Hörspiel für 5 Stimmen
THERAPEUT
MANN / KLAUS
ANNA
VATER von Klaus
THERAPEUT: Sie sollten täglich mit der U-Bahn zu fahren. Wie war's?
MANN: Besser, als ich dachte. Nur einmal ein Schweißausbruch, da kam ein Pulk Hertha-Fans herein.
THERAPEUT: Na, da würde auch ich nervös werden. Was haben Sie da? Ein Buch? Darf ich mal sehen?
MANN: Gleich.. Dazu muss ich Ihnen was sagen. Ich krame in der letzten Zeit in alten Sachen. Ich miste aus, sozusagen. Was sollen die Leute mit dem alten Zeug, wenn man tot ist. Eigentlich
sollte man sich leicht davon trennen können, das ist ja alles Vergangenheit und nutzlos. Aber dann... Plötzlich hat man was in der Hand und es ist wie eine Türklinke, man drückt aus Gewohnheit
darauf, die Tür geht auf.. Ich rede heute viel. Entschuldigen Sie.
THERAPEUT: Was ist mit dem Buch?
MANN: Das Buch, richtig. Ich schlug es auf an einer Stelle… nein, es ging fast von selbst auf. Da ist es wohl schon sehr oft geöffnet worden. Und dann erkannte ich es. Dieses
Foto...(Pause) Das war eine Überraschung, ja... Ich erinnerte mich. Ich war noch ganz jung... Wie soll ich das erklären? Dass ich bei Menschen einen Schweißausbruch bekomme, als erwarte
mich eine Prüfung, der ich nicht gewachsen bin... Ich glaube, das Buch ist daran schuld.
THERAPEUT: Ich behandle Sie seit einem Jahr und das sagen Sie mir erst heute.
MANN: Ja, richtig, Sie fragten mich, ob ich nicht irgend etwas erlebt hätte, das die Ursache meines Problems sein könnte. Ich wusste keines. Mein Leben war normal. Doch jetzt…Seit ich das
Buch fand.. Da ist ein Foto, das muss ich mir immer wieder ansehen.
THERAPEUT: Es fasziniert Sie?
MANN: Faszinieren! Das Foto ist ungeheuerlich! Faszinieren.. Bei diesem Buch! Unmöglich. Ich wünschte, ich könnte es einfach wegstellen zu allen anderen Büchern. Aber ich muss wissen,
warum das Foto mich so berührt. Es lässt mich einfach nicht los..
THERAPEUT: Darf ich das Buch mal sehen?
MANN: Natürlich, hier. Es ist ein Bildband. Sehen Sie sich das Titelbild an!
THERAPEUT: Ein Ehepaar, Mann und Frau tragen einen gelben Stern. mit Reisegepäck... Ein kleiner Junge an ihrer Seite….
MANN: Auch der hat einen gelben Stern, sehen Sie genau hin! Seine Jacke ist so hell, das macht den Stern blass... Haben Sie Reisegepäck gesagt?
THERAPEUT: Ja.
MANN: Alle drei sind auf dem Weg zu einem Sammelplatz! Von dort geht es nach Auschwitz.
THERAPEUT: Das ist aus dem Bild nicht zu ersehen.
MANN: Das sollten Sie eigentlich wissen.
THERAPEUT: Reden wir doch von Ihnen.
MANN: Gut. Ich war 16, da bekam ich das Buch von einem Schulfreund. Er tat sehr geheimnisvoll, als wäre es etwas Verbotenes.. Schauen Sie mal rein. (Man hört das Aufklappen des Buches) Sehen Sie. Auch Sie öffnen es an der Stelle. Da geht es fast von alleine auf. Ich erinnere mich. Das Foto auf der
rechten Seite, das ließ mich nicht mehr los.
THERAPEUT (nach einer kleinen Pause): Ja, was sehen Sie darin? Ich sehe eine Gruppe Zivilisten, begleitet von Wehrmachtssoldaten.
MANN: Begleiten? O Gott, wann sind Sie geboren?
THERAPEUT: 1974.
MANN: Sie haben keine Ahnung.
THERAPEUT: Pardon. Ich lese erst jetzt die Bildunterschrift. "Die Straßen des Ghettos waren voll dichten, beißenden Qualm.“
MANN: Es ist das Warschauer Ghetto, nach dem Aufstand. Es brennt.
THERAPEUT: Dann sind das also Juden.
