Eine Geschichte aus Småland (Schweden) Ende des vorigen Jahrhunderts
1
Schon in frühster Morgenröte hatte Lasse Lindberg die Flagge vor seinem Haus aufgezogen und jetzt trug er eine Krawatte in den Landesfarben: blau mit gelben
Streifen. Er feierte seinen 70. Geburtstag.
An seinem 50. hatte die Feier noch im Gemeindehaus stattgefunden. Damals reihten sich sechs Tische sich hintereinander und füllten den Raum von der Tür bis zur
Rückwand. An die 80 Leute waren gekommen und statt Treibhaustulpen gab es einen Strauß frisch geschnittener Birkenzweige mit baumelnden Geschenkpäckchen und zusammengerollten
Kronenscheinen.
Mittlerweile wird das Gemeindehaus nicht mehr benutzt, es verfällt. Und heute passen seine Geburtstagsgäste in die Sonntagsstube. Wo sind die Leute alle hin?
Weggezogen oder gestorben. Die Alten starben wohl und die Jungen zogen weg, der Arbeit wegen. Die Alten starben ein wenig früher (und schneller, möchte man meinen), wenn die Jungen weggingen.
Damit will Lasse beileibe nichts gesagt haben. Schließlich ging auch seine Tochter weg. Allerdings nicht freiwillig. Ein deutscher Tourist hat sie entführt.
Er hörte kaum zu. Wetter, Politik, das Stilllegen der Schienenbuslinie. Vor zwanzig Jahren sprach man nur von ihm. Da war er noch der Postfahrer des Bezirkes.
Jeder hatte was Abenteuerliches von ihm zu erzählen, denn er kam mit seinem Auto immer an - selbst wenn der Schneeräumer stecken blieb oder Traktoren im Morast festsaßen. Er fand die Spur bis zum
letzten Einödsbauern. Und brachte ihm die Zeitung. Oder die Rente. Oder das Nachnahmepäckchen mit dem Kautabak. Ein Kerl war Lasse Lindberg, ein Kerl wie aus einer Saga. Hoch soll er
leben!
So was hatte heute noch keiner gesagt. War wohl vorbei, die große Zeit. Lasse äugte zu seiner Frau. Es ist noch vielmehr vorbei, Stina, dachte er. Dass du mich
nicht mehr siehst, mit deinen toten Augen, das ist gut. Und dass du dich nicht mehr siehst. Das ist vielleicht am besten daran.
Seine Frau drehte den Kopf fortwährend in die Richtung, aus der gesprochen wurde. Und lächelte. Sie schien glücklich. Als feierte man ihren Geburtstag, dachte er
mit leichtem Grimm.
Sie sieht ja nicht, wie peinlich es ist, dass eine Familienfremde den Kaffee ausschenkt und den Kuchenteller herumreicht. Die kleine Frau mit dem Haarknoten,
die alle nur mit dem Namen ,,Loshult-Kerstin“ kannten, taucht immer zu Familienfesten auf, wenn Hilfe gebraucht wird. Ja, so wird man heute berühmt! Nur, weil andere nichts mehr
schaffen...
Er presste sich an die Rückenlehne. Bloß keinen Schwindelanfall. Der junge Kerl von der Zeitung soll eine gute Geschichte bringen. Noch leben Leute im Bezirk, die
Lasse Lindberg und seine Vergangenheit kennen. Sie sollen in lesen, dass er sich wie eh und je prächtig hält. Besser als sie, womöglich.
„Jaha. .“ knurrte er. Überstürzt setzte Lidhult-Kerstin die Kanne ab und trippelte zu ihm. Er wischte ihre betulichen Pflegehände beiseite. ,,Schaut mal hinaus! Was
seht ihr? Seht ihr auch nur einen Menschen draußen?“
Verdutzt sahen sich die Gäste an. Seine blinde Frau lächelte und schabte die Haut am Halbmond ihrer Fingernägel.
