Eine Erzählung für Kinder
Es war im Jahre 2021, da fand man an der Südküste Schwedens beim Bau eines Supermarkts die Reste eines Wikingerdorfs. Es hieß Odinsvik, es bestand aus 26 Hütten und dem Häuptlingshof. Über Nacht verschwanden alle Bewohner des Dorfes. Und keiner, auch nur einen von ihnen, wurde je wieder gesehen. Das war vor tausend Jahren. Was war passiert?
Alle rätseln, Wissenschaftler und Historiker. Ich glaube, es ist Zeit, das Geheimnis zu verraten. Es schadet niemandem zu wissen, was damals geschah. Im Gegenteil. Man kann daraus was lernen. Also lasst es euch von einem Mann erzählen, der dabei war, als alles passierte..
Im März des Jahres 1015, arbeiteten wir auf unseren Feldern. Moment! Wikinger waren doch Krieger! Ja, auch das waren wir. Mit unseren Drachenbooten fuhren ir über die Meere und wo wiran Land gingen, raubten wir, was wir konnten, und das geschah nicht ohne blutigen Kampf. Aber wir waren auch Bauern und darum waren wir in diesem Frühling nicht auf dem Meer, sondern auf useren Feldern. Plötzlich schrie einer etwas, nachher stellte sich heraus, es war Stig, der Dorfschmied, er sah etwas, was er nicht glauben konnte.
Denn da kam aus dem Wald eine wunderschöne Frau in einem leuchtend blauen Gewand, an ihrer Seite trottete ein kleiner Mann in einem braunen, sackähnlichen Umhang. Ohne uns zu beachten, schritt die Frau geradewegs auf den Häuptlingshof zui. Erst standen wir starr vor Staunen, dann folgten wir ihr mit lauten Rufen .
Olav Blaufuchs, unser Häuptling, hörte den Lärm, schlug den Vorhang aus Bärenfell beiseite und trat heraus. Noch ehe er etwas sagen konnte, sagte die Frau mit ruhiger Stimme: „Guten Tag, mein
Mann! Ich wohne jetzt bei dir." Sie zeigte auf ihren Begleitert: „Und ich bringe meinen Diener mit.“
Unser Häuptling hatte seinen Namen von den blauen Augen, den roten Haaren und dem roten Bart. Erst wollte er über die Frechheit der Frau aufbrausen, wie seine Art war, denn er kannte sie
gar nicht, aber dann, zupfte er sich den Bart und dachte: „Was für eine Schönheit! Das kann nur ein Geschenk Odins ein, das muss ich wohl annehmen."
Darauf polterte er uns an: „Was glotzt ihr? Das ist meine Frau, das seht ihr doch! Ich hab sie beim letzten Raubzug nicht mitnehmen können, aber wir hatten besprochen, dass sie nachkommt. Genug geschwätzt! An die Arbeit, Männer!“
Und dann ging er ins Haus, die Frau und der Diener folgten ihm. Kaum waren sie drinnen, stellte er sich vor die Frau eund sagte: „Hör mal, bei uns gibt es keine Diener, nur Sklaven. Und ich
bin hier der Häuptling und habe das Sagen! Merk dir das!“
Und dann fragte er den Sklaven nach seinem Namen. Dessen Blick gefiel dem Häuptling nicht. War der lustig oder listig? „Auf den muss ich aufpassen!" dachte er, und weil der Sklave noch
immer schwieg, knurrte er: „Na, was ist? Bist du taub? Soll ich dir eine runterhaun?"
Schon hob er die Hand, da sagte die Frau schnell: „Olav, lass das! Er ist stumm."
Worauf er brummte: „Einen komischen Knirps schleppst du mir an." De Frau holte aus dem Sacktuch des Sklaven ein großes Fleischstück und warf es in den Kessel über dem Feuer. „So. Stumm ist er.. Aber hören kann er doch? Na gut. Ich nenn ihn Stummer, das passt. Und du, Frau, du heißt Heidrun. Und jetzt genug geschwätzt.“
Und das konnte er auch gar nicht. Denn ihm lief das Wasser im Mund zusammen, so lecker begann es zu riechen. Hm, das ist doch.. Er schnupperte. . Ja, ein
Schweinebraten! Und er strich sich behaglich den Bart.
Dann lebten sie zusammen, als hätten sie schon immer miteinander gelebt. Eines Tages fiel dem Häuptling auf, wie sich Heidrun jedes Mal die Ohren zuhielt, wenn er mit uns sprach.
„Lass den Unfug, Heidrun!" grollte er. „Oder hast du was an den Ohren?"
Worauf sie antwortete: „Dein Gebrüll, Mann, tut meinen Ohren weh!“
„Hör mal, Frau!" antwortete er ärgerlich. „Wie sonst soll ich meinen Männern zeigen, dass ich zornig bin?“
„Mach es wie ich! Sprich mit deinem Gesicht! Das geht nämlich! Schau mal!“
Und sie zeigte ihm ein Lächeln.
Nun trug Olav einen Vollbart und das lange Haar fiel ihm über die Stirn bis auf die buschigen Augenbrauen. Und so war von seinem Gesicht bis auf die Augen und die Nase nichts zu sehen.. Wie
sollte er da ein Lächeln oder Stirnrunzen zeigen können? Heidrun dachte nach, dann meinte sie, Stummer solle für ihn das Gesicht machen.
Eine Weile kaute Olav auf seinen Bartspitzen herum, dann knurrte er: „Frau Heidrun! Merk dir eins für die Zukunft! Ich bin nicht dumm. Was du da sagst, das dachte ich schon die ganze Zeit.
Übrigens, Stummer, ich bin gerade zornig!“
Der Sklave zog die Brauen zusammen, bleckte die Zähne.
„Gut. Und jetzt mach ein ernstes Gesicht, ich muss meinen Männern was sagen.“
Als die Wikinger hörten, sie müssten ab sofort nicht nur auf seine Worte achten, sondern auch auf das Gesicht des Sklaven, murrten sie. Sie fanden, das sei ausländisch und passe nicht zu ihnen.
Aber nach und nach gefiel es ihnen. Denn wenn sie jetzt auf das Gesicht des Sklaven sahen, verstanden sie den Häuptling schon, noch bevor der ein Wort gesagt hatte.
Nach einem Jahr bekam Heidrun einen Sohn, sie nannten ihn Torbjörn gab. Danach war sie bei allen als echte Häuptlingsfrau anerkennt, obwohl immer noch keiner wusste, woher sie gekommen war. Das
Geheimnisvolle an ihr wurde noch größer, als sie einen Kräutergarten hinter ihrem Haus anlegte. Nur sie und Stummer, der Sklave, durften ihn betreten und wann immer sie von dort zurück kamen,
brachten sie etwas mit, was man noch nie gesehen hatte: Dinge wie Tassen und Teller, süße Getränke, kostbare Stoffe und manchmal sogar Leckereien, die eigentlich nur die Götter essen. Wie sie an
diese Sachen kam, verriet sie nicht, nicht einmal ihrem Mann. Darüber ärgerte sich Olav Blaufuchs. Schließlich war er der Häuptling. Aber da er die Sachen gut gebrauchen konnte, besonders die
Leckereien, sagte er nichts. Und die Leute im Dorf kamen aus dem Staunen nicht heraus. Ehrlich gesagt, sie begannen sich schon ein wenig vor Heidrun zu fürchten.
Eines Morgens schien es, als würde Heidrun ein wenig von ihrem Geheimnis preisgeben wollen. Sie erzählte Olav beim Frühstück, sie hätte ein Land gesehen, da würden die Menschen die Nacht zum Tage
machen, indem sie einfach so machten Und sie zeigte es durch ein Fingerschnippen.