MANN: Jetzt schockiert Sie das Bild. Ja, das tut es. Und ich war 16, viel empfindlicher als Sie heute! Als ich es zum ersten Mal sah, muss mit mir was passiert sein. Aber was? Und wieso
gerade dieses Bild? Sie machen doch auch Hypnose. Versetzen Sie mich in den Moment, als ich das Foto zum ersten Mal sah. Da muss etwas passiert sein.
THERAPEUT: Das mach ich nur bei Trauma-Patienten. Sie haben eine Verhaltensstörung.
MANN: Entschuldigen Sie. Mein ganzes Leben war eine Verhaltensstörung!
THERAPEUT: Gut. Reden wir darüber. Wie war das damals.. mit 16. Anfang der 60er, nehme ich an.
MANN: Ja,. Das war 1962. Wir hatten gerade eine Neubauwohnung bezogen. Meine Eltern kauften sich den ersten Kühlschrank, dann die erste Waschmaschine, bald kam ein Fernseher dazu. Ich
bekam einen Plattenspieler. Mein Vater schaffte sich einen Opel an. Elvis Presley, Rock‘n Roll und Mädchen... Mein Gott, jetzt fällt es mir ein. Sehen Sie das Mädchen auf dem Foto in der ersten
Reihe?
THERAPEUT: Eine junge Frau.
MANN: Nein, sehen Sie doch, wie unschuldig sie ist. Bitte, lassen Sie mich noch mal einen Blick darauf werfen. (Man hört seinen Atem, während er das
Bild ansieht) Nein. Sie hat sich nicht verändert.
THERAPEUT: Natürlich. Es ist ein Foto.
MANN: Ein Foto... Ich sagte schon, Sie haben keine Ahnung! Seltsam. Sie lächelt noch immer.
THERAPEUT: Lächelt? Wie kommen Sie darauf. Sie sieht überhaupt nicht her, sie sieht zu Boden.
MANN: Sie lächelt, aber ich soll es nicht sehen. Verstehen Sie?
THERAPEUT: Nein.
MANN: Ich steh nämlich am Straßenrand..
THERAPEUT: Wirklich? Ich sehe nur das Foto.
MANN: Und fühlen nichts?.. Dieses Mädchen ist voller Leben. Wie sie geht, so stolz, und wie ihre Schenkel bei jedem Schritt gegen den Mantel schlagen!
THERAPEUT: Übrigens, es ist eine junge Frau.
MANN: Sie ist höchstens 18. Sie hat bestimmt noch nicht die erste Liebe erlebt!
THERAPEUT: Wie kommen Sie darauf?
MANN: Da war etwas zwischen uns, schon beim ersten Augenblick.. Ja doch! Lächeln Sie nicht!
THERAPEUT: Das tu ich nicht. Ich glaube Ihnen.
MANN: Also dann.. Versetzen Sie mich zurück! War ich in sie verliebt? Ist das möglich?
THERAPEUT: Ich brauch Sie gar nicht zurück zu versetzen, Sie sind ja schon wieder 16.
MANN: Spotten Sie nicht! Ist denn dieser Gedanke so abwegig?
THERAPEUT: Also gut. Versuchen wir es. Aber seien Sie nicht enttäuscht, wenn Sie womöglich etwas ganz anderes erfahren.
MANN: Ich habe keine Angst.
THERAPEUT: Na schön, fangen wir an. Bitte legen Sie sich hin. Ganz locker.. Sehen Sie den Stift an, sehen Sie auf die Spitze.. Sie werden müde, sehr müde, die Augen fallen zu. Sie sinken.
Immer tiefer.. Da sind Sie! In Ihrer Wohnung! 16 Jahre alt. Es ist die Zeit des Wirtschaftswunders, Ihr Vater hat einen Opel, der Kühlschrank ist gefüllt. Sie haben ein Buch, Ihr
Schulfreund hat es Ihnen gegeben. Ein Bildband. er heißt „Der gelbe Stern“. Sie schlagen das Buch auf... blättern .. da sind Fotos. Schlimme Fotos. (schweres Atmen). Sie lassen das Buch
sinken. Sie beruhigen sich. Sie atmen ruhig. Sie fühlen sich besser. Sie nehmen das Buch wieder auf, Sie blättern darin. Und jetzt sind Sie bei dem Bild. „Der Marsch zum Umschlagplatz“ steht
darunter. Und: Die Straßen des Ghettos waren voll dichtem, beißenden Qualm. Haben Sie es? Gut. Sehen Sie es sich an.
