Auch im Podcast zu hören: Trommeln-im-Elfenbeinturm
Es klingelt. Schon wieder ein Paket aus einer Online-Bestellung. Es ist für einen Nachbarn, der nicht da ist. Ich bin Rentner, ich bin immer zuhause, ich kann das Paket annehmen.
Es ist das dritte Paket und es ist noch nicht Mittag. Ich glaube, in diesem Jahr habe ich schon an die fünfzig angenommen.
Jetzt was anderes, ich muss ein Versprechen halten. Es handelt sich um ein Märchen von den Gebrüdern Grimm, das König Ernst August verboten hatte und daher nie bekannt wurde. Heute Nacht erschienen mir die Gebrüder und überreichten mir das Märchen mit der Bitte, es aller Welt kundzutun, es sei höchste Zeit. Dann hörte man einen Krückstock klopfen, ich glaube das war der König, und sie verschwanden.
Versprochen ist versprochen, hier also das Märchen. Es heißt „Der Mensch und die Gier“
Es war einmal ein Wesen, halb Tier und halb was anderes, Mensch genannt, und als das Wesen zum ersten Mal die Augen aufschlug, saß neben ihm der Hunger und der sagte: Ab heut gehörst du mir. Schaff mir jeden Tag was zu essen, dann wirst du gut leben. Und der Mensch zog los, um für den Hunger Nahrung zu finden und lebte einigermaßen gut dabei Das ging viele tausende Jahre so, bis der Mensch in die Zivilisation eintrat, das war ein richtiges Wunderland, wo jeder sich Mühe gab, nett zu sein. Man mochte das Böse nicht und weil der Hunger böse war, begann man ihn abzuschaffen. Man gab ihm so viel Nahrung, dass er vor Sattheit einschlief. Nur bei schlechtem Wetter wachte er manchmal noch auf.
Aber der Hunger hatte den Menschen durchschaut. Heimlich steckte er ihm einen seiner Reißzähne in die Tasche, und das war sein Kind: die Gier.
Das Kind hatte einen anderen Appetit als der Hunger, es wollte kein Brot mit Käse oder Kartoffeln mit Fleisch, es verlangte nach Reichtum, Besitz und Macht. Es machte ein großes Geschrei und einige Menschen, die für das Geschrei empfindlich waren, begannen sogleich Gold heranzuschaffen, bauten Schlösser und Paläste zum Wohnen für sich und die Gier und übten Macht aus über alle, die kein Gold hatten. Diese Menschen nannte man Könige.
Hier endet der Text. Wahrscheinlich schlug da der König den Grimm-Brüdern auf die Finger. Aber die Gebrüder steckten mir die Fortsetzung zu. Offensichtlich gibt es auch im Jenseits Papier, Feder und Tinte.
Also weiter im Text. Hören Sie gut zu. Jetzt wird es spannend.
Die Gier wuchs heran, ging in die Schule, auf die Uni, wurde gebildet, kultiviert, und hatte eine Art, die man sexy nannte, was immer das bedeutet, aber das war’s wohl, warum die Könige sie zur Frau nahmen. Diese Könige hießen jetzt Superreiche. Sie flogen über den Wolken mit silbernen Flugapparaten, in denen es wie in einem Schloss aussah, sie kreuzten auf Meeren in weißen Schiffen, auch die sahen drinnen wie Schlösser aus, und sie bauten sich Häuser ganz wie richtige Schlösser, draußen wie drinnen. Das alles verdankten sie der Gier, mit der sie verheiratet waren, und wenn sie ihr auch noch so hübsche Kleider anzogen, sie war doch ein Reißzahn des Hungers. Man musste ihr Futter geben, so gab man ihr, was sie verlangte. Sie trank das Blut der Erde, riss an ihrem Eingeweide und mit ihrer rauen Zunge leckte sie am saftigen Grün der Erde. Das war den Superreichen egal, Hauptsache es ging ihnen gut, selbst dem Volk ging es ganz gut, denn seine Gier bekam auch was ab von der Erde, drei Happen davon stehen bei mir im Flur.
Nur der Erde ging es nicht gut. Erst fielen ihr die Haare aus, das waren die Wiesen und Blumen, danach vertrocknete ihre Haut zur Wüste und am Ende brachte der heiße Atem des Raubtiers die Erde zum Brennen. Und wenn die Menschen nicht gestorben sind..
Entschuldigung, es klingelt. Ach... Ein Paket für einen Nachbarn.