„Und schon ist überall Licht! Und dann sind da Vögel aus Eisen, mit ihnen fliegen die Menschen zu den fernsten Orten über alle Meere.“
„Nein! Das reicht!“ Olav warf einen prüfenden Blick auf den Sklaven, der machte ein zorniges Gesicht, Olav nickte zufrieden und fuhr fort. „Was redest du da, Frau! Einfach so ...“ Er machte
ihr Fingerschnippen nach. „Nicht mal Lichtgott Baldur kann das. Und dann Vögel aus Eisen mit Menschen drin! Du verspottest die Götter, sie werden dich bestrafen!"
Und er warnte sie, das seien gefährliche Träume, sie solle damit aufhören und zwar sofort. Sie erwiderte, das könne sie nicht.
„Ach was“, sagte er, „einfach Augen zu. So mach ich das schon immer und hab noch nie geträumt.“
Der Sklave lachte.
„Stummer! Das war nicht lustig! Das richtige Gesicht aber blitzschnell!“ Der Sklave machte sofort ein ernstes Gesicht. Und zu seiner Frau sagte der Häuptling streng: „Schluss jetzt. Keine
Widerrede! Genug geschwätzt!“
In der Nacht wurde er plötzlich wach. Er hatte Durst. Er tapste in die Halle zum Wasserkessel, um etwas zu trinken. Da sah er im rötlichen Licht der Feuerstelle jemanden stehen. Es war Stummer,
der etwas in einer Holzschüssel wusch. Dann hob er es mit Daumen und Zeigefinger dicht vor sein offenes Auge, das andere kniff er zu. Olav schlich näher und erkannte, es war eine Perle oder eine
Kugel. Auf einmal schob der Sklave das runde Ding in das zugekniffene Auge, und jetzt starrte er mit beiden Auge geradewegs dem Häuptling ins Gesicht. Der stand wie angenagelt mit offenem Mund.
Langsam drehte sich der Sklave um und verschwand im Dunkel.
Olav verzichtete auf das Wasser, stolperte zurück zu seinem Schlafplatz und verkroch sich unters Fell.
Als er am Morgen erwachte, weckte er sofort seine Frau. „Heidrun, du wirst es nicht glauben“, flüsterte er. „Stell dir vor! Stummer hat heute Nacht ein Augen gewaschen! Mit den Händen! Als wär's
eine Kugel!“
Heidrun lachte auf und sagte: „Siehst du, auch du träumst! Und hat's dir geschadet? Na also!“
Wenn sie glaubte, ihn damit beruhigt zu haben, so irrte sie sich. Im Gegenteil. Jetzt hatte Olav beim Einschlafen Angst, er könnte wieder träumen. Er dachte, das läge daran, dass sich die Augen
im Schlaf heimlich davonmachen und weiß der Himmel wo herumtreiben. Zur Sicherheit legte er jetzt beim Einschlafen immer eine Hand über die Augen.
„Wahrhaftig“, dachte er, „man muss seine Augen hüten wie seine Augäpfel.“
Auch Heidrun schaffte es wohl ab jetzt, die Augen im Schlaf geschlossen zu halten, denn sie erzählte ihm keine Träume mehr. Das glaubte er wenigstens. Aber die Wahrheit iost: Heidrun erzählte sie
einfach heimlich ihrem Sohn. Und der hörte aufmerksam zu und wollte immer mehr wissen.
So vergingen ein paar Jahre, das Dorf gedieh, die Felder brachten reiche Ernte und die Schafherde wurde so groß, dass die Wikinger gar nicht mehr so viel Fisch, sondern lieber jeden Tag Schafkäse
aßen.
Und da, eines Tages, Torbjörn, der Häuptlingssohn war gerade neun Jahre alt geworden, änderte sich alles.
Mittags gab es Wildschweinbraten, Olavs Lieblingsessen, und gerade, als er mit seinem Dolch ein großes Stück vom Braten abschnitt, gab es draußen Lärm. Dazu erklang ein dumpfes „Pang! Pang!
Pang!“ Olav ließ den Dolch fallen und stand auf. Er kannte das Geräusch. Torbjörn stürzte herein, ganz weiß im Gesicht.
„Vater! Vater! Sie wollen zu dir! Und sie kommen mit ihren Schwertern!“
Olav warf noch einen Blick auf den Braten, seufzte tief auf, und dann sagte er grimmig: „Stummer! Kettenhemd, Helm und Schwert! Und du, Heidrun“, fügte er hinzu, schon im Kettenhemd und den Helm
aufsetzend, „du bleibst hier.“
Er legte sich den Gürtel mit dem Schwert um und so, in voller Kriegsrüstung, trat er hinaus. Stummer folgten ihm, Torbjörn kam etwas später, er hatte sich hastig seinen Dolch umgebunden.
Draußen standen die Männer und schlugen mit Schwertern auf ihre Schilde. Der Skalde, der Liedersänger und Hüter der alten Bräuche, ein langer, dünner Mann mit düsteren Augen, trat drei Schritte
vor, hob seinen Krummstab und sagte in die plötzliche Stille: „Olav Blaufuchs, wie hast du dich verändert! Dick und faul bist du geworden! Weißt du überhaupt noch, was ein Wikinger ist? Ein
Krieger! Und wir sind Krieger! Hast du das vergessen? Und jetzt sind wir hungrig nach Gold und Edelsteinen, wir wollen Wein schlürfen und unsere Frauen in Seide und Samt hüllen, goldene Armreife
und Halsketten aus weißen Perlen sollen sie schmücken. Darum wollen wir endlich wieder auf große Raubfahrt gehen! Und so setzten wir dich, alter Mann, hiermit als Häuptling ab. Wir werden
einen anderen Häuptling wählen, der ein richtiger Wikinger ist. Und mit ihm gehen wir auf einen Beutezug! Also tritt zurück und zwar sofort!“
Stummer machte ein wütendes Gesicht. Er fleschte die Zähne und spuckte aus. Als Torbjörn das sah, machte auch er es ihm nach. Der Skalde trat einen Schritt zurück.
„So, ich bin dick und faul. Und auch noch alt? Dir ist ja der Himmel auf den Kopf gefallen!" OLavs Stimme dröhnte über das Dorf. „Du willst wohl der neue Häuptling sein, was?“ Das Schwert
ziehend, ging er auf den Skalden zu „Dann komm her, schlag dich mit mir! Mal sehn, wer hier der richtige Wikinger ist!“
Als träfe ihn eine Meereswoge, taumelte der Skalde zurück und fiel in die erste Reihe der Männer, die machten ihm Platz, so dass er zu Boden fiel. Mühsam rappelte er sich auf und schrie die
Männer an: „Bestraft ihn! Er hat sich an euren heiligen Skalden vergangen!"