MANN: Ja, ich sehe ... Dahinten ist der Himmel schwarz. Und diese Menschen. Eine Gruppe von Menschen.. Männer, Frauen, ein Kind... Die Männer mit erhobenen Händen.. Da, an der Seite, ein
Soldat mit Gewehr.. (Man hört die schleifenden Schritte auf dem Pflaster) Ein deutscher Landser. Ich kenne diese Uniform. Er grinst, ja, er
grinst.. Und da.. In der ersten Reihe links, ganz außen, so nah, dass ich sie greifen könnte .. ein Mädchen. Eingehakt mit einer alten Frau. An sie drängt sich ein Kind.. Warum schaut das Mädchen
zu Boden? Will sie mich nicht sehen? Bitte, schau mich an!
ANNA (während das Geräusch der schleifenden Füße bleibt): Ich weiß, dass du da bist.. Zu deinem Schutz schau ich dich nicht an.
KLAUS: Zu meinem Schutz?
ANNA: Sie würden glauben, du gehörst zu uns.
KLAUS: Ich werde mitgehen.
ANNA: Wie heißt du?
KLAUS: Klaus. Und du?
ANNA: Anna. Reden wir leise, sie sollen es nicht hören. Wie hast du mich gefunden?
KLAUS: Du bist in einem Buch. Auf einem Foto. Du gehst mit anderen. Soldaten bewachen euch.
ANNA: Vielleicht haben sie Angst vor uns... Du hast da ein Buch, sagst du. Erzähl mir davon.
KLAUS: Das meiste sind Fotos. Und das hier.. Ich muss dich immer wieder ansehen. Wie du gehst! Bei jedem Schritt schlägt dein Knie deinen Mantel nach oben.
ANNA: So geh ich immer. Was ist seltsam daran?
KLAUS: Die Umstände!
ANNA: Ich sagte doch, ich geh immer so. Wo bist du?
KLAUS: In meinem Zimmer.
ANNA: Beschreib es mir.
KLAUS: Die Zimmertür ist links von mir.. Wenn ich vom Buch aufsehe, sehe ich das Fenster. Es geht in den Garten.
ANNA: Mach es auf, bitte.
(Öffnen eines Fensters, Vogelgezwitscher)
ANNA: Da, das war ein Buchfink... Und jetzt.. wie schön...eine Amsel. Was siehst du?
KLAUS: Einen Fliederbusch. Fünf oder vier Meter von hier.
ANNA: Blüht er?
KLAUS: Ja, es ist Mai.
ANNA: Und der Himmel? Wie sieht er aus?
KLAUS: Blau, ein paar Wolken. Da fliegt ein Flugzeug..
ANNA: Ein Bomber?
KLAUS: Nein, wieso.. Es ist doch Frieden. (Plötzlich Schreie, Befehle: Zurück! Zurück! Schüsse.. Wieder schleifende Schritte) Was ist passiert?
ANNA: Da wollte einer weg.. Kann ich noch mal die Vögel hören. (Vogelgezwitscher) Ja, jetzt spür ich es auch. Es ist Frühling. Die Nächte sind Klavierstücke.
KLAUS: Wie kannst du jetzt so was sagen!
ANNA: Es ist doch Frühling. Es gibt immer einen Frühling. Das kann keiner verhindern, auch die hier nicht. Übrigens, die da in den Uniformen. Wie ausgetrocknet sie aussehen, die sind
tot.
KLAUS: Die Uniformen kenne ich. Das sind deutsche Soldaten. Und der, der auf eurer linken Seite mitläuft, das Gewehr unterm Arm, siehst du? Er guckt zu mir rüber. Sein Mund ist schief...
Das ist...das ist mein Vater! Ja, das ist er. Der schiefe Mund, so verspottet er mich. So lacht er mich immer aus. Wahrscheinlich weiß er, dass ich jetzt nichts machen werde. Aber er wird sich
wundern! Ich schrei, er soll euch gehen lassen. Und dass er ein Mörder ist, wenn er es nicht tut. Und alle sollen es hören!
ANNA: Schrei nicht. Das hilft nichts. Möge er nicht dein Vater sein! Schau nicht mehr hin.
KLAUS: Er grinst!
