Umschlaggrafik: Artur Märchen
Vorwort
Man denke nur Sekunden lang darüber nach, warum der nichtberliner Leser von Alfred Döblins ,,Berlin Alexanderplatz" mit einem ganz anderen Reichtum an Gefühlen diese Stadt betritt ais jemand, der das Buch nicht kennt. Döblin, mit dem Ferment seiner Worte, eröffnete unserer Psyche weite Realitätskomplexe. Genauso habe ich nach dem Lesen seiner Prosa-Gedichte (mit einer Ausnahme: 'Polarisierung') neue Empfindungen für ihren Schöpfer Dieter Lenz entwickelt: er ist einer von denen, die im heutigen Berlin die Realität unsres komplexen Lebens derart in Worte fassen, dass wir Einsichten, Einblicke in die Psyche jener bekommen, die bescheiden von sich als „am Rande“ stehend sprechen, während sie - in historischer Sicht - das Zentrum unserer Ansprüche, menschlich sein und menschlich leben zu wollen, mit dem Wort verteidigen. Zugegeben, Lenz arbeitet wie ein Pointillist. Er überlässt es dem Leser, die Bezüge zwischen Punkt und Punkt herzustellen. Das - wie bei den Malern der gleichen Stilrichtung - erreicht man durch ein Abstandnehmen vom Text. Dann entsteht nicht nur, wie die fest auf die Urlauberlandkarte eingezeichnete Bahnlinie Bahnhof Zoo - Bahnhof Malmö, eine Linie als Fluchtpunkt aus dem berliner Alltag. Hingegen erkennt man den radikalen Wert dieser Bewegung fort von Berlin und hin zu Berlin, denn ein Segment Wirklichkeit tritt plastisch und neu hervor. Die „Verkopftheit“ politischer Berlin-Argumente wird sensibilisiert, wird auf uns, die von der Natur hervorgebrachten Evolutionsgeschöpfe, zurückgeholt. Dazu gehört neben sprachlicher Genauigkeit auch Mut. Und deshalb und unbesehen, dass mich eine langjährige Freundschaft mit Dieter Lenz verbindet, gratuliere ich ihm zu seinen neuen Gedichten.
Arno
Reinfrank, August 1976
EINE KLEINE BLINDHEIt (Auswahl)
____________________________________________________________________________________
Appell an die UNO
Lasst uns für den Menschen
eine Schonzeit beschließen!
Sehr wird er gejagt.
Der glücklich Überlebende
schwitzt Blut
unter den Füßen.
Sagen wir: Im Mai,
wenn Mütter die Kleinen
das Gehen im Freien lehren,
ist das Jagen des Menschen
verboten.
Bedenkt: Was wären wir
ohne uns!
Ausgerottet,
langweilten wir uns
vielleicht zu Tode.
Auch dass
noch Menschen
in Zukunft
unsrer Jagdgeschichte
gedenken :
Beschließ, UNO,
eine Schonzeit
des Menschen.
____________________________________________________________
Winter in Neukölln
Der Himmel tippt
kreuz und quer
Buchstaben,
schreibt auf Straßen
tröstliche Geschichten.
Meines Fenster gelber Vorhang
riecht nach Bienenwachs.
In der Wohnung unter uns
rüttelt wer am Ofenrost.
Nicht mehr lange
und die Asche
mischt sich in den Schnee,
der vom Himmel fällt.
Die Geschichten werden schmutzig.
Meiner Pfeife Rauch
kräuselt sich am Vorhang.
Bald riecht er nach Teer.
Langsam formen
Schnee und Rauch
zwei Wörterzeilen:
Sich behaglich einzurichten,
heißt heut, Schaden anzurichten.
Und ich höre Brecht verändert:
Nur wer in Zerstörung lebt,
lebt angenehm.
____________________________________________________________
Staub auf Brecht
Mein Bücherbrett
verstaubt. Auf Brecht
liegt Asche
vom Kachelofen.