Olav lachte dröhnend, dann hob er sein Schwert zum Zeichen, dass er den Männern etwas sagen wollte, in diesem Momente legte sich eine leichte Hand auf seine Schulter und er hörte Heidrun
flüstern: „Entschuldige, Olav, lass mich das machen.“
Sie trat vor und begann zu sprechen mit klarer Stimme: „Krieger von Odinsvik! Odin, dessen Name euer Dorf trägt, ist der größte Gott unter den Göttern. Warum ist er der größte? Er opferte ein
Auge, um weise zu werden. Denn Weisheit ist die Macht, die Welt für die Menschen zum Besseren zu verändern! Stolze Krieger von Odinsvik! Odin hat euch ein Beispiel gegegebn! Wollt ihr die
Welt wie bisher zerstören oder ihm nacheifern? Denn am Ende eurer Tage werdet ihr vor Odin stehen und er wird euch fragen: Was habt ihr getan, um weise zu werden? Was werdet ihr antworten? Steht
ihr da mit blutigem Schwert und das Blut tropft von euren Händen, dann wird er sich abwenden von euch. Doch wenn ihr mit reinen, statt blutigen Händen vor Odin tretet, wird er es euch lohnen! Mit
wundervollen Gaben, dass euch die Augen übergehen.“ Sie machte eine Pause, dann sagte sie fast fröhlich. „Ich kann euch schon jetzt einiges davon zeigen. Wollt ihr? Dann folgt mir.“ Weil die
Männer unschlüssig stehen blieben, fügte sie hinzu: „Die Schatzkammer ist in meinem Kräutergarten!“
Das hätte ein Witz sein können, aber da die Männer um ihre Zauberkräfte wussten, lachte keiner. Und natürlich waren sie neugierig, was Heidrun ihn jetzt zeigen würde, also folgten sie ihr. Der
Weg ging geradewegs durch das Haus an der Feuerstelle vorbei, durch die Privatgemächer, und dann traten sie durch den Schweinestall sie in den von dichten Hecken umgrenzten
Kräutergarten.
Was für eine Enttäuschung! Verwirrt, ja verärgert sahen sich die Männer um Nichts von einer Schatzkammer! Es war ein ganz gewöhnlicher Kräutergarten. Kräuterreihen, Blumenbeete, ein paar
Stachelbeerbüsche, ein Lindenbaum. Aber halt, was war das. Hinter dem Lindenbaum war einen Ring aus unbekannten Blumen – die Blüten glichen roten Kelchen – , dahinter ein kreisrunder Platz
aus weißen Kieselsteinen. Als Heidrun herantrat und den Blick fest auf die Kieselsteine richtete, wurden sie plötzlich tiefschwarz und dann sah der Platz aus wie ein schwarzer
Moorwasserteich.
Heidrun drehte sich zu den Männern um, ihre Augen glänzten wie kleine Sonnen, sie rief: „Hier ist der Weg in das Land der Wunder. Wer mutig ist, folge mir!" Udn schon sprang sie in den
Kreis. und sie versank lautlos, ohne dass sich auf dem Teich die kleinste Welle zeigte.
Alle Männer, auch der Häuptling, standen baff. Aber schon sprang Torbjörn seiner Mutter nach und verschwand ebenso schenll und lautlos. Und darauf folgte ihm Stummer, dieser flog geradezu über
den Boden, bevor er im Teich versank.
Olav Blaufuchs aber, der Wikingerhäuptlingblieb zurück, ohne Frau und Kind, ja, sogar ohne Sklaven, aber in voller Kriegsrüstung, und das Schlimme war, er hatte keine Ahnung, was für ein Gesicht
er machen sollte. Verwirrt dachte er, ich hab ja mein Gesicht verloren! Und das gab den Ausschlag: Er holte tief Luft, hob das Schwert, brüllte: „Mir nach, Männer von Odinsvik!“ Er wartete, aber
niemand rührte sich.
Da ertönte eine tiefe Stimme: „Olav Blaufuchs! Ich komme mit!" Und ein baumlanger Wikinger drängte sich vor, es war der Schmied des Dorfes, Stig Stenhammer.
„Na, wenigstens einer“, seufzte Olav, setzte vorsichtig einen Fuß über die roten Blumen - und fiel nach vorn, als risse jemand an seinen Fuß und zog ihn in die Tiefe. Der Schmied dachte kurz
nach, kratzte sich am Hals und sprang mit einem Kriegsgeschrei in den Teich und war nicht mehr gesehen.
Der Skalde war der erste, der sich rührte. Er nahm einen Stein vom Rand eines Blumenbeetes und warf ihn in den Kreis, der Stein ging unter und plötzlich war der Platz aus weißen Kieseln weider
da.
„Seht ihr!“ rief er und stocherte mit seinem Stab im Kies herum. „Das war der Eingang in die Unterwelt. Reine Hexerei! Aber ich habe das Tor für immer geschlossen. Olav Blaufuchs und sein Gefolge
kann ich nicht mehr retten, die sind für immer verloren.“
Er dachte, jetzt würden alle nach einem neuen Häuptling fragen. Aber das taten sie nicht. Sie stritten, wer hier feige war: Olav Blaufuchs, der nicht um seine Häuptlingswürde kämpfte und sich mit
einem Zaubertrick davon machte oder sie selbst, die ihm nicht folgen wollten.
Der Skalde seufzte. Was für ein Blödsinn.. Das ist doch egal, dachte er. Die Hauptsache ist, einen neuen Häuptling zu wählen. Natürlich ihn.
Wie lange es dauerte, wusste später keiner zu sagen. Finster war’s, um sie war ein wildes Brausen und auf einmal stand Olav Blaufuchs auf weicher Erde. Er sah um sich und staunte. Überall Gras,
gleichmäßig grün und kurz geschoren, es war wie ein Teppich, und die Büsche darauf hatten violette Blüten, sie standen wie Fackeln und rochen seltsam. Und in der Nähe stand eine Haus,
mächtig wie eine Burg, darin glänzende Vierecke. Sehr seltsam. Und wo zum Kuckuck waren die anderen?
Plötzlich tauchte Stig zwischen zwei Büschen auf.
„Mann, war das eine Fahrt, Olav.“ sagte er. „Hast du eine Ahnung, wo wir sind?“
„In meinem Land!“
Das war Heidruns Stimme, und da kam sie auch schon mit Stummer und Torbjörn.
„Werdet ihr euch wohl verstecken!“ zischte Olav. „Ihr seid eine prächtige Zielscheiben!“ Wie zur Antwort krachte etwas auf seinen Helm.
„War das ein Drachenei?“ flüsterte er.
Er zog leise das Schwert und spähte nach allen Seiten. Mit einem missbilligenden Blick sagte Heidrun: „Das lass stecken, das brauchst du hier nicht. Kommt!“
Vorsichtig gingen sie ihr nach bis zu einer Umzäunung. Heidrun fand das Tor, öffnete es, und sie traten hinaus.
„Achtung!“ rief Olav. „Da! Der Drache! Ist der lang! Wo ist denn sein Kopf?“
Und er wollte mit erhobenem Schwert losstürmen.
„Halt!“ rief Heidrun, „das ist eine Straße! Aus Asphalt!“
Olav glaubte, das sei der Name des Drachen, und befahl Stig, nach dem Kopf von Asphalt zu suchen, damit sie ihn abschlagen könnten.
Hätte er sich jetzt umgedreht, hätte ihn der Wasserstrahl vielleicht nicht erwischt. Ein Mann in Badehose, der sich im Liegestuhl gesonnt hatte, hatte zum Wasserschlauch gegriffen, und lenkte den
Strahl auf ihn: „Verschwindet, ihr verdammten Krawallmacher!“
Und das war das erste Mal, dass der Häuptling nicht wusste, welchen Feind er zuerst angreifen sollte: den Wasser spritzenden Troll oder den Drachen.
Da zerrte ihn Heidrun schon auf die Straße, das heißt, er sah sich auf den Rücken des Drachen gezogen, und plötzlich dachte er, dass alles sei nur ein verrückter Traum, den seine Frau mal wieder
träumt, aber diesmal hätte sie ihn hineinverwickelt, und er schimpfte: „Heidrun! Hör auf zu träumen. Sofort!"
