Komm in die kleine Bibliothek, in das südöstliche Eckzimmer vom Strandhem. Setz dich in den Korbsessel am Fenster, wo Gunnar früher seine Töpfe mit den
Tomatenpflanzen stehen hatte. Vorsicht! Es sind lebendige Wesen, sagte er.
Ich will dir die Odensjö-Saga erzählen, die ich vom alten Oskar persönlich gehört habe, das war vor gut 50 Jahren, als er noch lebte. Sie ist so wahr wie Odins Grab bei Oskars Hütte, die man
sehen konnte, wenn man sich im Fenster zur Straßenseite hinausbeugte und nach rechts blickte..
Es war ein rotes Holzhäuschen auf einem kleinen Hügel mit Fichten und Fliederbüschen. Eine Reihe Feldsteine formte den Umriss
eines Schiffes und die Bugspitze mit der Hütte zielte wie bei einem Angriff auf die etwa 200m entfernte weiße Dorfkirche. Über dem Hütteneingang hing ein Brett, darauf in weißer,
krakeliger Schrift: „Odins Borg“.
Dass Oskar oft auf den Steinstufen saß und die Kirche nicht aus den Augen ließ, mag in der Tradition eines echten Wikingers liegen, der seinen Gott gegen den fremden Gott zu verteidigen
hatte.
Aber jetzt zur Story. Die geht so. Vor ungefähr zehntausend Jahren – es können auch ein paar mehr sein – jedenfalls zur
Zeit der Riesen und Götter, gab es hier nichts anderes als Wald, Wiesen und nochmals Wald. Nirgendwo war ein See, überall nur schöner trockener Boden, ja, es hieß, der Himmel lege hier seinen
Regen bloß zum Trocknen hin.
Odin, der Göttervater, liebte den Ort, aber besonders liebte er eine Menschenfrau mit goldenem Haar, sommersprossigem Gesicht und blauen Augen. Sie hieß „Heidlund, die mit den großen“ Augen und
war die Tochter eines Kleinbauern. Den Beinamen hatte sie aus einem simplen Grund, von dem man damals aufgrund medizinischer Rückständigkeit nichts wissen konnte. Kam nämlich jemand zu
Besuch, riss sie die Augen auf, nicht aus Begeisterung oder Freude, sie konnte einfach wegen ihrer Kurzsichtigkeit nicht erkennen, wer da in die Kate trat: war's Mann oder Frau.
Eines Tages, als der Göttervater mal wieder in Menschengestalt auf Wanderschaft war, beschloss er, auch Heidlund aufzusuchen. Als er in die dämmrige Stube trat, wurden Heidlunds Augen groß, was
ihn sofort entzückte. Er eilte auf sie zu, doch unglücklicherweise hielt sie Odins Mantel für ein Frauenkleid. Als er ihre Taille umschlang, schrie sie auf und wehrte sich, worauf ihr Vater
hereinstürmte und den Eindringling mit seinem Schwert aus der Kate jagte. (Er war Wikinger, versteht sich.)
Odin jedoch gab nicht auf, ganz im Gegenteil, Heidlund erschien ihm reizvoller denn je. Er überlegte, wie er sie berühren konnte, ohne sie anzufassen. Offensichtlich handelte es sich bei ihr um
eine streng behütete und äußerst empfindliche Jungfrau. Und wie immer in solchen Fällen hatte er gleich eine Idee. Er verwandelte sich in Rauch.
Qualmt im Wald ein Holzstück, ist das nicht ungefährlich. Qualmt aber ein Gott, na, dann gibt man am besten gleich Katastrophenalarm.
Und das tat Heidlunds Vater. Beim Anblick der sich nähernden Rauchwolke stieß er ins Horn, um den Riesen Hergrim herbeizurufen, die damalige freiwillige Feuerwehr.
Hergrim eilte herbei, machte einen Schritt und platsch... ausgequalmt war's! Odin, vor Schmerz oder Wut, wer weiß es, brach in Tränen aus. Und wenn ein Gott weint.. Jedenfalls füllte sich der
Abdruck des Riesenfußes sofort mit Wasser. So entstand der Bolmen, er ist 40 km lang (nun rechne mal aus, wie groß der Riese war). Und warum heißt der See so? Nun, wer ein wenig Schwedisch kann,
weiß, dass „qualmen“ auf Schwedisch „bolma“ heißt.
Wo der kleine Zeh sich in den Boden gedrückt hatte, entstand eine Bucht, dort siedelten sich Bauern an. Als die Provinzverwaltung dahinter kam, dass es etwas mehr als viereinhalb Häuser waren,
erklärte sie die Siedlung zum Dorf, und die Dörfler nannten es „Odinsjö“. Worauf die lutheranische Kirche auf heftigste Einspruch erhob: es könne nicht sein, dass in einem Dorfnamen der Name
eines heidnischen Gottes verewigt werde.
Da Småländer nicht auf den Kopf gefallen sind, vertauschten sie das i gegen ein e. Und so heißt der Ort heute „Odensjö“.
Dass der Göttervater in Odensjö begraben werden wollte, hatte nach Oskars Meinung einen ganz natürlichen Grund: Weil er hier das schönste Weib der Welt gesehen hatte.
Und dann zeigte er mir sein Grab. Unter einem Fliederbusch waren drei große graue Steine übereinander geworfen, es sah aus, als sei nichts Besonderes daran.
Aber, so sagte Oskar, das wollte Odin so, nur kein Aufsehen, denn Odin – falls du es noch nicht wissen solltest – sei ein echter Schwede gewesen.
Aus „Mein Schweden“, Stadthaus-Verlag