,,Nichts seht ihr. Das seht ihr. Nichts. Das ganze Dorf hockt nämlich in unserer guten Stube, Stina. Kannst du dir das vorstellen?“
Hüstelndes Gelächter. Der bullige Åke, einer der letzten Dorfbauern und Freund derber Witze, lachte: ,,Ist ja noch Winter, aber im Sommer kannst du wieder meckern:
Was für'n Lärm, was für'n Tumult!“
Lasse patschte die knolligen Hände auf die Stoffpolster des Sessels.
,,Ja! Sommergäste! Deutsche!“
Das Stichwort für Erik. Verheiratet mit einer deutschen Frau, wohnte er mit seiner Familie ganz in der Nähe in einem großen Haus mit acht Zimmern, von denen die
Hälfte an Sommergäste vermietetet wurden.
,,Siehst du, Lasse,“ begann er gleichmütig, „man muss auch an die Gemeinde denken. Die Touristen bringen Geld. Zu Göte, ja, und auch zu uns. Und mit unseren Steuern
kommt Geld in die Gemeindekasse, so kann die Straße asphaltiert werden...“
,,Ja! Damit deine Touristen noch mehr rumrasen.“
Göte, der Dorfhändler, der nur wegen der Touristen existieren konnte, walkte die Lippen, blinzelte, dann sagte er: ,,Ich hab eine feine Ansichtskarte vom Dorf
drucken lassen. Da sieht man auch dein Haus, Lasse. Da hast du grade geflaggt. Sieht gut aus.“
In diesem Augenblick schaltete sich die junge Frau ein, die Gemeindevertreterin. Sie hatte die Glückwünsche der Behörde überbracht.
,,Du solltest nicht mehr so viel tun, Lasse. Der Garten, das Haus. . ein bisschen viel. Ich kann euch die Gemeindeschwester schicken, zwei-, dreimal die
Woche."
Sofort unterbrach sie der Alte, wobei er - alle Vorsicht außer acht lassend – sich nach vorn beugte. „Wozu?“ Herausfordernd blickte er jeden an. ,,Was soll das?
Schaff ich es nicht mehr? Ich denke doch. Den Haushalt führ ich so gut wie Stina. Und sollten wir wirklich mal Hilfe brauchen, so haben wir eine Tochter. Sie wäre auch heute hier, wär das Kind
nicht krank. Nein, uns geht es gut, besser als manchem andern.“ Er wechselte den Ton, tat heiter. ,,Wer 70 Jahre auf dem Buckel hat, schafft auch noch dreißig. Seid schon heute herzlich zum
hundertsten eingeladen!“
Gelächter, allseitige Zustimmung.
„Klar, schaffst du das, Lasse.. Und noch mehr! Wär doch gelacht..“
Beim Abschied standen sie Schlange vor Stina, um für Kuchen und Kaffee zu danken. Nach altem Brauch wollte sie die Gäste zur Vordertür geleiten. Kerstin musste sie
lenken. Sie tat es mit beiden Händen.
Und jetzt sitzt der alte Mann allein. Was er sieht, ist nicht mehr feierlich. Verschobene Stühle. Tassen mit braunen Kaffeestreifen. Krümel auf Tellern und dem
verrutschten Tischtuch. Eriks Treibhaustulpen, aufdringlich rot und makellos glatt. Kalte, abweisende Blumen, recht besehen.
Da hört er die Stimmen von draußen. Die Leute stehen noch ein bisschen herum. Gläserne, zitternde Laute. Die Luft muss frostig sein.
Er stemmt sich auf, geht zum Fenster, öffnet es. Die kalte Luft tat ihm gut. Er luchst durch die groben Maschen der Gardine.
Fast alle sind mit Autos da. Langsam fährt das erste an, der Volvo von der Gemeindevertreterin. Dann der VW vom langhaarigen Zeitungsreporter. Dann der Dienstwagen
von Björn Karlsson,dem Postfahrer, der Lasses Tour übernommen hat (übrigens nett von ihm, in Postuniform zu kommen), und dann die anderen..
