Alex Hübner, Student an der TU Berlin, war ein sportlicher Typ mit einer großen Nase und dem Gesicht eines Römers, wie er von sich selber sagte. Er hatte von Professor Hertling den Auftrag, jeden
Morgen am Wohnhaus des Professors die Aufzeichnungen des Laser zu notieren, der nachts den Weltraum abtastete.
Es war der 14. Mai. Alex hatte gerade den S-Bahnhof mit seinem Rad verlassen (er nahm das Rad immer mit, da der Bahnhof außerhalb des Dorfes lag) und radelte aus dem Wald auf die Ringstraße.
Vorsichtig hielt er Abstand von dem klaffenden Riss, der sich mitten in der neu asphaltierten Straße aufgetan hatte. Dann bog er ab in die Feldstraße zu Haus Nummer 3, dem mit Weinlaub verhüllten
Haus des Professors.
Wie jedes Mal wollte er in den Fahrradständer fahren, um elegant vom stehenden Rad abzuspringen. Diesmal stürzte er. Das Vorderrad war gegen die Halterklammer gestoßen. Er rappelte sich auf und
versuchte, das Rad in die Klammer zu schieben. Nein, es ging nicht. Er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, er war schon verspätet, mit einem argwöhnischen Blick auf den Ständer warf er sein
Rad in das Weinlaub der Fassade und flitzte zur Haustür, um sie aufzuschließen. Verdammt! Der Schlüssel ging nicht ins Schloss. Hatte er doch in der Eile schon wieder den Haustürschlüssel mit
seinem Wohnungsschlüssel verwechselt. Aber der andere Schlüssel passte auch nicht..
Der junge Mann holte tief Luft, was blieb ihm anderes übrig, er musste klingeln. Er drückte den Klingelknopf, dann noch mal, nichts rührte sich und gerade als er zum dritten Mal klingeln wollte,
flog die Tür auf und, mit der rechten Hand die Klinke, mit der linken die rutschende Pyjamahose haltend, donnerte ein weißstruppiger Kopf: „Was klingeln Sie, Sie Unmensch? Sehen Sie denn nicht,
dass ich noch schlafe?“
Zornig machte der Professor kehrt. Da gab es hinter ihm einen Bums und wie er sich umdrehte, saß der Student am Boden und rieb sich den Kopf.
„Was zum Teufel machen Sie denn jetzt?“
Alex zeigte mit dem Finger auf den Türbalken. „Ich habe mich gestoßen, “ flüsterte er und zwinkerte erschrocken mit den Augen, „Herr Professor, ich glaube, hier stimmt was nicht.“ Und indem er
aufstand, erzählte er den Ärger mit dem Fahrradständer und dem Schlüssel. „Und dann ist da noch was.“ Dankbar, auch etwas Normales berichten zu können, fügte er fröhlich hinzu: „Denken Sie bloß!
Die neue Straße ist schon wieder kaputt. Die haben vielleicht schlampig gearbeitet. Ein Riss geht mitten durch und zwar die ganze Straße lang!“
Stille. Dann murmelte der Professor, sich das unrasierte Kinn reibend: „Donnerwetter ...“ Und als stünde sein Assistent nicht neben ihm, schrie er: „Alex! Die Polizei alarmieren, sofort! Das Dorf
muss evakuiert werden!“
Worauf von oben eine weibliche verschlafene Stimme ertönte: „Müsst ihr denn so einen Krach machen!“
Das war Sophie, die Tochter des Professors. Sie stand auf der Treppe, in einem kurzen Nachthemd, und sah missmutig auf die Männer herab, und alles, was in den letzten Minuten passiert war, hatte
Alex mit einbem Schlag vergessen.Aus blauen Augen strömte Veilchenduft auf ihn herab doch irgendwo in seiner Verzückung geisterte etwas herum, das beunruhigte ihn, er versuchte es zu fassen, fand
aber nur das Wort „Blaulicht“, Aber genau das war es ja!
„Herr Professor!“ Hastig griff er zum Telefon. „Warum die Polizei?“
„Frag nicht so dumm. Beeil dich! Und du da oben, zieh dich an!“
Seine Tochter machte eine Grimasse und verschwand.
„Das Ding ist ja tot!“ Verblüfft hielt Student das Telefon in der Hand.
„Aber natürlich", donnerte der Professor, „ist doch logisch! Nimm das Rad und saus los!“
Und dachte mit grimmiger Anerkennung: So was.. Darauf konnte nur Er kommen!
Nein, Blaulicht war nicht nötig, wahrscheinlich hatte der Professor mal wieder eien Beschwerde wegen Lärm oder so was. Aber dann standen die beiden Dorfpolizisten in der Diele und versuchten zu
begreifen.
„Das Dorf schrumpft?“
„Ja, meine Herren! Alles schrumpft hier! Sie übrigens auch!“
„Herr Professor belieben zu scherzen?“ fragte der eine Polizist vorsichtig, dessen Augen und Nase rot vom Heuschnupfen waren, die Dienstmütze unter den Arm geklemmt.. Sein Kollege drückte die
Mütze mit beiden Händen an den Bauch und sagte mit der Absicht, Ruhe auszustrahlen, sanft: „Herr Professor ... Wenn Sie jemand im Schlaf gestört hat, so werden wir selbstverständlich ...“
Da riss der Professor ihm die Mütze aus den Händen und drückte sie ihm auf den Kopf: „Jetzt ist aber genug. Ab ins Auto, marsch. Ich zeig euch was!“
Kurz darauf fuhr der Streifenwagen langsam auf der Asphaltstraße entlang. Sie entdeckten Autos, die im Spalt stecken geblieben waren, eines stak fast kopfüber darin, die Polizisten holten die
hysterisch schreiende Fahrerin heraus, dabei bemerkten sie, wie sich der Riss unter ihnen vergrößerte. Es gelang ihnen noch, über Funk das Polizeipräsidium in Berlin darüber zu informieren, dass
sich die Straße in eine Sandstraße verwandele und die Autos offenbar wegen zu kleiner Räder darin stecken blieben, dann brach der Funkkontakt ab.
Der Funkspruch löste im Präsidium teils Kopfschütteln, teils Gelächter aus. Als sich aber ähnliche Meldungen im Umkreis des Dorfes häuften und ein Kontakt nicht mehr zustande kam, da wurde klar,
hier geschah etwas Katastrophenartiges. Das Technische Hilfswerk, die Feuerwehr, der ärztliche Notfalldienst, sogar eine Kompanie Pioniere wurden sofort nach Blankenau in Marsch gesetzt. Ihnen
entgegen kamen die ersten Flüchtlinge.
Innerhalb einer Stunde war die Spalte zu einem 30 m breiten Streifen aus Lehm und Sand gewachsen, wie ein Ring zog er sich ums Dorf und wurde immer breiter. Es ließ sich nicht anders sagen: Das
Dorf schrumpfte. In großer Eile wurde alles Lebendige, Menschen und Tiere, evakuiert. Dann sperrte man das Gebiet weiträumig ab.
Der im ganzen Land bekannte Professor Hertling weigerte sich, das Dorf zu verlassen. Als Wissenschaftler, so erklärte er, halte er es für seine Pflicht, die Stellung zu halten, denn hier geschähe
etwas sehr Bedeutendes für die Menschheit. Auch seine Tochter lehnte die Evakuierung ab. Ohne sie sei ihr Vater nämlich aufgeschmissen, er würde glatt verhungern. Worauf Alex Hübner, Student und
Assistent des Professors, verkündete: Selbstverständlich bliebe auche r zurück.In einer solchen kritischen Situation sähe er seine Hauptaufgabe darin, der Tochter und dem Professor nicht nur aus
wissenschaftlichen, sondern auch aus zutiefst menschlichen Gründen beizustehen. Der Professor grunzte, sagte aber nichts, man nahm es als Zeichen der Zustimmung.
Ab 9.30 gab eserste Lifeübertragungen aus Helikoptern, die über dem Dorf kreisten. Man versuchte, die drei zurückgeblieben Menschen ausfindig zu machen, aber sie hielten sich wohl im Haus
des Professors auf. Um 10.15 bekamen die TV-Teams den Befehl, sofort den Luftraum zu verlassen. Die Regierung wollte einen eigenen Helikopter zu schicken, um in letzter Minute Kontakt mit dem
Professor aufzunehmen. Inzwischen war das Dorf auf die Größe eines Fußballfeldes geschrumpft.
In der Tat, die drei Zurückgebliebenen hielten sich im Haus auf. Der Professor hatte seine Tochter und seinen Assistenten zu einer Lagebesprechung ins Wohnzimmer gerufen. In einer grauen
Wolljacke, deren sämtliche Knöpfe verschwunden waren, und in einer Cordehose mit hängendem Hosenboden ging er im Zimmer auf und ab.
Alex und Sophie saßen auf dem Sofa. Sie trug eine kurzärmelige Bluse in sehr hellem Gelb und eine Latzhose mit abgeschnittenen Hosenbeinen. Blaue Fransen lagen auf den nackten Schenkeln. Axel
schielte ab und zu hin, sie registrierte es aus den Augenwinkeln.