Aus der Ferne näherten sich zwei leuchtende Punkter, sie wurden immer größer, es war ein Auto mit Abblendlicht. Drinnen saß Henrik Persson, sein Gesicht war grau vom Zementstaub, denn er
arbeitete als Bauingenieur auf einer Baustelle. Neben ihm saß seine Tochter Beatrice, die er von der Schule abgeholt hatte. Sie hatte braune Haut, schwarzes Haar und braune Augen.
Olav schrie: „Die Drachenaugen! Stig, du das rechte, ich das linke Auge! Hau rein!“
Mit Gebrüll stürmten sie los, Torbjörn zog seinen Dolch, das Auto gab einen langen Hupton von sich.
„Ha! Er heult schon!“ schrie Olav triumphierend.
Mit quietschenden Reifen bremste das Auto, stieß gegen die Wikinger und die fielen zu Boden. Henrik Persson sprang aus dem Wagen.
„Seid ihr verletzt?“
Besorgt beugte er sich über die beiden. Das Mädchen sah durch das Fenster und dachte: Wie komisch der rothaarige Junge gekleidet ist. Ein graues Wollkleid bis zu den nackten Knien, umgürtelt mit
einem Dolch an der Seite.
Nein, keiner war verletzt, und der Mann schüttelte den Kopf. „Ihr solltet das Theaterspielen nicht zu weit treiben.“ Und dann lachte er. „Außerdem kommt ihr zu früh! Die Wikingerspiele gibt es
doch erst in drei Tagen!“
Die paar Tage bis zur Eröffnung könnten sie bei ihm zu wohnen, sein Haus hätte genug Zimmer, das wäre sozuagen die Entschädigung für den Zusammenstoß.
Vermutlich waren Olav und Stig vom Aufprall noch betäubt, sie sagten kein einziges Wort, und setzten sich gehorsam mit Heidrun und dem Sklaven auf die Hintersitze des Autos. Torbjörn bekam den
Platz vorne neben dem Mädchen, das näher an den Vater rückte. Stumm blickte er geradeaus durch die Windschutzscheibe. Was er da sah, kannte er zwar schon aus den Träumen seiner Mutter. Aber von
einem Mädchen mit brauner Haut hatte sie ihm nichts erzählt.
Auf einmal sagte das Mädchen: „Ich heiße Beatrice.“
„Ich heiß Torbjörn“, murmelte er.
Tolle Unterhaltung, denn danach sagten sie nichts mehr. Aber sie saßen nicht mehr so steif nebeneinander, sondern sie lehnten sich ganz vorsichtig aneinander.
Die einzigen, die sprachen, waren Henrik Persson und Heidrun. Nachdem er ihr seinen Namen verraten hatte, nannte sie ihren und den der Männer.
„Komische Namen“, sagte Henrik fröhlich. „Aber sie gefallen mir. Gehören zum Rollenspiel, was?
„Wir spielen nicht, wir sind doch keine Kinder“, brummte Olav, „wir sind Wikinger!"
Henrik lachte: „Na klar. Und ich sag euch was: so kostümiert könnte man euch für echte halten!“
Aber Olav hörte schon gar nicht mehr hin. Er drehte den Kopf hin und her. „Ich kann gar nicht so schnell kucken, wie hier alles vorbeifliegt", ächzte er. „Da! War das ein Baum? Schon wieder
einer! Haben aber keine Krone. Alles Stangen! Und die Menschen hier, das sind doch Menschen? Komisch gekleidet! Und diese Steinhütten, das sind Burgen, was? Warum stehn sie nebeneinander?
Gibt es hier so viele König?“
Wieder lachte Henrik. Burgen! Könige! Die spielen echt klasse, dachte er. Wikinger! Ja, das waren noch Zeiten.. Er kam ein wenig ins Träumen, rechtzeitig tippte Heidrun auf seine Schulter und
sagte, sie müsse zur Bank, sie wolle eine Goldmünze verkaufen.
„Eine Goldmünze?“ Henrik bremste. „Darf ich das sehen? Ich bin nämlich Münzensammler.“
Beim Anblick der Münze rief er:. „Eine römische Goldmünze! Die muss über tausend Jahre alt sein. Woher hast du sie?“ Schweigen. „Nun gut, ist euer Geheimnis, aber ich würde sie dir gern
abkaufen.“
„Hast du denn so viel Geld?“ fragte Heidrun.
„Nicht bei mir. Aber wir gehen rüber zur Bank und ich hebe genug Geld ab. Einverstanden?“
Sie nickte. Stummer solle zum Schutz mitgehen, verlangte sie, und so gingen sie zu dritt über den Platz zur Bank.
„Bank? Wo ist denn hier eine Bank?“ wunderte sich Olav. „Ich seh keine. Und wieso muss man sich hinsetzen, um Gold zu rauben?"
„Sie sagte Geld“, meine Beatrice. „Und Bank nennt man das Haus dort!" Beatrice zeigte mit dem Finger auf das große Gebäude. „Seht ihr... Jetzt gehen sie hinein.“
„Natürlich“, brummte Olav. „Die Bank ist drinnen. Ich bin doch nicht dumm.“
Und dann gingen seine Augen spazieren, es gab ja so viel zu sehen. Und da.. was war denn das?
„He, Stig, kuck mal!“
Da saßen Menschen an Tischen. Sie ließen es sich gut gehen, aßen und tranken, und je länger die beiden Wikinger hinsahen, umso mehr bekamen sie Hunger. Sie brauchten sich nichts mehr zu sagen.
Sie setzten ihren Helm auf, hängten ihr Schwert um und marschierten los. Die Leute an den Tischen schauten verwundert, aber auch belustigt. Jetzt laufen die Wikingerfans schon an normalen Tagen
in ihren Kostümen herum!
Und dann standen Olav Blaufuchs und Stig Stenhammer vor den Tischen. Wie auf Kommando machten sie einen Schritt nach vorn - und prallten gegen etwas Hartes, Unsichtbares. Blitzschnell zogen sie
ihr Schwert, brüllten ihren Kriegsschrei und schlugen zu. Es klirrte, silberne Funken spritzten nach allen Seiten und über knirschende Scherben drangen die beiden Helden ins Speiselokal. Die
Gäste sprangen auf, Tische kippten um, es krachte und klirrte, dann waren alle geflohen und das Restaurant gehörte den Wikingern.
Stig hatte mehr Durst als Hunger. In den Gläsern mit den langen Stielen war Wein, den kannte er schon, aber das in einem runden, hohen Glas, ein goldenbraunes Getränk, das schmeckte äußerst
interessant, er trank es aus und suchte sofort nach mehr.
Olav naschte von den Speisen, aber das Richtige war nicht dabei. Er schnupperte in der Luft. Das riecht doch nach Braten.. Dem Duft folgend kam er in die Küche, wo in Pfannen Steaks brutzelten.
Als der Koch den Raub der Steaks verhindern wollte, bekam er eine Ohrfeige und rannte davon. Olav setzte sich auf die Anrichte und begann zu futtern, nicht ohne zu fluchen, denn am Fleisch hätte
er sich fast die Finger verbrannt.
Inzwischen hatte man die Polizei alarmiert. Sirenengeheul, ein Mannschaftswagen sauste heran, Polizisten mit weißen Helmen, Schilden aus durchsichtigem Plastik und Schlagstöcken sprangen heraus
und stellten sich vor dem Restaurant auf.
Olav hörte Stig rufen: „Heiho! Feinde voraus!“ Worauf er zurück zu Stig lief.
„Oho!“ schrie er, als er die fremden Krieger sah. „Jetzt wird's lustig!“
Aber dann geschah nichts. Die Wikinger und die Polizisten beäugten sich.
