ein bisschen Luft pumpen.“
Er nickte lächelnd und fuhr weiter.
Nach etwa 5 Kilometer das Gleiche noch mal. Also her mit der Handpumpe.. Ein rutschiges Bremsen auf der Sandstraße. Der bärtige Bauer in seinem Pick-Up
bot mir an, mich mit dem Rad nachhause zu fahren. Ich dankte und sagte, ich müsste nur ein wenig Luft nachpumpen.
„Dann ist es ja gut“, sagte er, er grüßte mit der Hand und fuhr davon.
Als beim dritten Mal ein Wagen hielt, diesmal mit einem Pärchen das lauten Beat hörte, und ich mich zweimal bedanken musste, bis sie mich verstanden hatten,
beschloss ich, jetzt nur noch im Wald das Rad aufzupumpen. Die Hilfsbereitschaft der Schweden ständig ablehnen zu müssen, ist peinlich.
Also schob ich beim nächsten Mal das Rad zum Aufpumpen in einen Waldweg. Plötzlich taucht in zehn Meter Entfernung ein Wildschwein auf. Wir starrten uns an. Sicherheitshalber stellte ich mich hinter das Fahrrad. Dann verschwand das Wildschwein so lautlos, wie es gekommen war.
Kaum hatte ich das Rad an eine Kiefer gelehnt, kam ein Mann mit geschulterter Flinte aus dem Dickicht. und sagte: „Du willst doch wohl nicht das Rad hier abstellen?
Ein Wald ist kein Müllplatz.“
„Nein“, sagte ich. „Ich muss doch mit dem Rad noch nachhause kommen. Oder steht da auf der Straße ein Auto?“
Er warf einen Blick zur Straße.
„Jaso“, sagte er, „du hast kein Auto.“
„Doch, ich hab eins“, sagte ich, „Ich bin Deutscher, mache Ferien, und das Auto steht bei meiner Hütte.“
„Jaso.“ Schweigen. „Und warum bist du mit dem Rad im Wald?“
„Damit man mich beim Aufpumpen keiner sieht“, sagte ich.
Die Augen des Mannes sagten: „Diese Deutschen! Versteh sie einer.“
Dann sagte er: „ Lass mal sehen.“ Er presste den Daumen gegen den Reifen. „Ja, da muss was rein. Gib mir die Pumpe.“ Er gab ein
paar Luftstöße ins Rad und sagte: „Jetzt kannst du nach Stockholm
fahren.“
„Ich will aber nur nachhause.“
„Jaha, gute Idee. Stockholm wäre wohl zu weit.“
Ich schob das Rad auf die Straße. Er ging hinterher und sah mir beim Davonradeln nach.
Bald darauf musste ich das Rad einen Hügel hinauf schieben, von dort kam mir ein Auto entgegen und hielt. Die Frau am Steuer kurbelte das Fenster runter und
rief: „Hast du das Tier gesehen?“
Tier? Achja, das Wildschwein! „Ja, das hab ich", sagte ich, stellte das Rad ab, ging hinüber und berichtete, wo und wie ich das Wildschwein
gesehen hatte. Die Frau sah mich verblüfft an. Hatte sie mich nicht verstanden? Ich fing noch mal an zu erzählen, da machte sie ein Gesicht, als hätte sie genug davon, kurbelte das Fenster
hoch und fuhr davon. Am nächsten Tag las ich in der Zeitung, dass man in unserer Gegend einen Wolf gesehen hatte.
Auf dem Heimweg - die letzten zwei Kilometer ging ich neben dem Rad her - stand Abendgold in den Baumkronen und als ich aus dem Wald trat, brannte über meiner
Hütte das Rot, das im Kasperletheater den Teufel ankündigt.
Nej, tack, dachte ich, bitte nicht! Es reicht.