Ein Räuspern erklang. Mit gerunzelten Brauen blickte der Professor auf die beiden und sagte: „Ich muss mich schon sehr wundern. Ihr stellt keine Fragen? Und Sie, Alex, Sie als Wissenschaftler
machen sich gar keine Gedanken?“
„Doch, Herr Professor.“ Alex stand auf. „Wenn Sie erlauben ... Ich habe nachgedacht, ja, das habe ich. Folgendes. Wir sind der Menschheit verloren gegangen wie Schiffbrüchige auf einer
unbekannten Insel. Es kann jedoch nicht die Absicht der Geschichte sein, dass wir hier gelandet sind, um auszusterben. Ich bitte Sie daher um die Hand Ihrer Tochter.“
Sophie gluckste und der Professor starrte ihn an, als hätte er ein unbekanntes Wesen vor sich, dann knurrte er: „Erstens: Setzen Sie sich. Sie befinden sich hier nicht im römischen Senat.
Zweitens: Was reden Sie für einen Quatsch? Außerdem heißt es gestrandet und nicht gelandet. Drittens: Sie haben überhaupt nicht zugehört!“ Und die Pfeife aus der Jackentasche ziehend, fügte er
hinzu: „Ich bitte, jede private Regung, überhaupt jedes kindische Verhalten abzulegen und herzuhören ... Wo ist mein Tabakbeutel?“
„In der anderen Jackentasche wahrscheinlich.“ sagte Sophie. Sie hatte Recht, und Alex, schon zur Suche aufgesprungen, setzte sich wieder.
Die ersten Wolken quollen aus Mund und Nase des Professors. Er machte ein paar Schritte nach links, dann kam er zurück, nahm die Pfeife aus dem Mund, richtete den Stiel auf seinen Studenten und
fragte: „Auftrag ausgeführt und die Haustechnik geprüft?“
„Schon erledigt. Nichts funktioniert. Kein Strom. Kein Telefon. Kein fließend Wasser.“
„Gut. Das war zu erwarten.“ Und zu seiner Tochter sagte er: „Du wirst draußen über einem Holzfeuer kochen. Verbrauche möglichst schnell alles aus dem Kühlschrank. Und damit wir immer genug zu
trinken haben, wird Alex die Häuser nach Trinkwasserflaschen durchsuchen, notieren Sie auch vorhandenes Wasser in Schwimmbecken. Das wird unser Brauchwasser. Auch die Lebensmittel werden
beschlagnahmt. Und Taschenlampen und Batterien. Achja. Unsere Notdurft verrichten wir ab sofort draußen, hinter dem Schuppen. Alex, Sie bauen dazu einen Donnerbalken.“
„Bitte was?“
„Noch nie gehört? Eine Grube, ein Balken drüber, fertig ist das Klo.“
Und wieder sog er an der Pfeife. Mit der Hand zerteilte er die Rauchwolke vor seinem Gesicht. „Dass ihr noch immer nicht fragt, was hier geschieht, erstaunt mich.“
„Aber Sie wissen doch, Herr Professor: Wir vertrauen Ihnen voll und ganz“, sagte Alex und blickte treuherzig.
„So .. Dann hört mal zu. Also, um es kurz zu machen, meine Lasersignale haben einen Empfänger gefunden.“
Alex schluckte und fragte heiser: „Und wer, bitte, ist das?“
„Der Herr des Universums“, sagte der Professor. „Besser bekannt als Gott ... Was zum Teufel ist das?“
Es krachte und knatterte, das Haus bebte, sie stürzten hinaus. Den Himmel verdeckend, stand über ihnen ein eisernes flatterndes und dröhnendes Ungetüm. Auf allen Seiten wirbelte Sand auf. Aus der
Maschine beugte sich ein behelmter Kopf mit einem Gesicht groß wie ein Gartentisch. Der Professor lief ins Haus zurück, „Pinsel! Farbe!“ rief er, Alex sauste in den Keller, während Sophie, die
rasch erkannte, was ihr Vater vorhatte, nach einem Bettlaken schrie. Zu spät, denn Alex war schon da mit dem Geforderten und der Professor fegte mit dem Pinsel über das schneeweiße Tischtuch, als
hätte er soeben die Weltformel gefunden. Das eine Ende des Tuches packend, Alex das andere, so rannten sie hinaus und spannten es zum Himmel. Offenbar hatte der Pilot die Gefahr für das Haus
erkannt und war höher gestiegen, der Co-Pilot konnte aber noch Folgendes lesen: „Haut ab! Hier ist alles o.k.“ Darauf drehte der Helikopter ab und das nicht wegen des deutlichen Textes, sondern
weil die Regierung, die alles über Video verfolgt hatte, befürchtete, das ganze Dorf könnte vom Sandsturm weggeweht werden.
Der Professor wischte sich das Gesicht mit einem Zipfel der Tischdecke.
„So. Und jetzt an die Arbeit, Leute.“
Als der Helikopter auf dem Dach des Bundeskanzleramtes landete, lag dort bereits eine Blitznachricht vor: Blankenau sei um 11.53 vom Boden verschwunden.
Der Professor zog sich in sein Zimmer zurück, das nicht nur sein Schlaf-, sondern auch sein Arbeitszimmer war, und klappte seinen Batterie getriebenen Laptop auf. Duzrch das geöffneten Fenster
klang wenig später leise wie das Plätschern eines Wasserhahns das Klappern der Tastatur. Plötzlich stand Alex am Fenster und stammelte: „Herr Professor! Kommen Sie! Schnell.. Unter der Erde ist
der Himmel!“
Der Ausdruck im Gesicht des jungen Mannes beunruhigte den Professor mehr als die Worte.
Und dann stand er vor dem Loch und sah ... nichts. Es war eben ein Loch.
„Aber nein! Sie müssen sich hinunter beugen. Ganz dicht ans Loch! Den Kopf auf den Sand legen!“
Zuerst wollte der Professor fragen, wo sein Assistent seinen Kopf trage, aber da blitzte es unten im nachtschwarzen Loch auf, er kniete sich nieder und starrte hinunter.
„Sieht doch aus wie ein Sternenhimmel, da unten, nicht wahr?“
Sich mit beiden Händen abstützend, erhob sich der Professor, rieb sich die Erde von den Knien und sagte: „Gratuliere, Alex. Sie haben eine Entdeckung gemacht. Nur dass es nicht der Sternenhimmel
ist, sondern die atomare Welt. Wir sind unter die Schwelle der Moleküle geraten, in den atomaren Bereich.“
„Bei den Atomen?“
„Mensch, haben Sie denn noch nicht bemerkt, dass die Sonne weg ist?"
Über dem Dorf waren weder ein blauer Himmel, noch eine Sonne zu sehen, sondern ein milchiger Dunst, der blasses Licht verbreitete.
„Ausläufer des fernen Sonnenlichts, es sind nur ein paar Lichtteilchen, aber es reicht ... Nun zeigen Sie doch endlich ein bisschen Begeisterung, Alex! Sehen Sie denn nicht, wie schön die Welt
ist? Wie fein durchdacht vom Größten bis zum Kleinsten! Von den Sternen bis zu den Atomen. Mit anderen Worten: Das alles ist ein geniales oder, genauer gesagt, ein göttliches
Computerprogramm!“
„Ach, Herr Professor“, gab sein Aisstent zurück, „das sagen Sie schon seit Jahren. Wenn Sie es doch endlich beweisen könnten.“
Darauf knurrte der Professor: „Na, wqenn nicht, dann landen wir bald in einer Petri-Schale landen." Als er das Erschrecken in den Augen seines Assistenten sah, fügte er beruhigend hinzu: „Keine Angst, vorher passiert noch was..."
Nein, Alex hatte keine Angst, aber er beschloss, keine weiteren Fragen zu stellen.
Als der Professor in sein Zimmer zurückgekehrt war und wieder vor seinem Laptop saß, dachte Alex nach. Etwas in ihm sträubte sich gegen den Zweck des Loches. Er malte sich aus, was passieren
würde, wenn ... Nein, dergleichen war weder den Atomen noch den Menschen zumutbar. Und da erinnerte er sich, im Nachbarhaus einen nagelneuen WC-Sitz gesehen zu haben. Den holte er, einen Stuhl
schleppte er gleich mit in den Schuppen. Nachdem er den Polstersitz aus dem Stuhl geschlagen hatte, nagelte er den WC-Sitz darauf und stellte einen Eimer darunter. An die Rückenlehne band er eine
Rolle Toilettenpapier. Dann setzte er auf einen Hocker eine Plastikschüssel mit Brauchwasser, legte eine Seife daneben und hängte ein Handtuch an die Schuppenwand. Das alles zeigte er
Sophie.
Sie tat, als sei das etwas Selbstverständliches. Doch als sie später zum ersten Mal in den Schuppen ging, frohlockte er, und dies nicht nur, weil sie sein Werk benutzte, sondern weil er, als sie
herauskam, geistreich fragen konnte: „Na, wie war der Stuhlgang?“
Der Blick, den sie ihm zuschleuderte, war von der Machart des Professors, und so wusste er, er war nichts anderes als ein Zeichen heimlicher Anerkennung. Er war glücklich.
