Er betrachtete sich im Spiegel und hätte sein Spiegebild anspucken können. Es war nicht nur der kahle Schädel, das runde, nichtssagende Gesicht, die blassen blauen Augen, der breite Mund, sondern der ganze Mensch, der ihn anwiderte. War er überhaupt ein Mensch? Vom Funktionieren seiner Organe bis zum Funktionieren des Gehirns schien er ganz ein Roboter zu sein, wenn man einmal von der organischen Substanz der Konstruktion absah. Aber wer garantierte ihm, dass Haut, Fleisch und Knochen etwas wesentlich anderes war als Kunststoff, Metall und Elektronik?
Wieso ihn diese Zweifel in der letzten Zeit befallen hatten, konnte er nicht sagen. Begonnen hatte es, als er darüber nachdachte, warum die Menschen früher Eltern hatten, einen Vater, eine Mutter, und dabei folgte ein Gedanke dem anderen und endete dort: Wieso er keine Eltern hatte? Keine Familie? Keine Verwandten?
Weil es der Fortschritt war. Weil die Geschichte über das biologische Zeugen längst hinweggegangen war, heute wurden Gene gemischt und eine Zeugung im Laboratorium sorgte für die großartige Gattung, die sich in Ermangelung eines anderen Wortes vorerst noch Neu-Mensch nannte.
Sollte einer ihn fragen, wo kommst du her, müsste er auf eine Fabrik zeigen. Und das war das Normale, allen Neu-Menschen müssen das.. Andererseits hätten auch Maschinen, Küchengeräte, Kleider und Lebensmittelkonserven das Recht, bei einer solchen Frage auf eine Fabrik zeigen.
Ihm missfiel das. Sein Ursprung musste ja nicht ein Vater und eine Mutter sein, das ist eine längst überholte Stufe der Entwicklung. Schön wäre es, könnte er auf einen Punkt im Universum weisen: dort, zwischen zwei blinkenden Signalen, sei er entstanden. Oder, noch besser, sein Zeugungsort wäre die virtuelle Welt und ein Geburtshelfer am Computer hätte seine Geburt in der Wirklichkeit überwacht.
Aber sollte er den Ort seiner Zeugung zeigen, müsste er auf ein banales Reagenzglas weisen.
Ja, er war ein Neu-Mensch, wie mittlerweile alle, gentechnisch erschaffen, ein ideales Erzeugnis. Und doch waren seine Besteller mit dem Ergebnis unzufrieden gewesen, es waren ein Mann und eine Frau, die als „Entwickler“ die Pflicht zur Aufzucht eines Kindes zu übernehmen hatten. Schon nach wenigen Wochen entdeckten sie einen Mangel: das Kind hatte Höhenangst. Als sie in ihrem Freizeitvergnügen einen Wolkenkratzer erkletterten, mussten sie ihre Klettertour abbrechen: der Junge bekam einen derartigen Schreikrampf, dass er zu ersticken drohte.
Sie brachten ihn in die Produktion zurück, erhielten ein neues Kind und er kam auf die staatliche Entwicklungsfarm. Mit anderen retournierten Kindern lernte er alles, was zur späteren Existenz nötig war. Mit Berufsreife bekam er einen Posten bei der Zentrale für Infrastruktur, dort überwachte er die Trinkwasserversorgung der Stadt.
Eigentlich war das längst nicht mehr nötig, aber man hatte festgestellt, dass die Neu-Menschen soziale Kontakte brauchten.. Also gab es ein Gesetz, dass man mindestens zwei Stunden am Tag in der Gemeinschaft anderer aktiv sein musste.
So musste er täglich zur Zentrale kommen und sich in der Runde seiner Kollegen vor den Bildschirm zu setzen und nichts anderes zu tun, als Zahlen prüfen und zwischendurch mit den anderen Floskeln austauschen. Er hasste das, aber hassen ist nicht das richtige Wort. Solche Gefühle waren in den Genen nicht angelegt.
Vielleicht funktioniert er nicht richtig?
„Am Ende bin ich bloß ein total verkorkster Roboter“, dachte er, „aber das kann nicht sein, sonst wären doch alle so.“
Eines Tages verschwand er. Niemand weiß, ob er überhaupt noch lebt.