ANNA: Sag etwas. Ich höre dir zu. (Stille) Du sagst nichts. Was ist passiert?
KLAUS: Dieser Soldat mit dem Gewehr. Ich bin fast sicher.. Ja. Es ist mein Vater! Ich muss mit ihm reden.
ANNA: Versuch es.
KLAUS: Er muss euch frei lassen. Sofort! (ruft) Vati! Vati! Lass sie frei! Die haben nichts getan! Die sind alle unschuldig. Und das Mädchen ist meine Freundin! (Schleifende
Schritte, Normalton) Er grinst.
ANNA Vergiss ihn.
KLAUS: Aber ich muss doch was tun.
ANNA: Du tust ja schon was, du siehst mich an, du redest mit mir. Hör nicht auf
damit. Ich weiß, du bist aus der Zukunft. Der Gedanke macht mich froh. Es gibt also eine Zukunft. Und die Zukunft ist gut, sie spricht durch dich zu mir.. Sohn dieses Mannes. Denke daran: Er
gehört zu den Toten. Aber du bist das Leben und ich lebe mit dir.
KLAUS: Nein, nein.. Sprich nicht so! Nicht so! Du musst schreien! Und so dass sich alle die Ohren zuhalten müssen. Das da sind Mörder!
Mörder! Zeig deine Wut, deinen Hass, dein Entsetzen, deine Angst.. Du hast doch Angst! (schreit) So wehr dich doch! Oder lauf davon! Renne! Renne!
(Pause)
ANNA: Du weißt doch, was passiert. Sie schießen sofort. Aber ich will nicht schuld an meinem Tod sein! Die Schuld soll bei ihnen bleiben! (Schuss) Siehst du, da hat sich wieder einer aus der Reihe gewagt.
KLAUS: Wer hat da geschossen? Mein Vater?
ANNA: Ist das so wichtig?
KLAUS: Ja! Ich werde ihn töten!
ANNA: Hast du ein Gewehr? Und was hilft's? Da sind noch die anderen.
KLAUS: Wenn du wenigstens schreien würdest.. Ich verstehe das nicht. Du redest doch mit mir, also hast du eine Stimme. Ich würde mitschrein! Alle müssten es hören. Hier im Haus und auf der
Straße! In der ganzen Stadt! Also schrei und ich schrei mit!
ANNA: Schreien, ach Gott. Da hat man einer Frau die Geldbörse gestohlen und sie
schreit. Da ist ein Hund überfahren worden und der Hundebesitzer schreit..
KLAUS: Machst du dich lustig?
ANNA: Entschuldige.. Aber über das Schreien sind wir schon weit hinaus.
KLAUS: Du willst mich nicht verstehen!
ANNA: Weil ich dich zu gut verstehe. Nur hilft es uns nicht. Du sollst nicht schreien. Das bringt nichts. Du sollst hoffen und an die Zukunft glauben. Uns zuliebe! Mir zuliebe!
KLAUS: So wein doch wenigstens.
ANNA: Wir haben keine Tränen mehr.
KLAUS: Könnte ich wenigstens bei dir sein. An deiner Seite mitgehen. Und ich wäre glücklich. Selbst wenn morgen alles vorbei
ist.
ANNA:. Nein, es ist nie vorbei. Du weißt doch.. Kain erschlug seinen Bruder Abel. So geht die Geschichte des Menschen bis heute. Aber weißt du, dieser Soldat da – möge es nicht dein
Vater sein! – wird gezeichnet sein. Er glaubt, sein Herz schlägt, aber es ist die Glocke des Gerichts. Mit jedem Herzschlag kommt er dem Gericht näher. (Stille) Was ist? Bist du
müde?.
KLAUS: Da kommt jemand.
(Tür geht auf)
VATER: Was ist hier los? Mit wem redest du?
KLAUS: Mit keinem.
VATER: Lüg nicht! Ich hab dich gehört. Und du hast nach mir gerufen.
KLAUS: Und? Bist du gekommen?
VATER: Bin ich dein Hund? Was hast du da? Ein Buch?
KLAUS: Gehört mir.
VATER: Und ob das mich was angeht. Zeig her. Her damit! (reißt ihm das Buch aus den Händen) Der gelbe Stern? Wie kommst du da ran? (blättert) Woher hast du
das?
KLAUS: Ich weiß jetzt, was du getan hast! Du warst einer von denen da, ein Mörder!