Der Tag verging mit weiteren Arbeiten, die mit ihrer Situation zu tun hatten. Am Abend aßen sie bei Kerzenlicht. Der Professor hatte darauf bestanden, jede Kerze auf eine Untertasse mit Wasser zu
stellen. Er hätte keine Lust, als Asche aufzuwachen, sagte er.
Noch während des Abendbrotes lockte sie ein silbernes Flimmern an den Fenstern ins Freie.
Und dann staunten sie. Hoch über ihnen flogen Funken, Blitze schossen durch die schwarze Nacht, Explosionen entfalteten ihren Fächer und klappten ihn zusammen, es glühte und blinkte, man konnte
keine Ordnung erkennen, und der Professor erklärte, Atome seien nun einmal in ständiger Bewegung.
Als ihre Augen zu schmerzen begannen und es ihnen übel wurde, flüchteten sie ins Haus.
Axel bekam das Gästezimmer zugeteilt, das Wand an Wand mit Sophies Zimmer lag. Beim Versuch, die Geräusche von nebenan zu erraten, schlief er ein. Bald darauf tastete sich Sophie den dunklen Flur
entlang. Mit einem Ohr lauschte sie, wie es ihrem Vater in seinem Zimmer ging, das andere spitzte sie in Richtung Gästezimmer. Weder hier noch dort ein Zeichen von Leben. Dann ging auch sie zu
Bett.
Der Professor aber wälzte sich. Er rätselte, er grübelte. Die Antwort auf seine Signale war da, also stimmte seine Hypothese, aber wieso zeigte sich der Große Programmierer nicht? Hatte der seine
Botschaft nicht richtig verstanden? Was heißt Botschaft! Es war, recht besehen, ein jahrelanges Gebet an den Schöpfer dieser Welt: Gib mir meine Marianne wieder! Vor achtzehn Jahren hast du sie
mir genommen. Sie starb ja viel zu jung. Also, was ist, Herr Gott? Du kannst doch nicht nur das Dorf schrumpfen lassen, damit ist es doch nicht getan, das sagt mir gar nichts ...
Der Professor stöhnte auf. Ja, er war endlich eingeschlafen, aber sein Gehirn war hellwach, er hatte sogar den Eindruck, als säße es ihm gegenüber und beobachte ihn. Komisch, es hat ein
Smileygesicht. Jetzt kommt es ihm sogar näher, noch näher. Was ist das bloß?
Angestrengt öffnet er die Augen, aber er sieht nichts. Er tastet nach der Taschenlampe auf dem Nachttisch, knipst sie an.
„Nicht aufregen.“ Das Smileygesicht hat sich in ein engelschönes Gesicht verwandelt. „Ich bin's.“
Der Professor zwinkert mit den Augen. Was ist das am Bettrand? Ein Mensch ist das, ein Mann ... Der ist ja vollkommen nackt ... Den kenn ich doch? Ein bildschöner Kerl, so was sieht man doch
nicht alle Tage . Wo hab ich den bloß schon mal gesehen? Und ist das womöglich ein erotischer Traum?
„Träum ich?“ fragt er laut.
„Nein nein“, lächelt der junge Mann. „Weißt du, Professor, ich dachte, ich kündige mich erst einmal an. Schlaf weiter. Wir sehen uns bald wieder!“
„Aber zieh dir was an“, murmelt der Professor, aber da ist er schon allein. Einen Moment denkt er nach, kommt jedoch zu keinem Ergebnis. Er knipst die Taschenlampe aus, legt sie im auf den
Nachttisch. Bums. Daneben gelegt.
Danach ist Stille, bis er zu schnarchen beginnt.
Um halb sieben weckte ihn Sophies Stimme an der Tür: „Paps! Frühstück!“
Als er in die Küche kam, saßen Alex und Sophie bereits am Tisch. Sogar aufgebackene Brötchen gab es.
„Wo kommen die denn her?“
„Na, vom Nachbarn, Paps. Alex hat sie gestohlen.“
„Requiriert! Herr Professor, würden Sie Ihrer Tochter bitte erklären, was requiriert ...“
„Keinen Streit, zum Donnerwetter“, unterbrach ihn der Professor und schnitt ein Brötchen an. Brötchensplitter spritzten über den Tisch. „Haben Sie die Splitterbombe fabriziert, Alex?“
„Hat er“, nickte Sophie.
Das war zu viel. In aller Frühe im Freien Feuer machen, die Brötchen in einer Pfanne backen, dazu Sophies unqualifizierte Bemerkungen anhören und jetzt das. Entrüstet, aber mit Würde erhob sich
Alex. „Herr Professor! Erlauben Sie! Ich hatte die Absicht, die Pfanne vom Feuer nehmen, aber sie ließ mich nicht! Sie sagte, Sie würden die Brötchen am liebsten dunkel wollen. Sie ging sogar so
weit, in mein Handgelenk zu beißen, ich ... “
„Setzen Sie sich!“ sagte der Professor ungehalten. „Und legen Sie die Serviette hin.“
Alex setzte sich. Sorgfältig breitete er die Serviette, mit der er während seiner Rede irgendjemandem gedroht hatte, auf den Knien aus. Ja, falls es noch niemand bemekt haben sollte: er war ein
Ästhet, gerade in solchen unschönen Momenten nahm er sich die Zeit, es jedem zu zeigen. Und dann sagte er: „Herr Professor, bitte weisen Sie Ihre Tochter darauf hin, dass ab jetzt und für die
weitere Zukunft ihr nur ein Mann zur Verfügung steht, das bin ich, und ich empfehle dringend, mich entsprechend zu behandeln.“
Der Professor vergaß, in sein Brötchen zu beißen. Auch Sophie war verdutzt. Daher sah er sich veranlasst, eine weitere Erklärung abzugeben: „Es tut mir leid, ich muss es noch einmal sagen. Wer
weiß, wie lange wir im atomaren Bereich leben müssen. Und da kein anderer Mann weit und breit zu sehen ist, ist sie zweifellos auf mich angewiesen.“
Sophie brach in Gelächter aus, während ihr Vater überlegte, ob sein Student wirklich zum Wissenschaftler geeignet sei. Vielleicht wäre für ihn eine Politikerlaufbahn besser. Jedenfalls war ihm
der Appetit vergangen. Er legte das Brötchen zurück, stand auf und sagte: „Ich mache einen Morgenspaziergang. Danach Lagebesprechung. Listet schon mal eure Fragen auf.“
Kaum war er aus der Küche, begann Sophie zu kichern. Gelassen sagte Alex: „Spotte nur, so lange du willst. Du wirst mich noch lieben, Sophie. Vielleicht liebst du mich schon.“
Und da hörte sie auf zu kichern.
Dem Professor ging sein nächtliches Erlebnis durch den Kopf. Sollte es wirklich kein Traum gewesen sein, dann müsste bald etwas passieren. Sprach diese merkwürdige Gestalt nicht von einem
Wiedersehen? Dann nicht hier, lieber draußen.
Er nahm den Weg zum Wald. Ach, der Wald war nicht so wie früher. Was war ihm passiert? Mehr grau als grün war das Laub und mehr schwarz als braun waren die Stämme. Als sei Asche über die Bäume
geworfen worden. Und wie der Professor den Blick zum Himmel richtete, erhielt er die Antwort. Ja, richtig, die Sonne fehlte. Wie deprimierend. Sollte ab sofort immer November sein?
In diesem Augenblick blitzte es auf, am Himmel erstrahlte ein Licht und alles um ihn herum bekam seine natürliche Farbe. Er kniff die Augen zu. Und wie er sie wieder öffnete, stand vor ihm sein
nächtlicher Gast.
„Ich habe deinen Wunsch erfüllt“, sagte der junge Mann mit angenehmer Stimme. „Da hast du die Sonne.“
Der Professor tat, als sei er kein bisschen überrascht und antwortete: „Das war kein Wunsch. Bloß eine Tatsachenfeststellung.“
„Eine bedauernde Feststellung. Bist du jetzt zufrieden?“
„Nicht ganz. Wie willst du die Sonne physikalisch erklären? Eine Sonne im atomaren Bereich!“
„Hat der eine Erklärung nötig, der das Universum geschaffen hat? Nimm es einfach hin, lieber Mensch!“
Wieder hatte der Professor das Gefühl, diesen Schönling schon früher gesehen zu haben. Zwar trug er jetzt ein blaues T-Shirt, Jeans und Sandalen, aber seine herrliche Figur war immer noch zu
erkennen, dazu das Gesicht mit diesen weichen und doch männlichen Zügen, dieses gewissermaßen Griechisch-Römische ...Beinahe hätte sich der Professor vor die Stirn geschlagen. Dieser junge Mann
war die Kopie einer Statue! Und zwar einer weltberühmten - der von Michelangelos David.
„Ich, der Schöpfer des Universums“, sagte der schöne Jüngling, der seine Gedanken gelesen hatte, „kann mich mit dem perfekten Körper schmücken und bin in deinen Augen doch immer nur ein einfacher
Programmierer, stimmt's?“
„Und jetzt haben wir den Beweis“, dachte der Professor zufrieden. Oho, man wird das physikalische Weltbild korrigieren müssen und nicht nur das. Er stellte sich vor, wie er in seiner Rede zur
Nobelpreisverleihung vom wahren Ursprung des Universums berichtet und wie sämtliche Zuhörer nach Luft schnappen, besonders seine schärfsten Konkurrenten, die ihn stets verspottet und ausgelacht
haben, wenn er auf ein geheimes Zeichen diesen jungen Mann, den man „Gott“ nennt, auf dem Podium erscheinen lässt.