„Was für komische Schilde. Da kuckt man durch.“ flüsterte Stig.
Olav brummte: „Wie vorhin die komische Wand. Und sieh dir ihre Köpfe an. Kugelköpfe sind das!“
„Aus Schnee? Was meinst du, Olav?"
„Schnee oder nicht. Ich hau sie ihnen ab.“
„Vielleicht sind das Gespenster?“
„Ist doch egal. Aber weißt du, Stig, jetzt hätte ich gern gesehen, was für ein Gesicht ich mache. Aber der verdammte Sklave ist mal wieder bei Heidrun.“
Wie gebannt starrten sie die Polizisten an. Und die Polizisten standen ebenso still und starrten zurück. Wahrscheinlich war ihnen gerade klar geworden, dass Schlagstöcke gegen Schwerter nicht
sehr geeignet sind.
Plötzlich hörten die Wikinger hinter sich einen leisen Ruf. Im Halbdunkel des Kücheneingangs stand Torbjörn und winkte ihnen.
„Schnell! Kommt hierher!“
„Nein, mein Junge“, sagte Olav würdevoll, „jetzt sollst du mal sehen, wie echte Wikinger mit Gespenstern kämpfen!“
„Seid ihr verrückt?“ Über Torbjörns Schulter lugte Beatrice. „Das sind Polizisten! Die nehmen euch gefangen und sperren euch ein.“
„Eher sterben wir!“ knurrte Olav und dachte, jetzt wäre ein günstiger Augenblick, den Traum zu beenden und aufzuwachen, aber Heidrun war nicht da zum Aufwachen.
„Aber es gibt Met für euch!“ rief Torbjörn.
Das war ein guter Einfall, Met war das Lieblingsgetränk der Wikinger, sofort liefen die beiden Männer mit den Kindern davon.
Beatrice hatte den Fluchtweg genau im Kopf, es ging durch Gassen, Hinterhöfe und durch Gärten. Erstaunt sah sie, wie leichtfüßig die Männer in ihrer Rüstung liefen. Sie selbst kam außer Atem, und
Torbjörn musste ihr zuletzt sogar helfen, um über eine Mauer zu klettern.
Sie waren ziemlich überrascht, als sie in der Villa schon die anderen vorfanden.
Beatrices Vater wollte wissen, wieso sie das Auto verlassen hätten, aber sie sagte nur: „Da war ein Menschenauflauf, wir wollten sehen, was los war. Und dann mussten wir einen Umweg machen, weil
die Polizei uns nicht mehr zum Auto durchließ.“
„Genug geredet!“ brummte Olav. „Wo ist der Met? Keine Widerrede! Her damit!“
Henrik lachte, holte aus dem Kühlschrank zwei Flaschen Bier, öffnete sie. „Da! Zwar kein Met, aber versucht das mal, ihr alten Wikinger!"
Stig erkannte das Getränk sofort, nach dem hatte er alle Tische abgesucht, Olav vermisste zwar das Honigsüße, war aber mit dem Gesöff, wie er sagte, dann doch zufrieden.
Wenig später hörte Henrik in den Nachrichten, was beim Restaurant passiert war. Er schüttelte den Kopf und meinte, bestimmt sei alles ein Missverständnis gewesen. Aber weil sie jetzt gesucht
würden, gab er ihnen andere Kleider. Stummer half ihnen beim Ankleiden. Olav bekam ein rotkariertes Baumwollhemd und eine gelbe Jogginghose. Plötzlich ein Krachen, ein Splittern. Stig hatte mit
dem Schwert in Glas geschlagen.
„Da war ein Wikinger!“ sagte er. „Der zog das Schwert und ging auf mich los!“
„Wo ist er?“
Sie begannen, das Zimmer abzusuchen. Und dann geschah etwas Überraschendes. Stummer machte eine Handbewegung und schon war das Glas wieder da in dem Moment, als Henrik hereinkam: "Was ist los?
Was ist passiert?"
„Nichts“, sagte der Sklave. „Alles in Ordnung.“
Henrik ging wieder hinaus, sah aber noch mal misstrauisch zurück.
Olav zupfte an seinem Bart, räusperte sich und sagte: „Nein wirklich, das ist doch sehr seltsam. Auf einmal kann unser Stummer sprechen. Wo hast du das so schnell gelernt, du trolliges
Wesen?"
Der Sklave antwortete: „Naja, ich hatte doch tausend Jahre Zeit..““
„Was soll das heißen? Red anständig mit mir!“
Stummer machte ein zorniges Gesicht.
„Las das,“ fuhr ihn Olav an. „Ich weiß schon, dass ich wütend bist. Du hast mich die ganze Zeit reingelegt! Was heißt das: Tausend Jahre.. Spiel bloß nicht wieder den Stummen!“
„Das heißt, o Häuptling, wir sind immer noch in Odensvik. Bloß 1000 Jahre später, im Jahr 2005.“ Er zog Olavs Jogginghos etwas höher. „Macht ein paar Schritte, Herr, ich will sehen, ob euch die
Beinlinge sitzen ... Sehr gut ... Übrigens, Herr. Das da an der Wand nennt man Spiegel. Jeder kann sich darin sehen."
„Was?“ Stig stellte sich vor den Spiegel. „Das bin ich?“
Er betrachtete sich, dann streckte er die Zunge heraus.
„Lass das, Stig!" knurrte Olav. „Schlimm genug, wenn das ein Wikinger macht, aber gleich zwei.“ Er machte eine Pause, betrachtete Stummer, kniff ein Auge zu und sagte: „Egal was du bist, du
komischer Vogel. Du machst den Sklaven weiter oder ich hau dir den Kopf ab! Hast du verstanden?"
„Gewiss doch, Herr“, antwortete Stummer, zog Stig ein grünes T-Shirt und Boxerhosen an und verließ das Zimmer. Stig stellte sich noch einmal vor den Spiegel.
„Bei Odin! Man sieht alle meine Muskeln!“
Olav sah sich um, dann flüsterte er: „Höre, Stig, das was hier passiert, bleibt unter uns, kein Wort an die andern, klar? Wir sind doch nicht verrückt oder? Tausend Jahre, sagt der Wicht. Mann!
Wir waren doch eben noch in Odensvik. Findest du nicht, dass hier was nicht stimmt? Da sitzt man in einem rollenden Kasten und glaubt, alles um einen fliegt herum, dabei ist es gerade anders rum:
du fliegst und alles andere steht still. Und wenn du denkst, du kannst einfach losmarschieren, dann knallst du gegen eine unsichtbare Wand. Ja, und hier in dem Schloss: Kommt dir ein Wikinger
entgegen, dann bist du es selber ... Verstehst du das?"
Stig nickte und drehte sich, um sich auch von allen Seiten im Spiegel zu sehen.
Olav seufzte. „Weißt du, Stig, ich habe auch schon mal geträumt, ganz wie Heidrun, ich kann dir sagen, da geht es vielleicht zu! Aber das hier, das ist ein Traum, der ist... So können wir gar
nicht träumen. Das träumt… rate mal wer? Ja, du! Heidrun träumt das. Das ist doch.. Das ist doch ziemlich.. wie soll ich sagen... unerhört, nicht wahr?"
Stig nickte. Zwar verstand er nicht das Geringste, aber ihm gefiel der Traum. Dann winkelte er den rechten Arm an und bewunderte seine prachtvoll geschwollenen Bizeps.
