Harald Schmid
oder
Wie man einen Arbeiterschriftsteller macht
Gerne denke ich an meine wilde Zeit in Schöneberg zurück, in der ich einmal sogar sehr bekannt war. Ich war noch ein junger Mann, Mitte zwanzig, hatte einen harten Job als Schweißer, der mich
nicht gerade zufrieden stellte, aber die gutbürgerliche, ruhige Umgebung in Friedenau machte alles wieder wett. Eigentlich hätte es so bleiben können, wäre ich nicht eines Tages in meiner
Stammkneipe auf eine seltsame Trauergemeinde gestoßen.
Da saßen, während ich am Tresen gemütlich mein Feierabendbier trank, hinter mir ein paar verdächtige Personen, die nicht ins Bild dieser Umgebung passten. Sie sprachen lauthals über die
Revolution, gemeint war die Studentenrevolte, die seinerzeit das Gemüt der braven Spießer in Westberlin erregte. Es schienen Studenten zu sein, da sie mit den selbsternannten Revoluzzern dieser
Zeit unmissverständlich sympathisierten.
„Seit wohl Sympathisanten von Dutschke und habt euch hier verirrt!“ sprach ich sie an. „Oder haben die Bullen etwa wieder einen von euch umgelegt, wie neulich, den Ohnesorg?“
„Nein, Kumpel, wir trauern hier ausnahmsweise nicht um den Ohnesorg, sondern um eine Zeitschrift, die wir leider begraben mussten, weil uns die Kohle dafür ausging“, antwortete der eine, der mit
seinen kurzen Haaren und seinem Stutzerbart zwischen den Langhaarigen und Vollbärtigen auffiel und den sie Sigi
nannten. „Setz dich rüber zu uns, Kumpel. Bist eingeladen zum Leichenschmaus. Aber mehr wie ein Bier geb ich nicht aus, mehr kann ich mir als armer Verleger nicht leisten.“
Gern folgte ich der Einladung und setzte mich zu ihnen an den Tisch, teils aus Neugierde und teils, weil ich noch ein oder zwei Bierchen gut vertragen konnte.
„Was machst du so, Kumpel? Bist du vielleicht auch so ein Beamter oder Angestellter mit Eigentumswohnung aus der Gegend hier, dem die politische Situation in Westberlin den Arsch hinuntergeht
oder kann man mit dir was anfangen?“ fragte mich Sigi neugierig.
„Ich arbeite als Schweißer“, antwortete ich, „und unter den Bedingungen wie ich meine Brötchen verdiene, würdest du schmales Handtuch wahrscheinlich zusammenbrechen.“
„Bist in Ordnung, Kumpel. Genauso einen wie dich könnte ich für meinen Verlag brauchen, einen wie den Wallraff, der aus der Fabrik berichtet, so etwas lesen die Bürgerlichen heute.
Kannst du schreiben, Kumpel?“
„Soll ich etwa einen Nachruf auf deine Zeitschrift schreiben?“ fragte ich schelmisch und der ganze Tisch lachte.
,,Übrigens, hast du überhaupt schon eine Grabstelle für deine Zeitschrift beantragt, Verleger?" warf einer aus der Runde dazwischen.
,,Das mit dem Begräbnis ist ein symbolischer Akt und von Symbolik verstehst du nichts, du Kasper!“ erwiderte Sigi.
„Dann lass uns symbolisch auf das Begräbnis und auf deinen großen Verlag anstoßen“, witzelte ein an derer und prostete uns zu.
Es war eine heitere und eine trinkfeste Runde und der Abgesang auf die Zeitschrift endete erst, als wir alle betrunken waren und der Wirt den Feierabend einläutete.
„Mein Angebot steht“, sagte Sigi zum Schluss, nachdem er mich vorher überredet hatte, etwas über meine Situation als Arbeiter in der Fabrik für ihn zu schreiben.
„Komm morgen bei mir vorbei, Kumpel, dann stelle ich dir meinen Verlag vor.“
Am nächsten Tag, es war Samstag und ich hatte frei, rief ich ihn an, um mich mit ihm zur Verlagsbesichtigung zu verabreden.
„Komm rum, Kumpel“, sagte er. „Freut mich, dass du unser Treffen nicht vergessen hast.“
Der Verlag war nur ein paar Straßen weit von meiner Wohnung entfernt und es wunderte mich, dass er mir bis dahin nicht aufgefallen war. Neugierig und voller Erwartung machte ich mich auf die
Socken.
Dort angekommen war ich dann doch sehr erstaunt. Die Wirkungsstätte des Verlegers befand sich in einer düsteren Parterrewohnung im Hinterhof.
Rechts vor der Eingangstüre war ein großes protziges Namens- und Firmenschild mit der Aufschrift des Verlages angebracht, das mehr hermachte als es hielt.
Eine fünfstufige Außentreppe führte direkt in den Verlagsraum, der aus einem einzigen Zimmer bestand, das gleichzeitig Wohn-, Schlaf- und Arbeitsraum des Verlegers war.