VATER: Wovon redest du?
KLAUS: Von dem, was hier auf den Fotos ist!
VATER: Das ist gefälscht. Das ist Propaganda. Das hat der Ami gemacht, um uns vor der Welt schlecht zu machen!
KLAUS: Das Buch! Gib mir das Buch zurück!
VATER: Ich besorg dir was Richtiges.. Menschenskind! Es gibt Millionen Bilder von den kaputten Städten in Deutschland. Das musst du dir
mal ansehen! Das waren die Amis! Das ist die Wahrheit! Und das hier, das kommt in den Ofen. Das wird verheizt!
KLAUS: Vergasen hast du vergessen! (Man hört Gekeuche)
VATER: Wirst du wohl loslassen!
KLAUS: Das gehört mir!
VATER: Idiot! In den Müll gehört das! Na warte.. Ich sag das deiner Mutter.. Du kriegst Hausarrest.
(Tür schlägt zu)
ANNA: Was ist passiert?
KLAUS: Der Soldat war da. Hab ihn verjagt.
ANNA: Du meinst deinen Vater.
KLAUS: So was ist kein Vater. Sieht nur so aus. Das ist ein Mörder.
ANNA: Du bist sein Sohn.
KLAUS: Ja und? Was kann ich dazu? Und was ist das: Sohn sein. Ich bin ich und sonst nichts.
ANNA: Jeder von uns ist eine ganze Welt.
KLAUS: Eine Welt? Was für eine?
ANNA: Ach bitte. Soll ich dich bemitleiden? (Stille)
KLAUS: Das hier ist ein Gefängnis, ein Zuchthaus. Ich hau ab. An meinem 21. Nichts wie weg.... (stöhnt)
ANNA: Was ist?
KLAUS: Ihr geht so schnell. Ich komm nicht mit. Meine Beine ....
ANNA: Was ist damit?
KLAUS: Weiß nicht. Ich kann nur noch trippeln.. Nein. Das ist doch.. meine Beine. Sie schrumpfen!
ANNA: Du bist das lange Gehen nicht gewohnt.
KLAUS: Nein, wirklich. Da stimmt was nicht. Und jetzt.. sieh mal! Meine Arme! Sie werden kürzer.. Anna! Ich komme jetzt zu euch. Ich springe. (Pause) Es geht nicht. Ich hab
keine Beine mehr! Gib mir deine Hand! Nein.. Mein Arm ist zu kurz!
ANNA: Wir sind schon da!
KLAUS: Wo? Was ist das für ein Ort? Wie sieht er aus?
ANNA: Ein großes Haus. Langezogen, mit einem flachen Dach. Sie sagen, wir werden geduscht. Und das haben wir auch nötig. Ich bin ganz verschwitzt.
KLAUS: Nein! Das stimmt nicht! Ich weiß, was es ist!
ANNA(leise): Ich auch, Klaus. Ich weiß es. Alle wissen es. Aber siehst du das kleine Mädchen hier? Das läuft schon die ganze Zeit mit. Es sagt kein Wort, so tapfer ist es.. (laut)
Wir werden geduscht. Endlich. Es ist auch wirklich nötig, nicht wahr, Kleines?
KLAUS: Warte! Hier. hier im Buch. da steht was! Die russische Armee ist schon ganz nah. Siehst du! Reißt aus! Rennt, rennt alle davon! Sie können nicht alle erschießen!
ANNA: Wozu? Die Befreier kommen ja, bald ist alles vorbei. Dann werden wir tanzen!
KLAUS: Wie denn? Ich hab keine Beine!
ANNA: Wir werden uns umarmen!
KLAUS: Ich hab keine Arme!
ANNA: Und küssen!
KLAUS: Siehst du mich noch?
ANNA: Jetzt gehen wir hinein. Wir sehen uns im Frieden!
KLAUS (schreit): Du wirst mich nicht erkennen! (Die eiserne Tür schlägt zu) Anna! Ich bin ein Wurm!
THERAPEUT: Stopp! Es ist vorbei.. Atmen Sie tief.. Alles versinkt, verschwindet. Auch der Junge. Er ist längst ein Mann. Und alles ist gut. Öffnen Sie die Augen. Richten Sie sich auf. Gut
so. Sie sind bei mir. Hier.. Wischen Sie sich das Gesicht.
MANN: Gott.. Ich weine.
THERAPEUT: Nur zu.
