Ich mag alte Menschen, das war schon in West-Berlin so. Dem damaligen Sprachgebrauch nach hatte ich als "möblierter Herr" in der Neuköllner Wohnung einer Rentnerin (Vorderhaus, 3 Stock) ein
Zimmer gemietet. An manchen Abenden saß ich bei ihr im Halbdunkel ihres Wohnzimmers und hörte ihr zu. Sie hatte die Spartakus-Kämpfe erlebt, drei Pflegekinder aufgezogen, war mit dem Bollerwagen
nach Kriegsende übers Land gezogen, um Kartoffeln zu „organisieren“. Es war ein vergangenes Leben, aber es fesselte mich. Immer, wenn ein alter Mensch etwas erzählt, sehe ich ihn durch die
Landschaften seines Lebens wandern. Stundenlang könnte ich zuhören.
Jahre später, ich hatte längst eine eigene Wohnung, kaufte ich eine Ferienhütte in Småland/Schweden und war dort bald mit Gunnar befreundet. Schweden wollen nicht auffallen, mein Freund war ganz
anders. Und das lag nicht nur daran, dass er viel in der Welt herumgereist war. Er mochte Menschen, besonders fremde. Er sprach Englisch, Französisch und Deutsch, schon das war den Dörflern
unheimlich. Aber zutiefst verstörte es sie, wie gern und leicht er sich zu den fremdländischen Sommergästen setzte und mit ihnen plauderte. Er war vom Balkan quer durch Europa bis nach Spanien
getrampt, hatte in Argentinien einer schwedischen Auswandererfamilie beim Aufbau einer Farm geholfen. Und so hörten die Sommergäste ihm zu, teils fasziniert, teils erheitert. Allerdings, und da
hatten die Dörfler Recht, war diese maßlose Kontaktfreudigkeit nicht die feine schwedische Art, und so war Gunnar ein fortwährendes Ärgernis für alle im Dorf.
Mittlerweile war er 78 und nichts an seinem unruhigen Wesen hatte sich geändert. Kaum hatte er davon Wind bekommen, dass ich in meiner Hütte war, rief er mich an. Eine kurze Begrüßung und sofort
legte er los. Er plane eine große Reise, ja, die größte in seinem Leben.
„Nach China! Und ganz allein und weißt du wie? Mit der transsibirischen Eisenbahn! Im nächsten Frühjahr! Garantiert! Es dauert noch ein bisschen. Ich brauch für China besondere Einreisepapiere,
sagt das Reisebüro. Aber darum kümmern die sich. Was sagst du dazu?“
Er war glücklich, das hörte ich seiner Stimme an. Und natürlich gratulierte ich ihm für die großartige Idee. China... Davon träumte er schon seit seiner Jugend. Und ohne dass wir es erwähnen
mussten, wussten wir beide, dass es seine letzte große Reise sein würde.
Zwei Tage später – es war ein Samstagabend – klingelte das Telefon. Als ich den Hörer abhob, hörte ich ein seltsames stockendes Flüstern. Es war Gunnar. Aber was zum Teufel flüsterte er? Ich
verstand kein Wort.
„Sensation!" Pause. Dann wieder: „Sensation!“
„Was ist los? Red lauter!“
Und dann, mehr geraunt als gesprochen: „Du hast doch die Nachrichten gehört. Von der Einbrecherbande?“
Tatsächlich wurde seit einiger Zeit vor einer Bande gewarnt, die leer stehende Ferienhäuser aufbrach, das Inventar stahl und unbemerkt verschwand.
„Ich hab sie entdeckt!" Ich hörte ihn schwer atmen.
„Beruhig dich erst mal!" sagte ich. "
Und dann legte er los. Auf dem Weg zum Wald, wo er eines seiner Vogelhäuser an eine Fichte nageln wollte, sei er an einem Haus vorbei gekommen, das seit vielen Jahren unbewohnt war. Aber heute
stand im hohen Gras ein Auto. Er ging zum Auto und blickte hinein. Teufel auch.. Die Rücksitze waren ja komplett ausgebaut.
