Aus dem Buch
Arno Reinfrank
Sieben neue Nachtwächterlieder
1
Nur sieben Stunden hat die Nacht,
bevor der Hahn den Wurm belacht.
Die sieben Nöte dieser Welt
sind alle gleich, wenn sie zerfällt.
2
Reiß dir dein Aug nicht aus, du irrst:
angesichts der hiroschimärischen Asche,
angesichts der Waffenhändleraktentasche,
angesichts des Gotts der Kriege und der Affen,
angesichts des Arsenals an Radiumwaffen -
mag's sein, dass du es brauchen wirst.
3
Dass die Kohle den Sack schwärzt,
spielt fürs Feuer keine Rolle.
Dass das Mehl den Sack weißt,
ist dem Brot einerlei.
Dass hier Mensch neben Mensch steht.
spielt für uns eine Rolle.
Dass der General General spielt.
ist uns nicht einerlei.
4
Die Bombe mal Bombe mal Bombe
wirkt hübsch als Aggregat.
Doch Kartoffel mal Kartoffel mal Kartoffel
macht guten Kartoffelsalat.
5
Die Dummheit hat ein Erzgesicht,
Der Schwanz heißt Plattdeutsch Zagel.
Atomstaub ist kein Vaterland,
das Erz schwitzt fett vor Unverstand -
wo nur, damit er nicht zerbricht,
setz ich da an den Nagel?
6
Lob dem Baum, der nicht morden kann,
Lob dem Baum, der schuldlos ist.
Fluch dem Baum, an dem ein Mensch hängt,
Fluch dem Baum, der nicht beunruhigt ist.
7
Die Härte wird härter,
die Weichheit nimmt zu.
Herz meines Bruders,
welche Richtung wählst du?
Die Kälte wird kälter,
die Wärme nimmt zu.
Herz meiner Schwester
welche Richtung wählst du?
Mein Koffer
An meinem Koffer ist der Handgriff durchgerissen,
denn Wahrheit im Gepäck ist schwer zu tragen.
Und doch ist jetzt im Schatten unserer Bombenwolken
das Zueinanderkommen wichtiger als Klagen.
Auf meinem Koffer schimmern bunte Kreidestriche
von Zöllnern vielerorts in Grenzstationen,
doch selbst im kahlen Grimm der Wachlokale sah ich
den Traum von Brot und Recht und Freundschaft
wohnen.
An meinem Koffer sind die Schlösser abgebrochen.
die Zeichen von Besitz und Sicherheiten.
Ich binde Schnur um meine Last aus Weltvertrauen
und reise auf der Hoffnungsbahn der Zeiten.
Lied der Beherrscher
Die Armen sind arm zu halten nur
durch Benützung ihrer Dummheit.
Die Armen sind dumm zu halten nur
durch Beherrschung der Klugheit.
Wir beherrschen Gutenbergs Klugheit nur
durch Beherrschung der Presse.
Wir beherrschen Godwins Erfindergeist nur
durch Beherrschung des Filmes.
Wir beherrschen Hertzens Forschertalent nur
durch Beherrschung der Radiowellen.
Die Geräte kluger Männer benützen wir
zum Erhalten der Dummheit unter den Armen.
Wenn die Armen diese Geräte beherrschen,
wer hält sie dann noch dumm oder arm?
Entwurf für ein neues Deutschland
Vom Lager der Korruption
wird die Heimlichkeit
entfernt,
Bloßgelegt
werden Fehler
und Absichten untersucht.
Alle Meinungen
sind erlaubt, sofern sie
die Folgen deutlich machen.
Wer bei leisester Rede
klarsten Ausdruck hinterlässt,
kann handeln.
Wissenschaft
erhält den Vorrang,
doch nicht vor dem Menschlichen.
Die Schulen dienen
der Bildung eines Gewissens
durch gelehrte Erfahrung.
Wer die Dummheit anderer
ausnützen will,
ist Hochverräter.
Persönliche Notiz
Vor neuen Wänden neuer Schulen hört
man Unterschlagung alter Fakten lehren.
Dagegen tret ich auf.
Ich lerne, denn
genaues Denken nützt
den Menschen, die Automaten bauen.
Verabscheue von allen Riten
nur nicht den Ersten Mai.
Und selbst da trink ich mäßig.
Vergesse schnell
die abgelebten Freuden und Genüsse.
Ich bin voll Lust auf Neuerungen.
Arno Reinfrank (1934-2001), geboren in Mannheim und in Ludwigshafen aufgewachsen, ging nach diversen Studienaufenthalten in Paris und Berlin 1955 aus Protest gegen die restaurative Politik der Bundesrepublik nach England und lebte bis zu seinem Tode am 28. Juni 2001 in London. Reinfrank war Generalsekretär des P.E.N.-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland und ist Träger zahlreicher Ehrungen und Literaturpreise.
Sein vielgestaltiges und umfangreiches Werk umfasst publizistische Arbeiten, Prosa, Theaterstücke, Mundartgeschichten und Lyrik. Im Zentrum seines lyrischen Schaffens steht sein dichterisches Hauptprogramm, die zehnbändige Poesie der Fakten, in der er sich zu den Fragen einer industrialisierten Welt äußert und auf symbolische Weise wissenschaftliche Fakten der modernen Welt auf den schriftstellerisch-ästhetischen Bereich überträgt. In den letzten Jahren seiner unermüdlichen schriftstellerischen Tätigkeit widmete er sich vor allem dem 1000-seitigen Millenniumsprojekt Fin de Siècle - Die letzten tausend Tage, einem Tagebuchprojekt, in dem er zusammen mit dem Künstler Klaus Fresenius den Ausgang des vergangenen Jahrtausends reflektierte.