Gleich am Tag nach meiner Ankunft – ich machte zum ersten Mal in meiner Hütte Ferien – klopfte Gunnar an die verglaste Terrassentür und überreichte mir einen blank geschälten, wie eine
Wünschelrute geformten Ast mit der Bemerkung, damit könne ich nach Wasser oder Frauen suchen, aber da ja ein See in der Nähe war, sei das Wassersuchen wohl nicht nötig.
Er ging nach einer Stunde, nachdem er mir den halben Kuchen aufgegessen und zwei Tassen Kaffee getrunken hatte, mit dem Versprechen, mir morgen etwas Besonderes zu zeigen: die Dänengräber am
Bolmen. 300 Jahre alt sollen sie sein, sie stammen aus der Zeit, als die Dänen Südschweden bis nach Småland besetzt hatten, wogegen sich die Småländer heftig wehrten
Er kam am Nachmittag mit Axt und Säge und gab mir die Axt. Und so radelten wir los. Gut eine knappe Stunde später kamen wir an. Unter hohen Eichen sah ich zehn längliche Buckel, auf ihnen kleine
Büsche und mannshohe Birken.
„An die Arbeit! Wenn nichts getan wird, wächst hier alles zu. Eine Schande ist das. Also los, du gamla Indian!“
Damit meinte er mich, aber ich fand, ein Indianer würde bestimmt lieber etwas anderes tun, als Grünzeug aus der Erde zu reißen.
Es war ein sonniger Tag, im Eichengewölbe drehten sich goldglänzende Lichttrauben. Vom nahen See rieselte Wind durch das Dickicht.
Plötzlich legte sich Gunnar rücklings auf ein Grab, schloss die Augen und murmelte: „Was für ein schöner Platz, wenn man tot ist.“
Innerhalb von einer Minute war er eingeschlafen.
Er behauptete auch, dass die Sonne für jeden Menschen mindestens einmal am Tag ganz allein scheine, er müsse nur aufpassen, damit er das auch mitbekomme. Er jedenfalls verpasste keinen
Augenblick, das konnten jeder sehen. Egal wo er sich gerade befand oder was er gerade tat, er richtete sich auf, warf die Arme nach oben, als wolle er davonfliegen, sah sich entzückt um und
schrie: „Livet är härligt!“ (Das Leben ist herrlich.)
Seine Lebensfreude riss mich mit. Wie ein begeistertes Kind zeigte er mir die Wunder der kleinen Welt. Er fing ausgeflogene Bienenvölker ein, er veredelte Apfelbäume, zog in einem aus
Abrissfenstern errichteten Treibhaus Tomaten und Weintrauben und ließ sich von einer Bremse in den Arm stechen und sah ihr wohlwollend zu, wie sich ihr Körper mit Blut auffüllte. Wo andere
stritten, lachte er, und wer glaubte, ihn verspotten zu müssen, dem zeigte er sein leises Lächeln, das reichte, um den anderen verstummen zu lassen.
Nur einmal sah ich ihn erregt. Es war im Frühjahr, auf dem Feld neben seinem Gemüsegarten versprühte ein Trecker mit dem Ausleger Unkrautvernichtungsmittel. Gunnar schrie den Fahrer an, er solle
verschwinden, er vergifte das Gemüse. Der Mann sah ihn an, als verstünde er ihn nicht, da sprang Gunnar auf den Trecker, um ihn vom Bock zu reißen, worauf der schnell abdrehte und nicht
wiederkam.
Er ist schon seit ein paar Jahren tot, ich wohne in einem Dorf nahe Berlin. Ich habe von meinem Fenster einen Blick auf ein paar krumm gewachsene Kiefern, ich sehe gerade, wie die Sonne die
Stämme kupfern leuchten lässt – und höre eine Stimme: „Das Leben ist herrlich!“
Dann ist es auch schon vorbei. Aber für einen Augenblick war das Leben ganz allein bei mir.