„Weißt du, was das heißt? Das ist eine fantastisch gute Ladefläche für Diebesgut, kannst du mir glauben! Ganz klar! Das Haus ist das Nest der Einbrecherbande! Und ich hab's entdeckt!"
Er wollte nachschauen, ob sich jemand im Haus befände, doch kaum hätte er vorsichtig die Tür geöffnet, sei ein riesiger Chinese mit geschwungenen Fäusten auf ihn zugesprungen.
Als stünde er vor einem erregten Bullen, habe er sofort gesagt „Nur ruhig, ruhig..“, sei langsam zurückgewichen, bis er im Freien war, und dabei hätte er – Gott sei's geklagt! – in die Hose
gemacht.
Zuhause klingelte er die Polizei an. Aber die sagten, sie könnten erst am Montag einen Wagen schicken. Anschließend schlich er in den Heizungskeller seines Sohnes und warf die Unterhose in
den Ofen.
Als ich den Hörer auflegte, grinste ich. Ich stellte mir vor, wie er in seiner dreisten Neugier die Tür öffnete und sagen will: „Hej, Mann, was machst du hier?“ Und dann bekommt er eine so
heftige Abfuhr, wie er sie noch nie erlebt hatte.
Am Montag, 9 Uhr früh, wieder Gunnars Stimme, diesmal vergnügt, sogar ein wenig überdreht.
Ein Streifenwagen sei dagewesen, mit zwei Polizisten. Er wollte mit ihnen zu der Diebesbande fahren, aber sie meinten, sie könnten die Arbeit ohne ihn besser machen. Na, jedenfalls würde den
Kerlen jetzt das Handwerk gelegt! Und dann wollte er wissen, ob ich ihn besuche.
Ja, am Nachmittag, sagte ich.
Ich fand ihn in großer Erregung vor. Die Polizei hätte niemanden im Haus gefunden, es sei leer gewesen, auch von einem Auto sei nichts zu sehen gewesen. Er bekam eine Verwarnung wegen Irreführung
der Polizei.
Erregt schlurfte er im Zimmer herum, grollend und grummelnd, in den Pausen stöhnte er auf. Das, was ihm passiert war, beschämte ihn und kränkte ihn tief. Er, der eine Klapperschlange mit einem
Stein totgeschlagen hatte, in den Alpen ohne Seil auf die Berggipfel geklettert war und wie viele Seen und Flüsse hatte er durchschwommen, kein anderer hatte den Mut dazu. Und jetzt... Und dann
lassen sie die Halunken auch noch laufen!
Plötzlich blieb er vor seinem Schreibtisch stehen, wühlte unter alten Zeitungen sein Finnenmesser hervor, schob die Scheide mit dem Messer an seinen Jeansgürtel.
Ich fragte, was er vorhatte.
Er meinte, es bliebe ihm nichts anderes übrig, er müsse die Sache selbst in die Hand zu nehmen.
„Ich werd ihnen die Reifen zerstechen“, knurrte er, „die haun doch ab, die Schweinehunde, aber das werd ich verhindern, sollst du sehen!“
Noch nie hatte ich ihn so aggressiv gesehen und ich dachte, ich muss mitgehen, um Schlimmeres zu verhüten. Aber wahrscheinlich, so hoffte ich, gab es gar keine Einbrecherbande und mit ihm war
bloß die Fantasie durchgegangen.
Minuten später radelten wir zu dem verwilderten Grundstück, stellten die Räder im Sichtschutz einer Hecke an eine Birke und schlichen zur Einfahrt.