Erik, mit dem Rücken zum Haus, nimmt mit gelassenem Handgruß die Autoparade ab, danach stiefelt er zum Björkhus, so wird das Haus wegen seiner Birken am Hauseingang
genannt.
Der zweistöckige Holzbau steht etwa hundert Meter entfernt, rostbraun gegen den fahlen Abendhimmel. Wie sich die Zeiten ändern! Einst ein Altersheim, jetzt
ein Haus für deutsche Sommergäste.
Lasse dreht sein Gesicht mit der schweren Kinnlade nach rechts, die weiße Kirche auf der Landzunge blinkt auf im Gezweig kahler Bäume. Und schon kommt das
verwinkelte Gebäude der Wennerströms in sein Blickfeld, gleich vis-a-vis. Früher ein Kleinbauernhof, von Ackerland umgeben, heute totenstill, ohne Menschen. Bewohnt nur im Sommer, auch hier ein
Sommerhaus. Das Eintagsleben der Sommerhäuser! Ein Sommerspuk. .
Und über allem ein Himmel von welker Haut mit blassroten Streifen vom Sonnenuntergang.
Der alte Mann steht noch immer am Fenster, leicht schwankend. Die Straße ist leer. In der Küche plaudern Kerstin und Stina. Dann hört er einen sonderbaren
Laut, das satte Schlagen eines Tuches. Seine Flagge ist es. Er schaut hinauf. Alles liegt bereits im Schatten, nur die Fahne nicht. Wie eine Flosse bewegt sie sich, schwimmt im letzten
Tageslicht, das gelbe Kreuz leuchtet golden und die blauen Vierecke sind tiefe Fenster in einem blassen Himmel.
Eine Fahne, weit oben am Himmel. Nicht jeder im Dorf hat eine so hohe Fahnenstange. Und der Mann am Fenster denkt: Es hat sich vielleicht doch nichts
geändert.
Wie immer kommt der Wind vom See. Irgendwo auf dem Eis landen Kraniche. Unter ihren Klauen entladen sich Spannungen, Risse knallen durchs Eis. Es hört sich an wie
fernes Grollen.
Und auf einmal ist er ganz zufrieden. Ist doch alles wie gehabt. Frühlingsanfang. Morgen ziehen die Kraniche weiter nach Norden. Sie werden die ganze Nacht
schreien. Ihr Lärm wird sich anhören wie das Kreischen von zahllosen verrosteten Wasserpumpen, deren Schwenkarme auf- und niedergehen.
Und dann, beim Umdrehen,verliert er das Gleichgewicht.
Die Lidhult-Kerstin fand ihn unter dem Tisch. Sie stieß sich den Kopf an der Tischkante. Er kicherte schadenfroh.
2
Das Haus stand am Westhang des Berges Fagerlid. Seine moderne Fassadenverkleidung - bräunlich gemaserte Eternitplatten - kontrastierte mit der gewöhnlichen Gestalt
einer Kleinbauernkate. Entsprechend zwiespältig wirkte der Inhalt der vier Stuben. Neben schlichten Bauernmöbeln, vom Alter geschwärzt, schimmerten gespenstisch Gebilde aus
Eisenteilen.
Aus einer fleckigen Tapetenwand ragte ein Fahrradlenker. Ein Griff war mit elektrischen Leitungen umflochten, in ihnen baumelte bei jedem Luftzug ein Vogelnest.
Eine gusseiserne Ofenplatte, hochkant auf eine rissige Stammscheibe genagelt und von brüchigem Maschendraht umhüllt, nahm die Mitte des einzigen Holztisches ein. Zahnräder, an Fahrradspeichen
gebunden, ergaben die Gestalt eines die Arme ausbreitenden Menschen. Sie hing an der niedrigen Zimmerdecke, abends brannte darin eine Glühbirne. Auf einem Fensterbrett stand der geputzte Zylinder
eines Mopedmotors. Statt der Zündkerze trug er eine weiße Wachskerze.