„Am besten, du vergisst es.“ Als wäre Gott in seinen Kopf gesprungen, hörte der Professor ihn dort sprechen. „Ich würde ohnehin nicht mitmachen.“
Der Professor schüttelte den Kopf, als hätte er Wasser in den Ohren, zusätzlich schlug er sich mit beiden Händen auf die Ohren.
„Nur ruhig, Professor, denken geht schneller als sprechen, das weißt du doch. Also denk mit mir.“ Der junge Mann legte einen Arm um den Professor. „Gehen wir ein wenig und besprechen wir
Wichtigeres.“
Und so sprachen sie in tiefem Schweigen, während sie über den Waldweg wandelten.
„Schon lange, lieber Professor, empfange ich deine Botschaft. Aber ich sah keinen Grund, um zu kommen. Bis gestern. Du glaubst, die Schrumpfung sei ein Zeichen von mir? Da irrst du dich. Die
Schrumpfung ist der Beginn einer Katastrophe, die ich verhindern muss. Ein feindlicher Hacker hat ein Virus in mein Programm geschmuggelt, er ließ das Dorf schrumpfen, um dich zu vernichten,
damit du mir nicht helfen kannst. Ja, wer kennt dich nicht in der wahren Welt? Du bist meine beste Erfindung und meine einzige Hoffnung. Ich konnte die Schrumpfung gerade noch stoppen - aber das
Virus kann jederzeit wieder aktiv werden, und dann, mein lieber Professor, schrumpft mein Programm und mein Universum wird ausgelöscht udn dich und die Menschheit gleich mit.“
Der Professor dachte verwundert: „Ich soll dir helfen? Ich, dein Geschöpf?“
„Du hast dich zu einem Genie in der Schaffung von Anti-Virenprogrammen entwickelt. Und du weißt so gut wie ich: Wenn man nicht mehr weiterkommt, muss man einen völlig neuen Weg gehen, vielleicht
sogar einen absurden. Ja, dass ich dich um Hilfe bitte, ist absurd. Doch das Absurde ist in verzweifelten Fällen oft das Richtige!“
Gerade kamen sie an einem Vorgarten vorbei, an dessen geschmiedeten Eisenzaun lehnte sich der Professor und dann polterte er los mit einer Stimme aus Schmerz und Zorn: „Also so ist das! Du kommst
zu mir, zu deinem Geschöpf, weil du ein Problem hast. Ja, dein albernes Programm ist bedroht, na schön, dann streng dich mal an, mein Herr! Das ist dein Problem! Ich habe auch eins, seit achtzehn
Jahren habe ich eins! Du willst es nicht hören, was? Aber ich schrei es! In dein Menschenohr schrei ich es! Gib mir Marianne wieder! Gib mir meine Frau wieder!“
„Aber, aber, Professor ... Es geht um das Universum!“ Die Stimme des Schönlings war sanft und verständnisvoll. Und dem Professor schoss durch den Kopf, hier wären die Rollen vertauscht: ein
junger Mann spielt den Weisen und ein alter den Rebellen.
„Das ist mir egal ...“ Mit zitternden Händen begann er seine Pfeife zu stopfen. „Hat dein Computer einen Papierkorb? Dann hole sie heraus.“ Mit dem Daumen drückte er Tabak in den Pfeifenkopf,
riss ein Streichholz an und hielt die Flamme über den Tabak. Als er den ersten Zug getan hatte, beruhigte er sich und murmelte: "Also, was ist?"
„Unmöglich, denk doch selbst“, erklärte der Götterjüngling. „Wie willst du das Auftauchen deiner vor achtzehn Jahren gestorbenen Frau erklären?“
„Dein Problem! Das ist meine Bedingung, wenn ich dir helfen soll.“
„Professor, die Welt geht unter!“
„Meinetwegen. Ohne meine Frau ist sie nichts wert.“
„Aber begreifst du nicht ... Wenn ich das tu, mache ich mein Spiel kaputt!“
Das Gesicht des Professors lief schon wieder rot an. „Was sagst du da? Ein Spiel? Unser Leben ist für dich ein Spiel? Ein Computerspiel?“ Der Professor stieß sich vom Zaun ab. „Dann möge das
Universum untergehen. Ich werde dir nicht helfen.“
Und während er er davon rennt als würde er verfolgt, begleitet ihn im Kopf der Disput zweier Stimmen.
Warum tust du so was? sagt die eine Stimme. Warum, du Unmensch, tust du so was?
Die andere Stimme antwortet ruhig, überhaupt nicht gekränkt oder beleidigt: Mein Spiel muss für euch Leben sein, nur so entwickelt es sich. Kann sein, es hat nie ein Ende. Ist das nicht ein
wunderbarer Gedanke? Oder willst du, dass dein Leben bloß ein Bild ist, ein Foto? Leben ist Bewegung und das ist Fortschritt. Wärst du je auf den Gedanken gekommen, mich mit einem Laserstrahl
anzurufen, wenn du Marianne nicht verloren hättest?
Auf diesen Fortschritt kann ich verzichten! sagt die andere Stimme.
Dann verzichtest du aufs Leben.
Erschöpft bleibt der Professor stehen. Teufel noch mal, rennen ist nichts für sein Alter. Er sieht sich um. Wo ist er bloß hingeraten? Ist das überhaupt seine Welt? Und wo steckt dieser Krl? Er
ist nicht da. Stille. Den Kopf gesenkt, wartet der Professor.
Da legt jemand beschwichtigend den Arm um ihn.
„Vertrau mir. Ich hab die beste aller Welten gemacht und sie ist für dich gemacht, für jeden von euch. Du musst die Schatten akzeptieren, sonst gäbe es kein Licht. Lass uns zu den
Kindern gehen. Es ist Zeit. Sie warten auf uns...“
Nachdem der Professor zu seinem Spaziergang aufgebrochen war, formte Alex im Garten die Feuerstelle mit geklauten Ziegelsteinen zu einem prachtvollen Ofen, während Sophie aus dem Schuppen
Kleinholz zum Verheizen holte. Da erstrahlte plötzlich die Sonne am Himmel. Alex, der kühl denkende Wissenschaftler, hatte sofort eine Erklärung parat. Aus der Oberwelt - das heißt aus der
irdischen Dimension - hätten Wissenschaftler ihnen das Sonnenlicht geschickt, mit einem Spezialscheinwerfer.
„Durch ein Mikroskop natürlich“, meinte er ernsthaft.
Und dann geschah etwas, was ihn wirklich sprachlos machte. Der Professor lief vorbei, als würde er gejagt.
„Achtet nicht auf diesen Mann“, schnaufte er und zeigte hinter sich, „er ist der Teufel, er hat uns das alles eingebrockt.“
Erschrocken sahen sie ihn an und Sophie fragte: „Wer? Ich seh niemanden.“
Der Professor drehte sich um und wäre beinahe zu Boden gestürzt, denn da war niemand. Er zog das Taschentuch aus der Jacke, wischte sich die Stirn.
„Nein, dieser Schmutzlappen. Her damit!“ Seine Tochter riss ihm das Tuch aus der Hand. „Das kommt in die Wäsche! Und jetzt, Paps, erzähl mal genau, was passiert ist.“
„Nichts, gar nichts...“ murmelte der, blickte noch einmal zurück und ging mit schnellem Schritt an ihnen vorbei ins Haus.
Zuerst wollte er in sein Zimmer stürzen und irgendetwas zerstören, ja, vielleicht sogar seinen Computer, die komplette Anlage, mit der er Jahre lang nach Gott gerufen hatte. Doch er betrat
instinktiv das Wohnzimmer, das hatte mehr Gehfläche, und dort tigerte er herum. Die rote Wand vor seinen Augen erlosch, dafür sah er das besorgte Gesicht seiner Tochter und das vor Staunen fast
dumme Gesicht seines Assistenten. Sie hatte er völlig vergessen. Auch sie würden mit dem Universum untergehen. Etwas wie ein Schüttelfrost packte ihn, er zitterte und dann schrie er in Gedanken.
„Also gut! Ich mache mit! Komm zurück, Gott!“
Noch eh er zu Ende gedacht hatte, fühlte er sich an der Schulter berührt und eine bekannte Stimme sagte freundlich: „Das war klug, Professor.“
Zur gleichen Zeit ereigneten sich in Berlin seltsame Vorfälle. In einem Einkaufszentrum war es zu einem Auflauf gekommen. Heftig gestikulierend stand ein Rentner mit hochrotem Kopf neben Kasse 2,
und die Kassiererin, ein junges Mädchen mit einem kleinen goldnen Nasenring, sagte fortwährend: „Er wollte mit falschen Zehn-Euro-Scheinen bezahlen.“
„Aber es sind keine falschen! Sie sind bloß kleiner...“ Die Stimme des Alten überschlug sich. Da fiel sein Blick auf einen Mann in der orangefarbenen Arbeitskleidung der Straßenreinigung. Er
trippelte auf ihn zu, stellte sich vor ihn und rief der Menschenlschlange an der Kasse zu: „Seh ich nicht aus wie er? Bin ich etwa falsch? Nein, ich bin bloß kleiner... Einen ganzen Kopf kleiner
..“ Aufschluchzend drückte er sein Gesicht in die Jacke des Mannes. Peinlich berührt schob der ihn von sich. Nachdem sich der Alte beruhigt hatte, erzählte er, was ihm passiert sei. Er sei zu
spät gewarnt worden, er war einer der Letzten, die das schrumpfenden Dorf verlassen hatten, und das hätte ihn seine natürliche Größe gekostet - sein Geld hätte sich ebenso verkleinert und nichts
destoweniger sei es vollkommen echt!