Wenig später machten sie einen Spaziergang, Heidrun wollte ihnen die Wunder in dieser Welt zeigen.Vielleicht war das ein wenig zu früh, zumindest für Olav. Wann immer etwas Neues
auftauchte, Autos, Radfahrer, Frauen mit Einkaufstaschen oder Männer, sofort ging er in Kampfstellung.Vor allem den Männern traute er nicht, sie hatten keinen Bart, kein Schwert, nicht mal einen
Dolch. Wer weiß, was für Heimtücker das waren! Sein kriegerisches Verhalten ging Heidrun ziemlich auf die Nerven.
„Hör endlich auf mit deinem Kampfgetue, die sind doch alle friedlich. Hättest du auf meine Träume gehört, dann wüsstest du das.“
„Aha!“ erwiderte Olav und Stummer machte ein hochmütiges Gesicht. „Jetzt hab ich dich erwischt! Also ist es doch ein Traum!" Und dann zischte er: „Hör endlich auf zu träumen! In Odinsvik sind
meine Männer. Ich will mit ihnen auf Raubzug gehen. Mir ist jetzt danach.“
In diesem Moment prallte er gegen eine Laterne. Er tastete die Stange ab.
„Stig“, murmelte er. „Was ist das?“
Vorsichtig umkreiste der Schmied die Laterne, tastete hier, klopfte dort.
„Eisen“, sagte er dann. „Eine Menge Eisen. Könnte ich gebrauchen. Und du hast eine Beule am Kopf.“
Als Olav mit der Hand über seine Stirn fuhr, musste er endlich zugeben: Das war kein Traum. Das war Wirklichkeit! Und da wankte die Erde unter ihm. Von Stig gestützt, plumpste er auf eine Bank.
Eine richtige Bank, zum Sitzen, nicht um Geld zu holen.
Der Sklave machte ein Gesicht, als verstünde er die Welt nicht mehr. Da fuhr ihn Olav an.
„Was kuckste so blöd! Ich bin doch nicht dumm! Ich weiß doch, dass es Wirklichkeit ist!“
Währenddessen hatten sich Beatrice und Torbjörn auf die Wiese hinter der Bank gesetzt. Sie musste unbedingt etwas wissen, aber er kam ihr zuvor und fragte: „Wieso hast du so braune Haut?“
„Meine Mutter hatte ganz dunkelbraune Haut, sie stammt aus Afrika, aus Nigeria“, erwiderte sie.
„Aus Afrika?"
„Ja, das ist ganz weit weg von hier.."
„Du sagtest 'hatte'.. Gibt es sie nicht mehr?“
„Sie starb vor einem Jahr. Ein Auto überfuhr sie.“
Das verstand Torbjörn nicht.
„War das Auto böse?“
„Ein Auto hat doch kein Leben... Der Fahrer fuhr zu schnell.“
„Ja“, sagte Torbjörn. „Das ist wie Bogenschießen. Man muss langsam zielen.“ Und dann sagte er: „Du musst nicht traurig sein, deine Mutter ist in Asgaard.“
Beatrice nahm seine Hand. „Jetzt sag mir endlich, wer ihr wirklich seid.“
Für diese Frage war Torbjörn dankbar. Auch er war ganz durcheinander. Was war Afrika? Er hatte keine Ahnung. Und so erzählte er ihr alles. Von den Wikingern, seinem Leben dort und dem Sprung in
den Blumenkreis, der sie in diese Welt gebracht hatte. Zuerst glaubte sie an einen Spaß und lachte. Aber als sie sah, wie erTränen in die Augen bekam, hörte sie sofort auf zu lachen und wurde
nachdenklich.
Warum sollte das nicht stimmen? Hatte ihre Mutter doch oft von der Magie in Afrika erzählt, von Geistern und Göttern, die den Menschen bei besonderen Feiern erscheinen, von der Auflösung
von Zeit und Raum im Rauch von Kräutern? Und hatte sie nicht gesagt, auch heute gibt es noch Geheimnisse, von denen die Menschen nichts wissen?
„Sieh nur genau hin“, hatte sie gesagt, „und wundere dich!“
Als Torbjörn noch immer schwieg und wegsah, legte sie ihren Arm um ihn und sagte: „Ich glaube dir.“ Und dann erzählte sie von ihrer Mutter, von Afrika, dem fernen Land, wo es Elefanten gibt und
Löwen, aber sie sei selber noch nie dagewesen. Vielleicht könnten sie beide eines Tages dort hin fliegen?
Heidrun mahnte zum Aufbruch, die Laternen hatten zu brennen begonnen, und Olav lachte, als er das sah. Und auf einmal gefiel ihm alles, jetzt, wo so vieles funkelte und leuchtete! Am liebsten
wäre er sitzen geblieben, und er grüßte die Auto, die ihn mit ihren Scheinwerfern streiften, würdevoll mit erhobener Hand.
Nach dem Abendbrot in der Villa duschten sie sich, sie bespritzen sich und schrien vor Vergnügen beim Rutschen auf der Seife, bis Henrik hereinkam und ihnen das Wasser abdrehte.
„Man möchte fast glauben, ihr wollt das Meer in mein Bad holen“, meinte er.
Am nächsten Tag, nach einem wunderbaren Schlaf in den weichen Betten, gingen sie einkaufen. Heidrun bestand darauf, und Olav und Stig ließen sich das nicht zweimal sagen, denn das Einkaufen ging
so: „Nehmt, was ihr tragen könnt.“ Heidrun legte dafür etwas hin, das sie Geld nannte, aber sicher spielte sie den Besitzern der Waren einen Streich, so lächerlich wenig war das, was sie
hinlegte.
Bald trugen die Männer bis zum Platzen gefüllte Taschen, drei davon mit Würsten, Käse, Kuchen, Weintrauben, Süßigkeiten und Safttüten, in zwei anderen waren Kleider, Schuhe und, nicht zu glauben,
Heidrun kaufte etwas, mit dem sie sich die Lippen rot malte!
Plötzlich fragte Olav: „Wo sind wir eigentlich?“ Und wieder hörte er vom Sklaven den merkwürdigen Satz, sie seien immer noch in Odensvik, bloß 1000 Jahre später. Jetzt hatte Olav genug. Er wollte
es bewiesen sehen.
„Dann zeig mir doch das Meer! Wo ist es? Und unsere Bucht und unser Wald?"
Beatrice sagte, sie wüsste den Weg zum Meer. Es war ein langer Weg durch Straßen mit lautem Verkehrsgewühl. Heiß schien die Sonne und es gab wenig Schatten.
„Wo ist denn der Wald?“ schnaufte Stig. „Ich will endlich in den Schatten!“
„Es gibt keinen Wald“, sagte Beatrice. „Das hier, das ist alles Stadt.“
Sie kamen an einer Baugrube vorbei. Unten arbeitete ein dicker Mann mit einem kleinen Spaten vorsichtig im Lehmboden. Plötzlich sprang er auf und hielt etwas in die Höhe.
„Ein Dolch!“ schrie er. „Ein Wikingerdolch!“ Und begann mit einem Tuch den Dolch zu säubern.
Olav sah genau hin und erkannte an den blitzenden Edelsteinen am Griff seinen Dolch. Sofort rutschte er den Grubenrand hinunter und noch ehe jemand ihn aufhalten konnte, stürmte er mit Gebrüll
auf den Mann zu. Doch dieser warf sich mit dem Bauch auf den Boden, begrub so die Hand mit dem Dolch unter sich. Diese Kampftechnik war für Olav völlig neu, verdutzt blieb er stehen, kratzte sich
hinter den Ohren und hoffte, Heidrun würde ihm zu Hilfe kommen.
Hastig kletterte sie auf einer Leiter herunter und half dem Archäologen beim Aufstehen.