Weitere rätselhafte Gebilde lagen über das gesamte Unkraut überwucherte Grundstück verstreut. An der langgezogenen Scheune klapperten Drahtringe und Plastikstücke
im Wind. Am Tor haftete ein Fahrradrückstrahler: ein faustgroßes, blutrotes Auge, der Abendsonne entgegen funkelnd.
Hier lebte Anders, ein Greis mit stechenden Augen in einem zierlichen Kopf. Manchmal liefen die Augen aus der Reihe, als hätten sie ihre Fesseln abgeworfen. Dann
schien selbst das blasse, wie in einen Apfel geschnitzte Gesicht das Schauspiel der Augen zu bestaunen. Ein Mienenspiel voll unbewusster Clownerie.
Als die Dörfler Lasse Lindbergs Geburtstag feierten, schob Anders sein Fahrrad den Berg hinauf. Eine kalte Sonne stach ihm einen langen Schatten vor die Füße. Er
kam an den Kiefern vorbei, die mit einem verfallenen Steinwall sein Grundstück abgrenzten. Ihr dunkles Grün stand am Himmel wie aufgestickter Stoff, dick und pelzig. Nichts war zu hören als das
Scheppern des Schutzblechs,
das Scharren der Schuhe im Wegkies und dann und wann ein Vogelschrei.
Die Ostseite des Berges sauste er im Leerlauf hinab. Vor dem blauen Ortsschild mit weißer Schrift bog er in einen Waldweg ein, der in vielen Windungen zum See
führte. Als er das Birkenwäldchen auftauchen sah, bremste er. Fern schwebte rötlicher Dunst zwischen Himmel und Erde. Er kannte es: es war das violette Gezweig der kahlen Birkenbüsche und
Birkenkronen. Blieb man jedoch in der Ferne stehen, konnte man glauben, ganz feiner Blutschaum stünde auf der Erde. Was mochte die Erde bewegen, dass sie durch ein Farbenspiel das Bild eines
Todkranken heraufbeschwor? Dies war
die Sprache der Erde, durch Farben redete sie zu dem Alten, und er nickte, als hätte er sie verstanden.
Mit dem Rad holperte er in das Wäldchen, stellte es an einen Baum. Er kramte Becher, Schnur und Messer aus der Fahrradtasche. Von Birke zu Birke ging er, berührte
mit Fingerspitzen die im Wind flatternden Hautfetzen der Stämme, drehte nur manchmal den Kopf zum vereisten See, wenn von dort ein hohler Knall herüber schlug.
Nachdem er ein ,,V" in einen Stamm gekerbt und den Becher darunter befestigt hatte, machte er sich auf die Rückfahrt. Diesmal fuhr er durch das Dorf, am Heimatpark
vorbei.
Die unteren Fenster im Strandhem waren bereits erleuchtet. In den Lampenschalen der Laternen am Weg hingen eisgrüne Tropfen. Gerade eingeschaltet, brauchten die
Laternen eine Zeit, bis sie ihr grelles Weiß ausstrahlten.
Lasse Lindberg hoffte, Anders würde ihn nicht sehen. Doch der bremste und blieb mit gesenktem Kopf an der Hecke stehen. Plötzlich richtete er sich auf, sein Gesicht
traf der Abglanz des Abendhimmels, weiß war es mit schwarzen Augenhöhlen.
„Hej“,sagte er, mit dünnen Lippen lächelnd.
,,Hej“, brummte Lasse verdrossen.
,,Du hast geflaggt?
,,Jaha. Die Mistleine hat sich verklemmt.“
Zur Bestätigung peitschte er den Mast. Anders schwieg. Er schien mit der Antwort zufrieden, obwohl er den Anlass der Beflaggung nicht erfahren hatte.
Lasse schleuderte die Leine hinter sich, ohne sie anzubinden.
,,Komm rein“, rief er grob. ,,Hab Kuchen für dich. Das ist besser als ein Ziegelstein auf leerem Bauch."
Anders lebte nur vom Wald. Fand er mal nichts, kroch er bei Hunger einfach ins Bett und legte sich einen warmen Backstein auf den Bauch.
Auszug aus Altmännerfrühling