Tatsächlich stand im kniehohen Gras ein brauner Pkw, nach meinen geringen Kenntnissen ein Mazta. Das Haus war mehr eine Hütte, hatte zwei Fenster auf der Frontseite, eins rechts und eins links
der Haustür. Das rechte war mit Brettern vernagelt, das andere halb geöffnet. Der Dachfirst hing durch, ein schlechtes Zeichen für den Dachstuhl, dazu fehlten Dachziegel, so dass es dort
hineinregnen konnte, und am Hauseingang baumelte ein Zierbrett, jeden Augenblick konnte es herunterfallen.
„Da verstecken sich die Mörder!“ flüsterte er.
Wenn er zornig war, übertrieb er und so waren aus Einbrechern jetzt Mörder geworden.
Ich musste zugeben, auch auf mich machte alles einen verdächtigen Eindruck und ich verstand die Polizei nicht. Sind die wirklich hingefahren?
Gerade wollte ich ihm sagen, dass wir lieber verschwinden sollten. Es könnten sich ja mehrere Männer im Haus befinden, aber es war schon zu spät.
Geduckt lief er zum Wagen, das Falun-Messer mit rotem Holzgriff wippte auf seinem Gesäß. Wie überlegt er an die Sache heranging, sah ich daran, dass er auf die linke Seite des Autos pirschte, so
gab ihm der Wagen Sichtschutz. Er warf noch übers Autodach einen Blick aufs Haus, nichts rührte sich dort, dann verschwand sein Kopf.
In diesem Moment ging die Haustür ächzend auf und eine riesige Gestalt flitzte, fast schien sie zu fliegen, über die Wiese auf das Auto zu. Das geschah völlig lautlos, aber Gunnar musste etwas
geahnt haben. Sein Kopf kam wieder nach oben, sekundenlang starrten sich beide an, der Mann und Gunnar.
Und dann geschah etwas Seltsames. Der Mann sagte etwas und dann, mit einer einladenden Geste, öffnete er die Wagentür.
Gunnar liebte das Autofahren, allerdings nur als Beifahrer. Er wollte den Ausblick auf die Natur und die Landschaft genießen. Trotzdem begriff ich nicht, wieso er hier ohne zu zögern einstieg.
Der Mann setzte sich ans Steuer und langsam, den Anlasser hatte ich gar nicht gehört, zuckelte der Wagen auf die Grundstückseinfahrt zu. Als er an mir vorbei fuhr, beugte ich mich zum Fenster.
Gunnar lächelte. Es war das halb spöttische, halb schmerzliche Lächeln, das auf Frauen so anziehend wirkte. Er hob die Hand, mir schien, sein Mund formte ein „Hejdo!“ und dann sauste der Wagen
davon, eine Staubfahne hinter sich herziehend. Ich hatte nicht einmal Zeit, mir den Fahrer genauer an zusehen.
Ich war fassungslos. Es hatte keinen Streit, nicht einmal ein Gespräch gegeben. Vielleicht kannten sie sich? Mir fiel ein, Gunnar und seine Frau hatten in den ersten Jahren ihrer Ehe behinderte
und schwer erziehbare Kinder zu sich genommen. Heute waren die Kinder längst erwachsen, vielleicht war der Chinese eines davon, und als er am Wagen stand, hatten sie sich erkannt.
Aber warum ließ Gunnar nicht anhalten, um mir das zu sagen?
Andererseits - denn auch das war so eine Art von ihm - ging er seiner Familie in seinen jüngeren Jahren oft „verloren". Es war, als erinnerte sich sein Blut an die Wikingerzeit. Er suchte
die erstbeste Mitfahrgelegenheit und verschwand. Tage später kam er heim, mit leuchtenden Augen und einem Sack voller Geschichten.
Ich ließ das Grübeln und sah mir die Stelle an, wo der Wagen geparkt hatte. Im Gras lag das Finnenmesser, ich hob es auf. Sein roten Holzgriff war vom vielen Benutzen schon ergraut und die Klinge
durch unzähliges Schleifen schmaler geworden. Doch ein Småländer wirft nichts weg, erst recht nicht ein Finnenmesser.