Wie ich das Buch
sauber klopfe,
fällt mir ein,
dass ich seit Jahren.
nicht mehr darin las.
Es ist seitdem
nicht schlechter
geworden.
Wenn der Staub nichts
ändert an der Qualität,
warum quält mich
der Staub?
Nicht mehr ins Innre forschend,
bin ich, dem Äußeren verhaftet,
selber Staub.
Eingedenk des Bibelwortes,
dass Staub die Toten sind,
beginne ich zu lesen.
____________________________________________________________
Blumenstadt West-Berlin
Das Meer der Blumen,
in dem wir waten!
Kein Markttag
ohne Tulpenüberschwemmung!
Und sonntags entblößen
tausend Automaten
ihre Zähne: Nelken
in Klarsichtverpackung.
Bröckelnde Fassaden
recken Balkon-Kinnladen
mit blumig geschmückten Bärten.
Mit Widerwillen
betrete ich den Blumenladen.
Der Friedhofsduft
verfolgt mich in den Schlaf.
____________________________________________________________
Trainingsprogramm
Der Mensch lässt wachsen
Städte,
Straßen
und Fabriken.
Für sie gibt er
sich jede Mühe.
Wie er sich anstrengt,
es ist zum Nutzen
der Städte,
der Fabriken,
der Straßen und Pisten.
Bald ist der Mensch
zur Marsbesiedlung
geeignet.
____________________________________________________________
Die Wortgewaltigen
Die den Hass verbergen
treffen tödlich
mit gewählten Worten.
Jene gar, die Gott
im Herzen tragen,
tragen im Mund
des Fremden
Vernichtung.
Friedfertig scheinen, die
nur dem Gelde dienen, doch
nah besehen wollen sie,
dass man ihrem Gelde diene.
Gespräche auf Deutsch
sind wie Schritte
auf glattem Parkett.
Seit ich von Bäumen sprach,
lauern sie
auf meine nächste Blöße.
Wie ist die Luft
jenseits der Menschen?
Es heißt,
dort herrschen die Bäume.
____________________________________________________________
Ein Straßenspaziergang am Samstag
Sind die Friedhöfe
überfüllt,
dass ihr die Toten
an Straßenränder
betten müsst?
So dachte ich.
Auch setzte mich die Art
der Bestattung
in Erstaunen.
Wie Grabstein an Grabstein
ein Auto nah dem andern.
Der Begrabten Beine
ragten in den Weg.
Behutsam ging ich,
sah mit Wehmut
die blankgeputzten Schuhe:
letzter Liebesdienst
der Mütter und Ehefrauen.
Manches Bein
bebte noch
von der Qual des Sterbens.
Oder fraßen
die Toten an den Autos?
Rechts und links
häuften sich
Eisenteile, Schrauben,
Bleche und
öldurchtränkte Tücher.
Durch die Stadt
geht ein nagendes Verwesen,
und keiner ist,
euch zu beweinen!
Brach vom Flieder Blütendolden,
legte sie zu Füßen eines Toten.
,,Ein Bierchen, Süßer,
wär mir lieber ...“
plötzlich eine Stimme brummte.
Knapp erreichte ich die Wohnung.
Wie salopp
heute
die Vampire sprechen!
____________________________________________________________
Natur 1
In den Flug des Blinkers,
den Schnabel weit,
schoss die Möwe,
da, mit hellem Flatterlaut,
und sich überschlagend,
bog sie ab.
Silbern fiel
das Metall
weit vom Boot
in den See.
Spät kam ich nach Haus -
und der Kescher leer.
Doch noch heute schmeck ich
eines Möwenaugenblicks
Schreck und Glück
auf meiner Zunge.
____________________________________________________________
Natur 2
Als ich den mühsam
geangelten Barsch
entschuppe, spreizt
er noch einmal das Maul
und schreit.
Seine roten Flossen
beben in den Fichtenreusen,
sein Auge, schwarz
mit goldnem Ring,
ist der Mond.
