Nachts waren sie noch in West-Berlin, jetzt am Nachmittag befanden sie sich in Südschweden. Alle Achtung. Der Wagen ruckelte über einen schmalen Waldweg.
Tannenzweige tätschelten die Seitenfenster und das Dach.
Nach drei Kilometern Slalom durch viel Schatten und wenige Lichtblicke hielten sie auf der gesuchten Lichtung. Sie brauchten einige Zeit, bis sie die Hütte sahen.
Sie lag abseits vom Weg, eine kleine rote Blockhütte, auf einer leicht abschüssigen Wiese, am Waldrand mit hohen Fichten. Auf der Lichtung wuchsen kleine Birken und Wacholderbüsche.
Lilly, ehemalige Studentin der PH Berlin, rannte hinunter. Über die im Gras bläulich schimmernden Steine sprang sie. Rolf, Student an der TU Berlin, holte das
Gepäck aus dem Wagen und verstaute es in den Hüttenwinkeln, während sie vor dem offenen Kamin kniete und Feuer machte. Bald flackerte Flammenschein im grünbraunen Dämmer des Zimmers.
Der deckenlose Raum gefiel Rolf: Drei blank geschälte Tannenstämme liefen wie Muskelstränge durch den Raum, ein Dreieck voller Kraft, auf dem das Dach ruhte. Eine
Konstruktion, in die man hineinsehen konnte, ein Gebäude, das weder prahlen noch etwas verbergen musste.
Am nächsten Tag sahen sie die Hütte schärfer und klarer. Da waren die schmalen hölzernen Bettladen längs der linken und rechten Wand (sie benutzten die rechte), die
Lilly zur neckischen Frage veranlassten, wie die Småländer eigentlich schliefen? Hintereinander oder übereinander? In der Nacht entschieden sie sich für das Übereinanderschlafen, später kroch
Rolf zum anderen Ende, so dass sie, Fußsohlen gegen Fußsohlen, in den Morgen schliefen.
Es gab keine Elektrizität, dafür dickrundige Kerzen und eine Petroleumlampe mit einem grünen Zylinder. Das geräumige Hüttenzimmer erhielt Licht durch die zwei
Fenster an der Ostseite mit dem Blick auf die Wiese. Wer nach draußen wollte, musste eine niedrige Zwischentür passieren, worauf er sich unmittelbar in der schmalen Küche befand, rechts der
gusseiserne Küchenherd, die Spülbank, eine winzige Anrichte und darüber in der Balkenwand ein Fenster, das die Größe einer Dachluke hatte, in der linken Ecke standen zwei Trinkwassereimer, in der
Wand waren eiserne Haken für Geräte und Kleidung und nahe der Tür der Waschplatz mit einer Fußbank. Ein Schritt weiter, und schon stand man auf der steinernen Außentreppe, die - eine Kühnheit des
Architekten - geradewegs in den Wald führte, in zottige Fichtenarme.
Zur Wiese und zum Ziehbrunnen ging es rund um die Hütte, am besten rechts entlang. Denn links versank man in ein Meer aus Birkenbüschen und Himbeersträuchern, es
sei denn, man folgte dem scharf ausgetretenen Pfad zum Brennholzschuppen und dem Klo-Häuschen, das nach Lillys Meinung ganz klar eine ehemalige West-Berliner Lotteriebude war.
Gegen Mittag sahen sie Eric Svensson vom Fahrrad steigen, einen großen, breitschultrigen Mann mit Halbglatze, verheiratet mit Lisa Svensson; sie wohnten mit ihren
zwei Kinder und noch ein paar Sommergäste in einem für Feriengäste umgebauten Altersheim nahe beim See. Bevor sie zur Hütte fuhren, hatten die Berliner dort Halt gemacht. Lilly bekam den
Hüttenschlüssel von Lisa und ihr Eric zeigte Rolf auf der Generalstabskarte den verschlungenen Weg zur Hütte.
Jetzt kam Eric den Pfad herunter. Heute war Sonntag, darum trug er ein großkariertes Wollhemd und sein Gesicht war glatt rasiert. Er ließ sich Zeit. Manchmal blieb
er stehen, scharrte mit den Füßen, bückte sich, hob etwas auf, musterte es aufmerksam und warf es wieder weg. Oder er stopfte es in die ausgebeulte Hosentasche. An einer Birke prüfte er ausgiebig
die Zweige. Endlich stand er vor Rolf und Lilly.
,,Hej", sagte er und sah lächelnd von einem zum andern.
,,Guten Tag“, antworteten sie artig.
,,Alles angefressen.“ Aus dem Hemdschlitz zog er ein Bündel Radieschen und reichte es Lilly. Verwirrt betrachtete sie die Radieschen.
,,Von Elchen. Er schob den breiten, hornigen Daumen über die Schulter in Richtung der Wiese.
,,Noch nicht gesehen? Die Elche lieben die Birken hier.“
,,Was? Hier gibt es Elche?“ entfuhr es Lilly.
,,Jaha". Die hellen Augen des Mannes ruhten auf beiden mit sichtlichem Wohlgefallen. Er war ein Freund von Liebespaaren. Wo er ein Pärchen verkuppeln konnte, tat
er's mit Vergnügen und mit der Unschuld eines geschlechtslosen Engels.