Ich hob es auf, um es seinem Sohn zu bringen und ihn bei der Gelegenheit über das Wegfahren seines Vaters zu informieren.
Er sägte gerade einen Kiefernstamm in Stücke, die er danach zu Brennholz spalten würde. Als er mich sah, schaltete er die Kettensäge aus und klappte das Visier seines Holzfällerhelms
hoch.
„Was gibt's?“
Ich sagte ihm, sein Vater sei mit einem unbekannten Mann, einem Chinesen, davongefahren, und dann erzählte ich ihm auch noch die Vorgeschichte. Ich konnte beobachten, wie auf seinem
verschwitzten Gesicht das Erstaunen wuchs. Schließlich war ihm die Verblüffung so deutlich anzumerken, dass ich ihn fragte, ob er mir etwa nicht glaube?
Er schwieg und lächelte höflich.
„Jaso.. Du glaubst mir nicht.. Hier, sein Messer, es lag beim Auto.“
Lasse sah es kurz an, wischte sich mit einem Handtuch das Gesicht.
„Na, du weißt doch, er geht dort spazieren. Er hat es wohl verloren.“
Bevor ich widersprechen konnte, sagte er: „Übrigens.. Noch vor ein paar Minuten schüttelte er auf der Treppe seine Sofadecke aus. Ich hab es selbst gesehen.“
Er senkte den Blick. Und da begriff ich. Sicher wusste er von dem blinden Alarm seines Vaters. Das bestärkte ihn mal wieder in seiner Meinung, sein Vater gehöre ins Altersheim. Und jetzt kam auch
noch dessen Freund, der alte Deutsche, und erzählte ihm so einen Blödsinn. Die beiden steckten sowieso schon immer unter einer Decke.
Ich konnte mir denken, wohin mich der Junge wünschte. Ich stieg aufs Rad. Spätestens, wenn sein Vater zurückkommt, wird er sehen, dass ich Recht hatte.
In diesem Moment rief er: „Warte, wir gehen mal hin.“, hängte den Helm an einen Haken der Garagenwand. Offenbar hatte das Finnenmesser doch so etwas wie Zweifel in ihm geweckt. Und ich
dachte: „Sehr gut. Jetzt werde ich dir deine Besserwisserei unter die Nase reiben.“
Es war ein kurzer Weg zum Haus seines Vaters, etwa hundert Meter. Und dann traf es mich. Sein rosa farbiges Rad stand im Fahrradständer vorm Haus.
Verwirrt und grübelnd, wie das möglich war, streifte ich mir im Windfang die Schuhe ab. Da hörte ich drinnen Lasse rufen: „Hej, Papa, Besuch! Wach auf!“
Ich müsste mich sehr irren, wenn seine Stimme nicht triumphierend klang.
Ich trat ins Zimmer. Gunnar saß in seinem grünen abgewetzten Ohrensessel, das Kinn auf der Brust, im Fernseher liefen die Tagesnachrichten.
Lasse klopfte ihm auf die Schulter. Er konnte ihn gerade noch auffangen. Sein Vater war tot.
Vielleicht um mich zu beruhigen, sagte Lasse: „Weißt du, so hat er sich das immer gewünscht. Vorm Fernseher, bei seiner Lieblingssendung weggehen.“
„Weggehen“ sagen die Småländer zum Sterben.
„Er ist nicht weggegangen", sagte ich wütend, „verdammt, er ist weggefahren. Ob du es glaubst oder nicht: Ich habe es gesehen! Er ist weggefahren im Auto eines Chinesen!“
Lange und mit einem leichten Bedauern in den Augen sah mich Lasse an.
Sofort nach dem Begräbnis fuhr ich zurück nach Deutschland. Mir war klar geworden, ich hätte den Chinesen nicht sehen dürfen. Wer immer es war, ich wollte ihm nicht noch einmal begegenen.