„So also leben Verleger heute“, dachte ich und es kam Mitleid in mir auf, als ich ihn auf seiner Bettcouch an seinem Schreibtisch, der gleichzeitig auch Esstisch war, so zwischen seinen Büchern
und Postern in dem beengten Raum sitzen sah. Sigi teilte das Mitleid mit mir nicht. Er war guter Dinge, zeigte mir ein paar Exemplare seiner verflossenen Zeitschrift und drängte mich dann auch
schon wieder zum Gehen.
„Beeil dich Kumpel, wir müssen zur Vernissage. Bei Herta Fiedler in der Kleinen Weltlaterne stellt heute das Berliner Maleroriginal Artur Märchen aus. Dort kommen
wichtige Leute aus der Szene vorbei, dann kann ich dich gleich als meinen neuen Autor vorstellen.“
Gesagt, getan. Eine Stunde später tauchten wir in Kreuzberg in der Kleinen Weltlaterne auf. Die Kneipe war brechend voll und Sigi kannte alle. Er stellte mich auch gleich als seinen
neuen Autor vor und ich spielte mit, weil mir die Rolle, als Arbeiterliterat herumgereicht zu werden, gefiel. Kreuzberger Nächte sind bekanntlich lang und erst gegen Morgen leerte sich die
Kneipe.
„Am Mittwoch geht's in den Buchhändlerkeller. Da trifft man die Literaten, die in Berlin was zu sagen haben“, sagte Sigi. „Ich hoffe, du kommst mit, das ist wichtig!“
„Gerne“, antwortete ich, weil das alternative Leben, das der Verleger führte, Neuland für mich war und es eine willkommene Abwechslung zu meinem bisherigen langweiligen und eher spießigen
Junggesellendasein bot.
Der Buchhändlerkeller befand sich in der Carmerstraße in Friedenau. An diesem Abend, als mich Sigi dorthin entführte, war ich das erste Mal auf einer Lesung.
Es las der Dichter Günter Bruno Fuchs, der mich mit seinen humorvollen, oft verwunschenen Geschichten faszinierte.
Fortan besuchte ich regelmäßig die Dichterlesungen und im Gefolge mit den Autoren ging es dann hinterher meistens zum „Bundeseck“, einer Tag- und Nachtkneipe, die nur ein paar Ecken weit
von der Lesestätte entfernt war. Dort traf sich auch manchmal eine originelle Gruppe befreundeter Schriftsteller, die sich von den Lesungen her kannten und sich Gruppe ARSCH nannte, was
ironisch gemeint war und übersetzt hieß: „Arbeitskreis Revolutionärer Schriftsteller“. Nach jeder Lesung wurde bis in die frühen Morgenstunden diskutiert und gesoffen. Meistens ging ich von da
aus dann gleich zur Arbeit, die um 7 Uhr begann.
Es folgten noch viele Lesungen, Vernissagen und Partys in Friedenau und Kreuzberg und langsam wurde ich in der Szene als Arbeiterschriftsteller bekannt, ohne je eine Zeile geschrieben zu
haben.
„Es wird Zeit, Kumpel, dass du mal eine richtige Party schmeißt, eine Party, zu der man die Leute, die in der Stadt was zu sagen haben, gezielt einladen kann, mit Presse und so, verstehst du.
Dann werde ich dich offiziell als meine Neuentdeckung vorstellen. Was hältst du davon, Kumpel?“
Da ich Spaß an meiner neuen Hochstaplerrolle hatte, stimmte ich zu und so bereitete mein neuer Freund und Förderer alles für die große Party vor und schickte Einladungen an die Gäste.
Meine Junggesellenwohnung befand sich in der Stubenrauchstraße in einem Seitenflügel im dritten Stock, gleich unter dem Dach. Sie hatte eineinhalb Zimmer, aber einen großen Balkon, auf dem ich
oft im Sommer unter gurrenden Tauben frühstückte oder auch schlief, denn ich hatte kein Gegenüber. Wenn ich Besuch hatte, projizierte ich Dias von der Südsee an die kahle, nackte Rückwand des
gegenüberliegenden Gebäudes, was mir unter Freunden und Bekannten das Kompliment einbrachte, die schönste Aussicht in ganz Friedenau zu haben.
Endlich war es so weit, die Party startete und alle kamen zu mir: Lebenskünstler, Künstler, Literaten, Schriftsteller und auch solche, die sich dafür hielten.
Die Bude war am Ende so brechend voll, dass ich meine Stühle und Tische auf den Hausflur stellen musste. Die meisten harrten stehend wie in einer überfüllten U-Bahn zur Hauptverkehrszeit bis
zum Morgengrauen aus und die Letzten gingen erst, als die letzten Bierflaschen leer waren. Alle wollten den neuen Wunderknaben aus der Szene kennen lernen.
„Gratuliere dir, das ist dein Durchbruch, Kumpel“, lobte mich Sigi zum Schluss euphorisch. „Mit dir hat Westberlin nun endlich seinen Arbeiterschriftsteller, den Mann aus der Basis, der der
Revolution bis jetzt gefehlt hat.“
Er klopfte mir anerkennend auf die Schulter und umarmte mich vor Rührung über seinen Erfolg als Förderer und Verleger.
„Einen Arbeiterschriftsteller“, sagte ich mehr zu mir selbst, „den es nicht gibt. Es wird Zeit, dass ich endlich zu schreiben anfange.“
Aus: 68 - Es gab nicht nur Demos