Er überzeugte sich vom guten Brennen des Küchenherdes.
,,Ihr weiht die Hütte ein, seid die ersten. Ein schönes Stück Arbeit, oder wie?“ Er meinte damit die Hütte, die er erbaut hatte. ,,Schlagt die Nägel für die
Handtücher in die Wand, wo ihr sie braucht. Nägel und Hammer findet ihr im Schuppen, dort sind auch Säge und Axt fürs Brennholz. Wenn ihr den Haufen
Holz dort verheizen wollt, habt ihr ganz schön zu tun. Hejdo!“
Unvermittelt drehte er sich um und stieg die Wiese hinauf, die Schultern wiegend im gelbbraunen Hemd.
Unterwegs fiel ihm noch etwas ein. Er kam zurück und sagte: ,,Hab's beinah vergessen. Da oben am Weg, rechts vor der Grenzmauer im Wald, da ist ein perfekter
Erdkeller von früher. Hier stand nämlich mal ein Einödhof, vor der großen Auswanderung war das. Könnt eure Milch und eure Butter hineinstellen. Ist wie ein Kühlschrank.“
Er winkte und ging diesmal endgültig davon. Sie hörten das Klappern des Fahrrads und wie er einem Kuckuck in dessen Sprache antwortete.
Die ersten Tage sollten pure Ferien sein. Sie strolchten durch die Gegend. Die Sonne: immer ihnen hinterher.
,,Hej!“ rief Lilly hoch. ,,Bist du schon wieder da, Alte?“
Verblüfft sah sich Rolf um. Das erheiterte Lilly noch mehr, und sie schrie: ,,Ist hier jemand?“
Mit einem der beim Dorfhändler gekauften Holzschuhe klopfte sie gegen einen Baumstamm. Nichts antwortete. Die Wipfel rauschten, Vögel pfiffen.
Mittsommerzeit. Die Sonne ging um drei Uhr morgens auf und erst um zehn Uhr abends unter.
Sie lagen im Sand und sahen den Wellen zu. Silberbarren rollten heran. Vor ihren Zehen erloschen sie zu durchsichtigem Wasser, in dem winzige graue Fische mit
hervorquellenden Glasaugen blitzartig auftauchten, neugierig verhielten und wieder davon flitzten.
Sie badeten nackt. Sie glitten durch das Wasser, an den stumpfen Echsenrücken der Felsen vorbei. Je weiter sie schwammen, um so leichter wurden sie.
Später ruderten sie in einem Boot der Svenssons, einem klobigen Kahn mit schwarzer Schnauze. Weit draußen im See, in den Wellen, schmatzte er wie ein kleiner,
rauflustiger Hund, ein Händedruck am Ruder, und das Boot begann zu kreiseln.
,,Nein, mein Lieber, du ruderst falsch. Lass mich mal.“
Fiel jemand ins Wasser? Nachher wusste keiner mehr, wie es geschah. Das Boot dümpelte leer und zufrieden auf den Wellen. Bis sie hineinklettern wollten. Dann
gebärdete es sich wie ein widerspenstiges Pferd. Lilly schaffte das Entern zuerst. Rolf - im Wasser wöge er wirklich nicht viel, schnaufte er - er musste, grob geschätzt, drei Tonnen ins Boot
heben. Sie schlug vor, er solle seine Gliedmaßen einzeln hineinwerfen.
Nachts brannten Sonnen in ihren Handtellern. Auf einmal ruhten sie nicht mehr in ihren Bettkästen, sie glaubten in den Rudern zu liegen. Sie fühlten, wie sie über
einen gleißenden Spiegel flogen und schließlich langsam und ruhig durchs Wasser zogen.
Nächte mit sonnenwarmen Felsen, Nächte mit türkisfarbenem Gras, Nächte, in denen die Erde zum Himmel, die Wälder zu Wolken und der Himmel zum See werden, wo
Blinklichter einsamer Segler leuchten. . Mittsommernächte.
Seit Wochen geisterte eine Elchkuh mit zwei Kälbern durch die Wälder des Dorfes. Lilly bestand darauf, sie zu sehen. Also versteckten sich die beiden eines Abends
im Gebüsch. Rolf war mit Apparaten behängt: Feldstecher, Fotoapparat, Blitzlichter, Taschenlampe und Taschenmesser. Griff er nach der Brille, um sie nervös zu reiben, schepperte sein Brustgehänge
wie eine aufgehende Zugbrücke. Lilly, ein paar Büsche weiter, grunzte wütend.
Um neun, so Erics Behauptung, beträten die Elche regelmäßig die Lichtung. Um halb zehn fiel Lilly auf, dass die Dunkelheit nicht vom Himmel kam, sondern aus der
Erde. Die Nacht war ein Saft, der durch die Wurzeln aufstieg und Pflanzen und Bäume von innen schwarz färbte, bis die Landschaft eine Kohlezeichnung war auf hellgrauem, leuchtendem
Transparentpapier.
Aus Hüttenleben (Heinz Vorberg)