Der Zwischenfall wurde amtlich gemeldet, darauf stellte man den Flüchtlingen eine Bescheinigung aus, wonach ihre verkleinerten Banknoten sowie alle anderen Dokumente amtlicherseits als vollwertig
anerkannt würden.
Ein anderes Ereignis führte zu Staus an den Tankstellen. Vergebens stießen die geflohenen Autofahrer die Tankpistolen gegen die Tanköffnung ihrer Wagen, sie war zu klein. Das Auftanken musste
mithilfe eines Trichters geschehen. Als ein Autobesitzer mit einer Werkstatt Streit bekam, weil man für einen defekten Reifen seines Wagens keinen Ersatzreifen in gleicher Größe hatte, entschloss
man sich, alle Autos aus dem Dorf stillzulegen.
Aber das waren Vorfälle, die niemanden beunruhigten, sondern eher der Unterhaltung dienten. Die Regierung hatte, wie sie selber sagte, alles im Griff, und dann hatte ein stadtbekanntes
Event-Unternehmen fast über Nacht am S-Bahnhof Blankenau einen Vergnügungspark errichtet. Die Menschen verloren jede Furcht, sie kamen in Strömen: Wo man ein Spiel- und Spaßzentrum aufbaute,
konnte kein Verderben sein, und so wurde der Ort des Schreckens ein Ort des Vergnügens. Clowns machten ihre Späße und Artisten zeigten, dass man in dem Sand turnen konnte. Würstchenstände,
Eisverkäufer und ein Biergarten sorgten für das leibliche Wohl. Auf verschiedenen Bühnen traten Sänger mit ihren Bands auf, internationale Showgrößen wurden eingeflogen und Touristen kamen und
machten, im Rücken die weite leere Sandfläche, ihre Selfies. Und alle kauften sich ein Tütchen mit der Aufschrift: 'Originalsand des verschwundenen Dorfes', 100 g für 2 Euro.
Der Michelangelo-David hatte es sich auf dem Sofa bequem gemacht. Im Zimmer auf und ab gehend, mit den Händen fuchtelnd, redete der Professor.
„Du sagst, dein Programm kennt nur zwei Pole - stark und schwach, klug und dumm. Gut. Und was bedeutet das für uns? Wir müssen damit leben. Für dich ist es Unterhaltung, für uns ist es ein Leben
in einem ungeheuren Spannungsfeld, wir werden hin- und hergerissen. Und das ist schmerzhaft ...“ Er verstummte. Plötzlich sagte er mit zusammengebissenen Zähnen: „Du hast uns sterblich gemacht.
Ich möchte jetzt, dass du dich schuldig bekennst!“
„Vergänglichkeit ist im Programm notwendig“, erwiderte der Schönling, „das musst du verstehen. Sie ist der Grund für das Streben allen Lebens nach Beständigkeit. Gäbe es dieses Streben nicht, so
würdet ihr heute noch Amöben sein.... Aber bitte ... Ich mach dir einen Vorschlag. Tiere wissen nichts vom Tod. Möchtest du ein Tier sein? In deinem Fall könnte ich die Naturgesetze aufheben und
dich in einen Feldhasen verwandeln.“
Der Professor schleuderte ihm einen Blick zu, den er für Studenten benutzte, die eine saudumme Bemerkung machten.
„Und mich dann von Füchsen und Jägern hetzen lassen? Sag mal, bist du wirklich so intelligent, Gott?“
Und da lachte der schöne junge Mann und der Professor lachte mit, halb gequält und halb versöhnlich.
Kaum hatten sich Alex und Sophie von der Überraschung erholt, die ihnen das merkwürdige Verhalten des Professors bereitet hatte, erfolgte eine neue. Sie hörten Männergelächter im Haus. Erstaunt
sahen sie sich an und wie auf Kommando schlichen sie zu einem der Wohnzimmerfenster. Tatsächlich, der Professor hatte Besuch von einem fremden Mann.
„Gott, ist der schön“, murmelte Sophie.
Alex witterte sofort Unheil. Schon dem Aussehen nach war der Mann eine Gefahr. Speziell für die aufs Äußere so leicht anfällige Sophie.
„Lass dich von dem Kerl nicht blenden, Sophie!“ flüsterte er. „Das ist ganz einfach ein Plünderer, der hielt sich irgendwo versteckt, und jetzt schleimt er sich bei deinem Vater ein. Außerdem ist
er schwul, das sieht man doch.“
In diesem Moment bemerkte sie der Professor. Er trat ans Fenster, öffnete es und sagte heiter: „Na, hab ich's euch nicht gesagt? Hier ist er. Gott.“
Alex blies durch die Lippen und schwieg.
„Aber Paps, lass doch den Quatsch“, meinte Sophie und zu dem fantastisch gut aussehenden Mann, der sich dem Fenster näherte, sagte sie: „Geben Sie's zu. Sie haben den Abtransport verpennt, nicht
wahr?“
Und der bildschöne junge Mann antwortete: „Ja.“
Worauf ihn der Professor entrüstet ansah.
„Das ist ja ungeheuerlich ... Du lügst?“
„Na schön. Man nennt mich Gott.“ sagte der junge Mann leichthin.
„Er heißt nicht nur so, er ist es! Sag es ihr!“ Bedrohlich blitzten die Augen des Professors. Um ihn nicht weiter zu reizen, sagte die Davidkopie: „Ja, ich bin Gott.“
Darauf brach Sophie in Gelächter aus.
„Bei Alex hat es wenigstens ein paar Tage gedauert, bis er unter dem Pantoffel meines Vaters war!“
Wortlos drehte sich Alex um und stapfte zurück zum Feuerplatz. Eine Schande, dass man seinen Schritt nicht hören konnte.
„Na schön, dann beweisen Sie's mal“, spöttelte Sophie. „Machen Sie ein Wunder. Ein kleines genügt. Wie wä's mit elektrischem Strom in unserem Haus?“ Sie zog eine Schnute. „Bitte, bitte!“
„Was soll das Theater?“ knurrte ihr Vater. „Bist du blind? Er hat die Sonne aufgehen lassen.“
„Natürlich.“ Sie zeigte ihm die Zunge und schlenderte betonst lässig Alex hbinterher.
„Professor, bitte!“, raunte der Große Programmierer hinter ihm. „Ich habe Anzeichen, der Hacker wird aktiv."
„Na, dann an die Arbeit“, erwiderte der Professor und gemeinsam gingen sie in sein Zimmer.
„Ganz einfach.“ In der Hand hielt Alex einen Stock und wie ein Fechter stieß er ihn zwei-, dreimal gegen einen unsichtbaren Gegner. „Ganz einfach. Er kam hinten durch den Garten und dann in die
Küche. Er wollte was klauen und da hat ihn dein Vater erwischt. Und jetzt spielt er den Unschuldigen.“
Sophie krümmte die Brauen, fuhr mit der Zunge über die Lippen. Im Gegensatz zu ihrem Abgang vorhin war sie jetzt ziemlich verwirrt. „Aber du hast doch das ganze Dorf abgesucht.“
„Er hat sich eben gut versteckt, der Halunke.“
Sie blickte ihn streng an. „Das erklärt noch lange nicht, warum Paps ihn Gott nennt.“
„Tja..“ Alex machte ein sorgenvolles Gesicht und kratzte sich mit dem Stock den Knöchel. „Der Alte ist in seiner Gewalt, fürchte ich.“
„Jetzt hör endlich auf. Das wird ja immer schlimmer. Dann wünschte ich schon lieber, er wäre Gott.“ seufzte sie.
„Pff.“ machte Alex und schlug den Stock gegen seine Wade. Zu fest, sein Gesicht zuckte.
„Und dabei ist er so schön!“
„Ha“, tat Alex. „Wer?“
Den Kopf schief legend, sah sie ihn an. „Eifersüchtig?“
„Ich? Auf den? Der ist doch schwul.“
„Meinst du? Na, das wollen wir doch mal sehen...“
Ohne eine weitere Erklärung ging sie ins Haus und auf ihr Zimmer.
Alex wählte die andere Richtung, er betrat die Straße, sah sich herausfordernd um, doch niemand schien sich mit ihm prügeln zu wollen, er kehrte um und schlich geduckt zum Fenster des
Professorenzimmers. Der Professor und der Halunke saßen am Laptop, der Bildschirm zeigte Zahlenreihen und der Professor erklärte etwas.