„Entschuldigen Sie“, sagte sie, „mein Mann ist ein wenig verwirrt... Diese Hitze, verstehen Sie? Und dazu ist er ein leidenschaftlicher Sammler von alten Wikingerdolchen! Er dachte wohl wirklich,
es ist ein Dolch aus seiner Sammlung.“
Der Mann erhob sich, trat an Olav heran, sah ihm in die Augen, dann lächelte er.
„Ich verstehe Sie sehr gut, mein Herr. In Ihren Augen lese ich die Liebhaberei für antike Sachen. Das Sammeln tausend Jahre alter Dinge ist auch meine Leidenschaft. Ja, Ihr Interesse freut mich.
Kommen Sie, ich zeig Ihnen was... Hier stand einmal ein altes Wikingerdorf mit mehr als 20 Hütten und einem Langhaus. Sehen Sie den Balken im Lehm? Er wurde gestern entdeckt. Stammt von dem
Langhaus. War vermutlich das Haus des Häuptlings. Und dort ..“
Bevor Olav was sagen konnte, zog Heidrun ihn schnell weg und kletterte mit ihm die Leiter hinauf.
„Ich versteh das nicht", murrte er, als sie wieder oben standen, „ wie kommt der Kerl an meinen Dolch? Den hab ich doch beim Essen liegen lassen!" Während er sprach, machte der Sklave ein so
dummes Gesicht, dass Olav lieber nichts mehr sagte. Schweigend trottete er neben Heidrun her, an seinen finsteren Augen sah sie, dass er am liebsten zuhauen würde. Sie lächelte ihn an, und
als auch der Sklave lächelte, hatte er das Gefühl, genau so zu lächeln, nur sah das keiner.
Beatrice hatte alles beobachtet. Sie war jetzt doppelt überzeugt, dass Torbjörn die Wahrheit gesagt hatte. Beim Weitergehen drückte sie ihm die Hand.
Endlich kamen sie ans Meer. Das heißt, sie kamen nur bis an eine Mauerbrüstung, dahinter lag das Meer. Motorboote durchfurchten es, eine Yacht warf mit dem Bug Falten nach rechts und links, am
Heck zog es eine glatte Schleppe hinter sich her. Es war die Bucht von Odensvik und das Wasser war eindeutig das Meer. Aber war das auch wirklich ihre Bucht? Wo waren die Wälder? Auf der linken
Seite war ein grünes, hügeliges Gelände, das waren Golfplätze. Gegenüber war ein Yachthafen mit vielen Booten. Etwas höher gelegen stand ein pyramidenförmiges Hotel, über die vielen Fenster
spannten sich gelben Markisen.
„Wo ist der Wald?“ fragte Olav mit heiserer Stimme.
Beatrice zuckte mit den Schultern.
„Wald? Wenn hier einer war, dann hat man ihn weggenommen.“
„Wer nimmt ihn weg?“ fragte er grimmig und Stummer machte ein strenges Gesicht.
„Ein Ungeheuer, sagt mein Papa“, erklärte Beatrice. „Er sagt, es hat zwei Köpfe, Dummheit und Geldgier."
Olav rieb sich die Stirn und Stummer machte ein sehr nachdenkliches Gesicht. Mit beiden Händen riss Stig einen Stein aus der Mauer und schleuderte ihn ins Meer.
„Ich bleibe hier und werde das Ungeheuer töten!“ schrie er.
Und Torbjörn rief: „Ich auch! Ich werde Beatrice schützen! Ich gehe nicht ins Dorf zurück!“
„Psst!“ Heidrun legte den Finger an den Mund.
„Aber, Mutter, sie weiß doch schon alles. Ich hab es ihr gesagt!“
„Ja, ich weiß alles.“ Beatrice nickte. „Und wisst ihr was?“ Sie sah einen nach dem anderen an. „Ich will den Wald sehen! Kann ich nicht mitkommen? Nur für einen Tag!“
Olav zupfte, ja, er zerrte an seinem Bart. Ihm kam ein ganz anderer Gedanke. Hier bleiben, das wäre was. Ist das nicht wie in Asgaard, wo die Götter wohnen? Leckere Braten, köstliche Getränke.
Und die Betten! Weicher als Schafwolle.. Und warmes Wasser zum Plantschen! Man wär ja dumm, wenn man nicht hier bliebe.. Andererseits.. Da waren noch die Männer in Odensvik. Die konnte man doch
nicht im Stich lassen. Also was? Am besten wäre es, wenn sie auch in diese herrliche Welt kämen! Aber sie sind doch Krieger, sie wollen kämpfen und auf Beutezug gehen. Das wäre hier nicht
möglich.. So dachte Olav hin und her und kam zu keinem Ergebnis.
Stummer schien seine Gedanken zu lesen, er machte ein Gesicht, das alles ausdrückte: Gram, Ärger, Ratlosigkeit, Trauer und Nachdenklichkeit bis zu Kopfschmerzen. Vermutlich begann ihn das
Gesichterschneiden zu plagen, er drehte Olav und den anderen den Rücken zu, als blickte er zum Meer hinaus, und so sah niemand, wie er flüsterte: „Hör auf das, was Stig gesagt hat!“
Olav zuckte zusammen, doch dann... Schade, dass Stummer ihm nicht sein Gesicht zeigte, denn es strahlte vor Glück.
„Natürlich!" dachte Olav begeistert. „Oho! Was für ein kluger Gedanke! Darauf kann auch nur ich kommen. Auf Stig hören! Genau. Aber was.. ja, was hatte der gesagt? Richtig. Hier
bleiben und kämpfen. Und warum? Na weil... Der Wald! Bei Odin, ja, das ist es! Der Wald! Unser Wald! Der ist bedroht! Von einem Ungeheuer.. Na warte, du Biest!"
Er reckte sich, als wollte er einen Kopf größer werden, und rief: „Also, wenn ihr es nicht wisst, ich weiß, was zu tun ist. Das sag ich aber erst in Odensvik! Also ab nach Hause! Und was das
Mädchen betrifft...“
Da unterbrach ihn Heidrun.
„Sie kommt mit, aber nur bis morgen früh. Ihr Vater darf nichts davon merken.“
Nach dem Abendbrot taten sie, als gingen sie zu Bett, sie warteten, bis der Vater von Beatrice eingeschlafen war, dann brachen sie leise auf.
Nicht weit von der Villa entfernt, im Lichtkreis einer Laterne, vor einem Tulpenbeet, machte Heidrun eine Handbewegung, das Beet wurde schwarz und einer nach dem anderen trat hinein und
verschwand.
Aus einer Seitenstraße hatten zwei Polizisten in ihrem Auto alles beobachtet. Sie stiegen sofort aus, um nach den Verschwundenen zu suchen. Verwirrt standen sie vor dem Blumenbeet. Keine Spur von
einem Menschen. Sie suchten die Umgebung mit einer Taschenlampe ab. Aber auch hier: nichts. Sie überlegten, ob sie Meldung machen sollten.
„Nein, lieber nicht", sagte der Jüngere, „man könnte uns für betrunken halten. Und das während der Dienstzeit!"
Und so setzen sie sich wieder ins Auto und hielten alles für eine Halluzination.
Und das geschah in Odensvik:
Die Männer hatten sich beruhigt und der Skalde schlug vor, wenn Olav Blaufuchs bis morgen nicht zurückkommt, müsse man über einen neuen Häuptling entscheiden.