Und dieser Himmel
aus grünem Zitronat:
Wann endlich fällt ein Stück
für mich ab?
Ich nehme Abschied vom See.
Sein ruhlos beweger Mund
träumt
einen schlummernden Vogel.
Weiß der Weg
in der schwarzen Landschaft.
Am Boden liegt das Salz
mit dem Geschmack der Sonne.
____________________________________________________________
Schwedischer Sommer
Auf dm Feld
die Einsamkeit des Mannes.
Wie er sich nieder bückt,
haucht ihn sein Körper an.
Am Ahorn schaukeln Blätter,
als schlügen große Vögel
friedvoll mit den Flügeln.
Hummeln, Kohlenstücke,
an zwei Stellen mondgelb glühend,
nippen an den Akeleien.
Dicht am Himmel
treibt das Vogelhaus
mit dem Birkenstamm
im Wind.
Scharten in der Luft:
Schwalbenpfiffe.
Und die grüne Perlenwolke
dort im See, wo
das Ruder eintaucht.
Wellen ziehn im Abendlicht
ihr Goldnetz
über den Grund.
Ich entleere meine Augen
in die Handvoll Schlaf.
Meines Lebens Reichtum
wächst um einen Tag.
Altern nennt ihr es.
____________________________________________________________
Begegnung
Der Sonne, nicht
dem Fahrscheinautomaten,
schnippte ich das Markstück zu:
He, warum so allein?
Ließ die U-Bahn sausen
und spazierte ins Büro.
Blieb dann stehn
vor einem Busch.
Seine schmalen Blätter:
Lippen, lässig schwebend
und verstohlen lächelnd
Zog sie mit dem Zweig zu mir,
sah sie lange an.
Die Begegnung
war voll Zärtlichkeit
und Verwunderung.
Daß ein ungeschriebenes Gesetz
in der U-Bahn fordert:
Blicke sind in Zeitung nur
oder in das Nichts zu richten ...
Und nähm ich gar
eines Menschen Hand
wie den Zweig ...
Was fällt dir ein!
(Der Entrüstungsschrei
lässt die U-Bahn stolpern.)
Es ist ein Mensch!
Es ist das Glück des Busches,
kein Mensch zu sein,
denk ich im Weitergehn.
Und welch ein Glück für mich,
Büschen zu begegnen.
____________________________________________________________
Leben in Literatur
Leben in Literatur
ist ein langer Aufenthalt
in der Sonne. Dörrobst
sind meine Gedanken, die ich
pflücke. (Geduldig wartete ich
auf die Reife. Wie es scheint,
wartete ich zu lange? )
Mein Vater will, dass ich Kishon lese,
Günter rät: lies Von der Grün.
Eika spricht begeistert
von einer DDR-Dichterin
(eine Schande, sie nicht
zu kennen) und in der Zeitung steht,
dass Walser und Krolow
und 14 weitere Dichter
auch gute Leser sind.
Die mir wohl wollen
halten meinen Kopf
für den Käfig eines Tieres,
das mit Wörtern
leicht zu füttern ist.
Ich mache zwei Schritte
durchs Zimmer.
Ich sehe, wie die Nacht
Blattschatten wirft ans Fenster.
Ich rieche Barbaras Strohhut.
Ich möchte gern ein Stück
Käsekuchen essen.
Und ich höre Frauenlachen.
Wer von euch Dichtern
hilft mir
beim Gehen durchs Zimmer?
____________________________________________________________
Einem Bodenspekulanten
So freu dich: Wenn du tot bist,
dann hast du mehr als genug.
(Wenn wir tot sind:
vermehren wir nicht die Erde?
So, dass unser Tod
die Erde wachsen lässt,
wie unser Leben
sie verkleinert?)
Dann schenken Spötter
drei Handvoll Erde dir,
der gierte
nach Grundbesitz.
Und der doch selber Erde war
mit Heimweh ein Leben lang.