„Ist das ein Lump“, murmelte Alex, wich zurück und ging ins Haus und dort ins Wohnzimmer. Hier verblieb er in Wartestellung.
Geduldig sah sich Gott die Demonstration der Antivirenprogramme an, bis er plötzlich sagte: „Lieber Professor, das kenn ich doch, das weiß ich doch, ich war doch schon längst in deinem Computer.
Aber meine Welt ist von ganz anderer Art, weder materiell noch elektronisch, sondern, wie soll ich es dir erklären ... Zum Beispiel: wir kommunizieren direkt, wir haben keine Hilfsmittel nötig,
es ist - wie nennt ihr das - Gedankenübertragung.“
Der Professor riss die Augen auf. „Es gibt mehrere von dir?“
„Sogar viele. Und frage nicht nach dem Ort. Wir haben keinen. Wir sind, nach eurem Sprachgebrauch, geistige Wesen. Und nicht nur wir, alles ist geistig bei uns. Selbst unser Computer ist geistig.
Er ist, um es dir bildlich zu sagen, in unserem Kopf, obwohl wir keine Köpfe haben, denn wir haben ja keine Körper. Ist das klar?“
Mit einer hilflosen Geste stand der Professor auf. „Und wie soll ich dir da helfen? Ohne Elektronik? Lass uns einen Spaziergang machen. Ich brauche frische Luft.“
Sie traten in den Flur, gerade als Sophie die Treppe herunterlief, im selben Augenblick öffnete Axel die Wohnzimmertür und sah Sophie stolpern. Doch im glatten Widerspruch zum Trägheitsgesetz
stürzte sie nicht geradeaus, sondern bog nach links und flog - man kann das nicht anders nennen - in die Arme des schönen Halunken. Nun folgte das zweite physikalische Phänomen: Anstatt hinunter,
ging ihr Kopf in die Höhe und ihre Lippen berührten die des Mannes. Darauf wurde sie sich des wundersamen Geschehens bewusst, sie sank in Ohnmacht und dies ganz entzückend.
Einige Sekunden verstrichen, bis der göttliche Jüngling seinen Griff lockerte. Sie schlug die Augen auf und ließ sich langsam auf die Füße stellen. Dort stand sie ein wenig wankend.
Darauf sagte der Göttliche, mit dem Finger über seine Lippen streichend: „Interessant.“
Alex, der die ganze Zeit in seinem Wortschatz vergeblich nach einem geeigneten Wort der Empörung gesucht hatte, sagte düster in die Stille: „Unerhört!“
Auch der Professor besann sich und donnerte: „Sophie! Das Mittagessen!“
Mit einem Knicks entfernte sie sich.
Noch immer stand Alex wie versteinert und wären seine Haare nicht schon von Natur aus zerzaust gewesen, sie hätten sich in alle Richtungen gesträubt. Der Große Programmierer trat nämlich an ihn
heran und sagte mild: „Leide nicht! Nicht ich, du sollst den Kuss deiner Geliebten haben.“ und küsste ihn auf den Mund, worauf Alex wie unter einem elektrischen Schlag zusammenzuckte.
Der Schönling jedoch betastete seine Lippen und murmelte zum zweiten Mal: „Interessant.“
„Was du da gemacht hast, Gott, ist unverzeihlich“, grollte der Professor draußen. „Du mit dem Körper eines Davids von Michelangelo. Selbst ich könnte mich in dich verlieben ... Wieso hast du dir
nicht unser Gottesbild als Vorlage genommen? Ein respektvoller alter Mann mit Vollbart. Das wäre um vieles besser.“
Sie gingen am Schaufenster des Dorfbäckers vorbei. Mit einem Blick streifte der Professor die ausgestellten Torten. „Jetzt hätte ich gern was Süßes“, brummte er.
„Professor!“ mahnte Gott.
„Schon gut. Jaja! Der Weltuntergang! Gehn wir in den Wald, da hab ich meine besten Ideen.“
Bald schritten sie auf einem Waldweg. Außer dem Rauschen der Bäume und dem Kreischen eines Eichelhähers war nichts zu hören. Das Nase leicht erhoben, sog der Professor die Walddüfte ein, er
spürte den so geliebten Rausch kommen, das Entzücken des sich Vergessens und die Freude verwegener Gedanken, und da...
„Ich hab's!“ rief er. „Gott sei Dank!“
„Wieso dankst du mir?“ fragte Gott.
„Sei nicht albern“, sagte der Professor, „ich weiß die Lösung. Ja, wirklich ... Also, pass auf, setzen wir uns hier auf die Felsen, ich erklär es dir.“ Am Wegrand wölbten sich die grauen Buckel
von Findlingen. „Nein warte, ich steh lieber.“ Aber das tat er nicht, er ging auf und ab. „Beginnen wir mit der Ausgangslage. Es handelt sich, nicht wahr, um ein feindliches Virus in deinem
Programm. Gut. Kennen wir, haben wir Menschen auch. Auch uns, das heißt unsere Körper, können feindliche Viren befallen. Schleichen sich ein, werden eingeschmuggelt ... Übrigens, Küsse ... Na,
lassen wir das. Jedoch, im Laufe der Evolution, entwickelte unser Körper ein Mittel, um die Viren zu bekämpfen. Ein einfaches Gegenmittel. Hitze. Ja, Hitze! An dieser Hitze gehen die Viren
zugrunde. Wir nennen die Hitze Fieber.“ Auf einmal blieb er stehen, beäugte einen Busch. „Ein junger Birkbusch! Was für zarte Blätter.“ Er riss eines ab, rieb es zwischen Daumen und Zeigefinger,
schnüffelte daran. „Die müsste man jetzt pflücken“, murmelte er und lächelte. „Aus den getrockneten Blättern machte Marianne einen Tee. Der duftet diabolisch, aber man pinkelt
paradiesisch.“
„Professor!“ unterbrach ihn Gott. „Wenn ich dich recht verstehe, willst du, dass ich Feuer über das Universum schicke. Sollen etwa euren dummen Apokalyptiker Recht behalten?“
Der Professor drehte sich um und rief: „Nicht Feuer, Mann, Liebe! Heiße, leidenschaftliche Liebe! Die meine ich! Sie verbrennt das Böse, sie besiegt das Zerstörende, sie triumphiert über den Tod,
verstehst du? Nur so rettest du das Universum: durch Liebe! Liebe es! Liebe es mit all deiner Kraft, als könntes du ohne es nicht existieren.. Und liebe uns, die Menschen!“
Für einen Moment herrschte Schweigen, dann meinte Gott: „Ich kenne die Liebe nicht. Das ist ein Gefühl, das ich lernen müsste und dazu braucht man einen Körper. Aber ich habe keinen. Ich bin doch
ein Geistwesen.“
„Achja? Und was sitzt da auf dem Felsen? Soll ich dich anfassen?“
Wieder einen Moment Schweigen
„Also soll ich menschlich werden?"
„Bist du das nicht schon?"
Und dann: „Letzte Frage. Woran erkenne ich, dass ich liebe?“
„Gute Frage“, sagte der Professor. „Tat und Beweggrund, daran erkennt man alles., auch die Liebe. In deinem Falle heißt das: Wenn du das Universum vor dem Untergang rettest, nicht weil es ein
Spiel ist. Weil es dein Leben ist! Und jetzt lass uns zurückgehen. Ich habe Hunger.“
Noch immer glaubte Sophie die Arme des Fremden zu spüren, das heißt seine Hände, denn so seltsam es war, sie war überzeugt, sie auf der nackten Haut gefühlt zu haben. Nein, der war nicht schwul,
dachte sie, da kann Alex sagen, was er will.
Ihr Gesicht war gerötet, das musste vom Feuer kommen, denn sie hantierte am „Steinzeitherd“, und weil jetzt auch noch die Sonne schien, hatte sie vernünftigerweise jede unnötige Bekleidung
abgelegt, sie trug einen Bikini, dazu eine Schürze, das musste leider sein, schließlich spritzte Fett aus der Fleischpfanne und im Topf kochten Kartoffeln.
Den „Steinzeitherd“ hatte Alex in der Form eines „E“s gebaut, so dass zwei Feuerkammern entstanden waren.
„Zwei Kochstellen“, erklärte er zufrieden, „das ist mehr Komfort als in der Steinzeit.“
Auch ihm war es warm, aber anders als Sophie war er sich nicht sicher, ob das nur vom Feuer kam. Zum ersten Mal sah er sie im Bikini. Neben ihr kniend (er legte Holzscheite nach), spürte er die
Wärme ihres Schenkels an seiner Wange, anfangs ganz angenehm, aber dann wurde es ihm zu heiß, er zog das Hemd aus, bitteschön, auch er konnte einen durchaus männlichen Körper zeigen. Und das
lenkte auf eine andere Frage: Wie kommt ein Mann dazu, ihn einfach zu küssen? Auf die Lippen! Ja, unerhört war das, sehr unerhört sogar.
Er griff sich eine Wasserflasche aus dem Eimer, drehte die Kappe ab, es zischte, er trank und goss sich den Rest über Kopf, Rücken und Brust.
Er stöhnte vor Behagen.