MANN: Ich konnte sie nicht retten! Ich konnte sie nicht retten!
THERAPEUT: Nein, das konnten Sie nicht. Keiner hätte das können. Es ist ein Buch!
MANN: O Gott..
THERAPEUT: Ein Foto, es ist nur ein Foto!
MANN: Ich habe sie geliebt, ich weiß es jetzt. Es war meine erste Liebe.
THERAPEUT: Möglich.
MANN: Und ging in den Tod! Vor meinen Augen!
THERAPEUT: Passen Sie auf. Sehen Sie her.. Wir klappen das Buch jetzt zu und legen es beiseite. Es ist vorbei. Brauchen Sie eine Pause?
MANN: Nein.
THERAPEUT: Sagen Sie.. Wenn Sie auf Ihr Leben zurückblicken, wie beurteilen Sie es?
MANN: Normal, denke ich.
THERAPEUT: Bitte etwas genauer.
MANN: Ein Leben, wie alle anderen. Mit angezogener Handbremse. Man hatte sich anzupassen. Wenn ich die heutige Jugend mit meiner vergleiche. Ich beneide die jungen Leute, ich beneide sie
heftig. Womit haben sie das verdient? Sie können sich alles leisten. Und vor allem, sie haben keine Väter, die sie nach ihrer Vergangenheit fragen müssen. Ich habe zwei erwachsene Kinder. Meine
Vergangenheit interessiert sie nicht. Und Recht haben sie. Ich bin ein Vater ohne Vergangenheit. Ja, hätte ich die Kraft zum Vatermord gehabt! Entschuldigen Sie.. Was für ein Scheißleben.
THERAPEUT: Das klingt nach Selbstmitleid.
MANN: Nein! Es stimmt doch! War ich besser als dieser Soldat da auf dem Foto?
THERAPEUT: Es ist nur ein Foto, mehr nicht.
MANN: Das sagen Sie als Nachgeborener! Und ich sag Ihnen was: Sie haben eine Distanz, die ist typisch für Ihre Generation! Das ist eine Schande, wirklich.
THERAPEUT: Genau betrachtet, beschäftigt Sie das Leben Ihres Vaters mehr als Ihr eigenes. Im übrigen.. Ihr Leben war kein Scheißleben, überhaupt nicht. Es war sogar ein gutes Leben, wenn
auch ziemlich gewöhnlich. Aber das Leben des Mädchens auf dem Foto... Das war heroisch! Wie sie da in den Tod geht, tapfer, mutig, schützt sogar noch ein Kind. Ja, da kann man sich selbst wie ein
Wurm vorkommen. Aber Sie sind keiner. Sie haben eine Frau, zwei erwachsene Kinder, haben ein Baugeschäft. Und kein Mensch ist ein Wurm!
MANN: Meinetwegen. (Demonstrationslärm von draußen) Was ist da los?
THERAPEUT: Moment. Ich mach das Fenster auf. (Man hört, wie er zum Fenster geht und es öffnet. Von draußen Lärm einer Demonstration mit Naziparolen, z. B. "Wer Deutschland liebt, ist
Antisemit") Was ist Ihnen?
MANN: Ich bekomme keine Luft. Schließen Sie das Fenster, bitte schließen Sie es! (Schließen des Fensters. Nur noch gedämpftes Geschrei)
THERAPEUT: Besser?
MANN: Es geht. Aber mir geht es nicht gut. Das sehen Sie doch!
THERAPEUT: Ja, Sie haben tatsächlich ein Trauma. Wegen eines Fotos. Faszinierend. Ich werde Ihnen jetzt ein Gegenmittel verschreiben, sozusagen. (Öffnen des Fensters. Von draußen
Sprechchöre: "Ausländer raus! Deutschland den Deutschen!" usw.)
MANN: Lassen Sie das!
THERAPEUT: Hören Sie zu. Da draußen ist die Vergangenheit Ihres Vaters! Und Sie sind kein Wurm! Stellen Sie sich auf die Seite der Bedrohten! Bestimmt ist darunter jemand wie das Mädchen
auf dem Foto.
MANN: Ja! Sie haben reht! Ich verstehe, ich verstehe! Ich werde es tun. Und Sie? Kommn Sie mit?
THERAPEUT: Wieso? Ich hab doch keine Probleme.. Halt! Nehmen Sie Ihr Buch mit!
ENDE