„Bist du wahnsinnig?“ Sophies Stimme war böse, aber da schwang etwas in ihr, das gehörte nicht dazu, er hörte es heraus. „Das ist Trinkwasser! Das ist kostbar!“
„Schnell! Dann trink! Leck mich ab!“ gab er heiser zur Antwort. Für den Bruchteil einer Sekunde sah sie ihn an, als wollte sie sein Angebot annehmen, aber dann wandte sie sich zum Topf, hob den
Deckel ab, stocherte mit der Gabel in die Kartoffeln und murmelte: „Das hättest du wohl gern.“
Wenig später saßen sie alle im Garten und aßen von einem festlich gedeckten Tisch. Weiße Tischdecke, rosafarbene Servietten, eine Vase mit Fliederdolden, blinkende Wassergläser. Aus feinem
Porzellan waren Teller und Schüsseln, das Besteck war Mariannes Silberbesteck. Der Professor runzelte die Stirn, sagte aber nichts. Alex schlang die Bissen herunter, warf bisweilen einen
finsteren Blick auf den Schönling, der lächelte zurück und an Sophie verteilte er Komplimente für ihre hervorragende Kochgunst. Sie füllte ihm den Teller nach, indem sie sich tief über ihn
beugte. Ihr Vater bemerkt es. Auf einmal fragte er den Schönling, was er von einem zweiten Spaziergang hielte.
Mit einem Blick auf das junge Paar, der als ein Wink gelten könnte, stimmte der zu: „Man kann nicht genug davon haben, diese Welt ist so schön, man sollten sie überall und jeden Moment
genießen.“
Schon nach kurzer Zeit suchten die beiden Spaziergänger Kühlung. Sie entdeckten unter einem Nussbaum einen Gartentisch mit vier angelehnten Klappstühlen. Zwei stellten sie auf und setzten sich.
Ganz leise rauschte der Baum - ein Wunder, woher der Wind kam - und der schöne Jüngling betrachtete die Baumkrone über sich. In den Lücken glänzte es silbern, jedes Blatt war scharf gezeichnet
und irgendwo sang eine Amsel aus voller Kehle.
„Ich hätte nicht gedacht, dass meine Schöpfung so schön ist. Und das will der Hacker vernichten. Das lass ich nicht zu.“
Der Professor sah ihn prüfend an, dann sagte er: „Und wie war das mit meiner Frau? Vernichtet! Ausgelöscht! Diese schöne, kluge Frau .. für immer ausgelöscht “
Er bekam keine Antwort. Mechanisch zog er seine Pfeife hervor und den Tabakbeutel, stopfte die Pfeife, zündete sie an. Dann saß auch er stumm, nur das „Paff-Paff“ ertönte in regelmäßigen
Abständen, wenn er den linken Mundwinkel öffnete, um den Rauch hinauszustoßen.
Und so saßen sie wohl eine Stunde oder eine Minute, wer weiß schon die Zeit im atomaren Bereich!
Inzwischen hatten sich Alex und Sophie in einem Swimmingpool der Nachbarschaft soweit abgekühlt, dass sie sich um den Kaffeetisch kümmern konnten. Alex sorgte an der Feuerstelle für den Kaffee,
Sophie deckte den Tisch Sie trug jetzt eine cremefarbige Bluse, bis zum dritten Knopf geöffnet, und knappe weiße Shorts, er ein nagelneues T-Shirt und eine Boxerhose, die er bei seiner
Dorfdurchsuchung beschlagnahmt hatte.
Die Stimmung war locker und entspannt. Dann und wann warfen sie sich ein paar Sätze zu.
„Nein, er ist kein Plünderer ... Ich finde sogar, er ist ein netter Kerl“, sagte Alex. Mit der linken Hand hielt er den Kaffeefilter auf einer Thermokanne, mit der rechten goss er aus einer
Kasserolle kochendes Wasser hinein.
„Ja, wirklich ... Und er hat etwas... etwas Besonderes“, antwortete Sophie und legte kleine Löffel auf die Untertassen.
„Stimmt.“ Pause. „Wie meinst du das?“
„Vater sagt 'Gott'. Er sollte sich schämen, so was zu sagen. Aber vielleicht darf er uns nicht sagen, wer das wirklich ist. “
„Meinst du?“
„Ja. Weißt du, ich glaube, er ist ein Außerirdischer. Bestimmt ist er das.“
Beinahe hätte sich Alex verbrüht. „Außerirdischer?“
„Klar ... Denk doch mal nach ... Einer muss doch die Schrumpfung gemacht haben. Und so was kann doch nur ein Außerirdischer tun.“
Ein Außerirdischer! Dass er nicht selbst auf den Gedanken gekommen war. Jetzt konnte er sich diese unheimliche Anziehungskraft erklären. Das war keine menschliche, das war eine außerirdische
Kraft. Natürlich! Der kam von einem anderen Planeten. Und bestimmt züchtet man dort solche Schönlinge. Schrecklich.
„Alex!“ Sophies Stimme kam wie ein Beckenschlag. „Alex! Wir haben keinen Kuchen!“
Schnell den Filter wegstellend, rief er: „Ich geh zum Bäcker!“ und hätte an der Hausecke beinahe den Professor und den Außerirdischen umgerannt. Feierlich trugen sie etwas in den Händen, eine
Nusstorte der eine und der andere eine Käsetorte.
Bei Tisch benahmen sich Alex und Sophie höchst förmlich. Das Theater, wie es der Professor im Stillen nannte, ging am Abend weiter. Er saß auf seinem Stammplatz am Kopf des Tisches, auf der
linken Seite der göttlich schöne Jüngling, neben ihm Sophie, und Alex nahm Platz auf der rechten Seite. Sophie deckte alles auf, was sie nur hatte: Prager Schinken, Salami, Leberwurst, Mettwurst,
Wiener Würstchen, Käse der verschiedensten Sorten, Butter, Erdbeer- und Blaubeerkonfitüre. Sie selbst hatte Brötchen aufgebacken, warm und knusprig dufteten sie im Bastkörbchen. Als Getränk gab
es einen französischen Wein.
„Sieht wie ein großes Abschiedsessen aus“, sagte der Professor.
Erschrocken sahen Sophie und Alex den Schönling an. Der lächelte. „Nein, ich bleibe noch diese Nacht.“
Sofort bot Alex ihm sein Zimmer an, er würde in die Dachkammer ziehen. Worauf Sophie ihm eine Kusshand zuwarf.
Ab diesem Moment übertrafen sich beide in Freundlichkeiten. Wenn sie ihrem Gast etwas reichten - er möge doch bitte einmal dieses probieren und jenes und noch das - taten sie es mit einer
Zartheit, als näherte sich ihre Hand einer chinesischen Vase aus der Mingh-Dynastie.
Zwar war zwischen dem Schönling und Sophie eine gehörige räumliche Lücke, schließlich braucht man beim Essen Ellbogenfreiheit, aber mit der Zeit schrumpfte die Lücke, weniger weil der Stuhl
verrutschte, sondern - da war sie ganz sicher - weil der göttliche Mann ihr näher kam. Das gefiel ihr und sie neigte sich ihm leicht entgegen. Sie sprach lebhaft, mit Feuer, aber plötzlich - in
einem sehr komplizierten Satz - versagte ihre Stimme. Sie spürte, wie sich eine Hand auf ihren rechten Schenkel legte. Dabei sah sie die Hände des Göttlichen auf dem Tisch! Mit der einen schnitt
er Scheiben von der Salami, mit der anderen hielt er sie fest. Trotzdem gab es diese Hand auf ihrem Schenkel, sie fürchtete sich hinzusehen, denn wie ein Hauch glitt sie auf der Haut entlang,
vielleicht war es ja auch bloß Luft ... nein, das war nicht mehr auszuhalten, sie sprang auf, entschuldigte sich und lief ins Bad. Das erhitzte Gesicht tauchte sie in die Wasserschüssel, bis sie
Luft schnappen musste. Während sie sich abtrocknete, betrachtete sie sich im Spiegel. Das flackernde Kerzenlicht holte ihr Gesicht heran, drückte es wieder fort ins Dunkle. Das Stirnhaar war
feucht geworden und eine Strähne klebte an der Schläfe. Plötzlich riss sie das Band aus dem Haar, es fiel über ihre Ohren und auf die Schultern. Ohne einen weiteren Blick in den Spiegel verließ
sie das Bad.
Alex ging an ihr vorbei, sie sah ihn nicht. Beim Hinsetzen schob sie ihren Stuhl mit der Fußspitze leicht nach rechts, und kurz darauf lag ihr nackter Arm an dem des Mannes.
Während Sophie sich im Bad aufhielt, bekam Alex Probleme mit seinen Augen. Ja, zweifellos war sein Gegenüber ein schöner Mann, wenn nicht gar der schönste, und selbst wenn er kein Außerirdischer
sein sollte, so reichte das, um immer wieder hinzusehen. Peinlich nur, wenn sich die Blicke trafen. Beim dritten Mal wurde Axel so verlegen, dass er hastig nach dem Brotkorb griff, obwohl noch
eine Brotscheibe auf seinem Teller lag. Offenbar hatte der Schönling dieselbe Absicht und ihre Hände stießen zusammen - und schienen sich nicht mehr zu lösen. Fast flehend blickte Axel ihn an,
der hob nur leicht eine Braue, und Alex erkannte verwirrt, dass er die Hand des anderen hielt. Sofort schüttelte er sie, sagte grinsend „Guten Tag!“. Er fühlte, wie ihm das Blut ins Gesicht
schoss, stand hastig auf, murmelte eine Entschuldigung und ging ins Bad. Die ihm entgegenkommende Sophie bemerkte er nicht. Mit beiden Händen warf er sich das Wasser ins Gesicht. In den Spiegel
blickend, sah er das Kerzenlicht flackernd auf seiner Brust. Das T-Shirt war nass geworden und modulierte die Muskulatur darunter. Er betrachtete es ruhig und ausgiebig, sogar mit Wohlgefallen,
und ohne Gesicht und Haare zu kontrollieren, ging er zurück auf seinen Platz.
„Hast du geduscht?“ witzelte Sophie. Er hätte sein T-Shirt gewaschen, lachte er, und von diesem Augenblick redeten alle, ohne viel nachzudenken, aber mit Witz und Vergnügen. Sogar der Professor
lachte oft und weil sein Lachen wie Ziegenmeckern klang, lachten die anderen noch mehr, und er, als er merkte, wie sein Gelächter alle amüsierte, meckerte oft los aus nichtigem Anlass, was einen
Lachanfall der anderen zur Folge hatte, was dann wiederum ihn amüsierte.
Kurzum, eine tolle Party.
Als das Gelächter allmählich ausblieb und das Gespräch nur noch tröpfelte, stand Sophie auf, sie wolle noch schnell „unserem Gast“ sein Bett machen und dann schlafen gehen, sie wünschte allen
eine Gute Nacht. Bald darauf folgte Alex und eine halbe Stunde später sagte der Große Programmierer dem Professor Gute Nacht. Dieser wollte ihm sein Zimmer zu zeigen, doch der winkte ab, er
wüsste schon, wo es sei.
Worauf der Professor ein wenig dumm erwiderte: „Na klar, du bist ja Gott.“
Und dann saß er allein am Tisch, das Schlachtfeld eines Gelages vor Augen, die Kerzen waren fast niedergebrannt, er sah sich um, fand aber nichts Sehenswertes und brummelte: „Merkwürdig. Ich bin
überhaupt nicht müde.“ Er nahm sein Weinglas, die angebrochene Weinflasche und ging in sein Zimmer. Wenig später konnte man am Schlüsselloch Tabakrauch schnuppern und wenn man das Ohr an die Tür
legte, hörte man das Umblättern von Buchseiten.
Nachdem Sophie das Gästebett neu bezogen hatte, hätte sie in ihr Zimmer gehen sollen. Merkwürdigerweise blieb sie im Gästezimmer, ja, sie entkleidete sich, blies die Kerze aus und legte sich ins
Bett. Nach einer Weile kamen Schritte, das war Alex, der die Dachkammer aufsuchte. Gut. Und dann neue Schritte. Sie zog sich die Decke über den Kopf. Jemand trat ein, warf seine Kleider ab, hob
die Bettdecke und ... Ein Seufzer.
Etwa zehn Minuten später öffnete sich die Tür erneut, Jemand kam lautlos herein, tastete nach der Bettdecke, schlüpfte darunter. Als er die berauschende Wärme eines Körpers fühlte, hätte er am
liebsten gesungen, aber das tat er nicht, denn... Ach, das ist unwichtig.
Der Professor wurde einfach nicht müde, im Gegenteil. Der Krimi regte seinen Geist so heftig an, dass der die Zeilen verließ und seinen eigenen Weg ging. Als sei er jetzt der Kommissar, quälte
sich der Professor mit einer Frage herum, nämlich: ob er dem Terroristen, diesem Hacker, wirklich das Handwerk gelegt hatte? Das hing ja letzten Endes von dem Großen Programmierer ab. Doch hatte
der sich heute Abend nicht sehr merkwürdig benommen? Ist man lustig, wenn ein Weltuntergang bevorsteht? Und geht auch noch ruhig zu Bett! Oder ist das vielleicht so - dem Professor wurde es heiß
- dass alles bisher Geschehene zu seinem Computerspiel gehört? Was, wenn auch der Untergang des Universum ein Teil des Spieles ist? Vielleicht gehört dieser Kerl zu der Spielersorte, die keine
Grenzen kennt, die mit Tod und Teufel spielt ... Moment, war da nicht gerade ein Geräusch? Er ging zur Tür, öffnete sie einen Spalt und lauschte. Nichts.
Und wie er sich umdreht, erstarrt er. Die Leselampe ... sie brennt! Er schlägt sich vor die Stirn. Die ganze Zeit hat er bei elektrischem Licht gelesen und es nicht gemerkt.
„Herrgott noch mal!“ ruft er aus. „Hast du es geschafft?“
Natürlich bekommt er keine Antwort. Wozu auch. Es liegt ja auf der Hand!
Überall macht der Professor Licht, im Flur, im Wohnzimmer, in der Küche. Und seltsam: im WEohnzimmer ist ordentlich aufgeräumt, der Tische ist leer und nirgendwo sind Kerzen auf Untertassen. Dann
fällt ihm etwas ein. Jetzt aber schnell ins Gästezimmer. Sachte die Tür geöffnet. Das Flurlicht fällt auf das Bett. Da liegen Sophie und Alex, nackt wie Adam und Eva. Ein Bild für Götter. Beinahe
hätte der Professor sein meckerndes Lachen ausgestoßen. Vorsichtig zieht er die Tür zu, saust die Treppe hinunter in sein Zimmer, setzt sich an den Schreibtisch und schaltet den Computer
ein.
Auf dem Bildschirm erscheint eine Zeile: „Professor, ich liebe dich. Drück die Entertaste.“
„Ach Gottchen.." denkt der Professor. Für einen Moment zögert er, dann ein Fingerschlag - und dann seufzt er auf und er hat das Gefühl, dass alle Last von ihm abfällt. Das Leben ist auf einmal
ganz leicht, so leicht, dass er glaubt, vollkommen glücklich zu sein. Drei Schritte vor ihm steht Marianne, in einem Kleid, das er so liebte: blauweiß-gepunktet, kurzärmelig und mit weißem
Kragen.
„Marianne...“ flüstert er.
„Ja? Ist da jemand? “ Sie schaut sich um und sieht ihn an. Blondes Haar, kurz geschnitten, zarte Brauen über tiefblauen, ruhigen Augen. Sie lächelt und fragt: „Sind Sie auf Besuch? Ist mein
Mann nicht da? Und wo ist Sophie?“
„Ich bin es doch! Dein Mann! Siehst du das nicht?“
„Sie spaßen. Aber Sie haben eine Ähnlichkeit ... Sind Sie sein Onkel? Ich komme gerade aus dem Krankenhaus.“
„Ja, ich weiß.“ Die Stimme des Professors klingt belegt. „Ich war die ganze Zeit an deinem Bett.“
„Nun lassen Sie doch den Unsinn! Mein Mann war das ... Ist er an der Uni? Aber wo ist mein Töchterchen?“ Sie geht zur Tür, greift schon zur Klinke, da ruft der Professor:„Nein! Warte ...“
Sie wendet den Kopf und sieht ihn über die Schulter an. Dieser schelmische Schulterblick.
„Das Töchterchen gibt es nicht mehr“, sagt er leise.
„Was?“ Sie dreht sich vollständig um, stülpt die Lippen wie zum Kuss, wie sie immer tat, wenn sie etwas nicht verstand.
„Sophie ist jetzt erwachsen, Marianne. Sie ist zwanzig Jahre alt.“
Er kann es nicht verhindern, er schluchzt auf, und sie steht mit großen, erschrockenen Augen.
Und das war der Augenblick, als er die Löschtaste drückte.
Den Kopf gesenkt, sitzt er. Dann tippt er: „Ja, ja, schon gut.. Ich verstehe, ich verstehe.“ Seine Finger bleiben auf der Tastatur, er überlegt. Noch was? Wie wär's mit „Ich liebe dich.". Ach,
das weiß er doch längst, ist ja Gott. Er drückt die Sendetaste. Wieder geht ein Laserstrahl ins Universum. Dann schaltet er den Computer aus.
Ein blechernes Geräusch lässt ihn aufhorchen. Er blickt auf die Uhr. 5.10.
Als er vor die Haustür tritt, sieht er.im Briefkasten die Zeitung stecken, er prüft das Datum.14 Mai. In der Küche, im Schein der Tischlampe, durchsucht er die Zeitung Seite für Seite. Nirgendwo
ein Wort von einer Schrumpfung.
Er denkt: Schraubt der einfach zwei Tage zurück. Warum nicht gleich achtzehn Jahre? Aber die beiden dort oben im Gästezimmer, die lässt er so. Interessant. Möchte gern wissen, wie die sich
nachher beim Frühstück herausreden.
Mit einem Becher heißen Kaffees setzt er sich in den Garten. Keine Spur von einer Feuerstelle, na klar. Am Himmel verblassen die Sterne, ein roter Streifen am Horizont wird langsam golden.
Als das Sonnenlicht weich und warm auf der Stirn des Professors liegt, fällt sein Kopf auf die Brust und er schläft ein.