Olav war nicht zurückgekommen, also versammelten sie sich abends in der Halle des Häuptlinghauses. Sie saßen auf den Bänken längs der Wände, das Feuer flackerte, in seinem Lichtschein ging der
Skalde auf und ab, er hielt eine Rede, sein Schatten flog bei jedem Schritt über die Gesichter der Männer. In Anbetracht des feierlichen Anlasses wählte er Worte, wie sie in alten Sagen verwendet
wurden und er sprach sie in singendem Tonfall:
„Dreißig Sommer und Winter sind es her, da lehrte mich meines Vaters Vater Oke Fahrtenweiser den nächtlichen Himmel zu lesen. Sieh hinauf, sagte er, und wisse: Jeder Stern ist die funkelnde
Schwertspitze eines Wikingers in Walhall! Darin künden sie uns eine Botschaft der Götter: Haltet das Schwert in Ehren! Mutig vorwärts gestürmt mit immer erhobenem Schwert! Hinter uns liegt eine
Zeit, da begannen unsere Schwerter schon zu rosten, doch jetzt, Wikinger von Odensvik, lasst uns eine neue Zeit beginnen. Rüsten wir unsere beiden Schiffe zur großen Beutefahrt, erobern wir ferne
Städte und kehren wir heim mit Schatztruhen, dazu mit den schönsten Frauen und mit Sklaven, um deren Kraft und Ausdauer uns andere beneiden werden.." Auf einmal schwieg er und, wie aus einem
Traum erwachend, blickten ihn die Männer an. Für eine Weile sagte er nichts. Er genoss die Aufmerksamkeit der Männer, er spürte, wie die Spannung wuchs, und als er jetzt zun sprechen begann,
stieg seine Stimme zu einem triumphalen Gesang.
„Und daher sage ich euch, Krieger von Odensvik, wählt den neuen Häuptling, der euch zu großen Eroberungen führt! Es muss ein Mann sein, kundig alter Bräuche, ein Kenner der ewigen Gesetze, ein
Weissager der Zukunft, und natürlich muss er ein Held sein, ein besonderer Held, einer, der vor nichts Angst hat, wie zum Beispiel einer, der furchtlos einen Stein in die Unterwelt schleudert, um
das Tor zur Unterwelt zu schließen und so ein ganzes Dorf vor dem Untergang rettet!“
Für einen Moment herrschte Stille. Jedem war klar, welcher Held gemeint war, und der Skalde sah sich schon zum Häuptling gewählt, da bewegte sich das Bärenfell am Eingang, dann wurde es kräftig
beiseite geschlagen und hintereinander traten ein: Olav Blaufuchs, Heidrun, Sklave Stummer, Stig Stenhammer und als letzter Torbjörn, an seiner Hand ein dunkelhäutiges Mädchen. Sie waren
gekleidet auf eine Art, wie man es noch nie gesehen hatte. Die Wikinger sprangen von den Bänken auf.
„Geister! Es sind Geister aus dem Totenreich!“ schrie der Sklade .„Hinweg, hinweg mit euch! Geht zurück in die Unterwelt!“
Wild fuchtelte er mit seinem Stab, achtete aber darauf, dass er den Geistern nicht zu nahe kam..
Die Geister machten keine Anstalten, in die Unterwelt zu verschwinden.
„Lass den Quatsch, Skalde“, sagte Olav Blaufuchs und er sagte das nicht mal zornig, sondern ganz gelassen. „Sonst hau ich dir eins drüber. Und ihr da! Hockt euch wieder hin.“
Die Männer plumpsten auf die Bänke, dass es krachte.
„Geister… Dass ich nicht lache!“ Olav lachte trocken und Stummer machte ein hochmütiges Gesicht. „Komm her, Skalde, fass mich nur an, und ich hau dir die Rübe ab. Dann sollst du sehen, ob ich ein
Geist bin.“
Worauf der Skalde tückisch fragte: „Ja, wie denn? Ohne Schwert?"
Erst lachte nur einer, dann zwei und dann dröhnte die Halle von Gelächter.
Und da merkte Olav, dass er auch seine Sprache ändern musste.
Aber, wie wir alle wissen, Olav war ja nicht dumm. Er handelte sofort.
„Wo wir waren, trägt man kein Schwert mehr! Übrigens, das hier...“, mit großem Schwung schüttete er im Lichtkreis des Feuers alle Taschen aus, „ist unsere Beute! Was sagt ihr jetzt?"
Und Heidrun rief: „Das alles bekamen wir ohne einen einzigen Schwerthieb! Greift zu, Männer!“
Da war kein Halten mehr. In wenigen Sekunden hatten sich die Wikinger auf alles am Boden gestürzt, Papierfetzen flogen nach allen Seiten und bald saßen sie kauend und schmatzend wieder auf den
Bänken.
Der Skalde richtete seinen Krummstock auf Beatrice. Noch gab er sein Ziel nicht verloren.
„Und wer ist diese kleine schwarze Hexe?“ fragte er drohend.
Torbjörn sprang dazwischen und schlug ihm den Stab aus der Hand.
„Sie ist eine Prinzessin!“
Der Skalde griff sich an den Kopf. Jetzt dämmerte es ihn. Natürlich.. Keine Geister! Durch Heidruns Zauber waren sie nicht in der Unterwelt gelandet, sondern auf einen Königshof! Wie
vornehm das Mädchen gekleidet ganz wie Heidrun damals. Und Torbjörn, Donnerwetter, den hatte man sicher zum Ritter geschlagen, das bewiesen sein blaues Beinkleid und das goldgelbe Vlies auf der
Brust. Und was für kostbare Stoffe schmückten Olavs und Stigs Körper! Olavs Brustwehr hatte sogar die Zeichen eines Königs, rotschwarze Vierecke. Nur der Sklave trug wie immer einen alten
ausgefransten Umhang. Aber schließlich war es ja auch nur ein Sklave.
Der Skalde gab seine Sache verloren, jetzt galt es, noch schnell etwas von den Leckereien zu bekommen, er krabbelte auf dem dunklen Boden herum und hatte Glück: er fand eine Schokoladentafel. Er
biss hinein.
„Die reinste Götterspeise!“ krächzte er. Plötzlich spuckte er aus. Was war denn das für silbernes Zeug?
„Auch Götterspeisen sind in eienr Hülle, Skalde“, spottete Heidrun. „Isst du etwa einen Hasen mit Fell?“
Gelächter, das in Rufe überging: „Olav, erzähle! Wie war es.. Wen habt ihr ausgeraubt? Gibt es noch mehr davon? Leg los, lass uns nicht zappeln!“
„Also..“ Olav stellte sich nahe der Feuerstelle in Position, rief Stummer an seine Seite, und begann wie ein Skalde im Sington zu reden: „Hört, Männer von Odensvik, was wir erlebten. Viele
Gefahren hatten wir zu bestehen. Zuerst kämpften wir gegen einen Drachen aus Eisen. Er hatte zwei Augen, aber einen Schwanz hatte er nicht.“
„Genau!" rief Stig entzückt. „Aber einen Kopf hatte er nicht. Und darum kam der Rauch nicht aus dem Rachen, sondern hinten raus.“
„Ja“, sagte Olav und fand zu seiner richtigen Stimme zurück, „so war das. Aber jetzt halt den Mund, Stig. Ich rede. Naturlich hoben wir das Schwert gegen das Ungeheuer, es heulte fürchterlich
auf, musste aber vor uns stehen bleiben, denn wir hatten ihm den Weg versperrt. Jedoch, wir ließen uns nicht gnädig stimmen. Wir befahlen ihm, uns zu den Schätzen der neuen Welt zu bringen.
Darauf hob es einen Flügel und wir gelangten in seinen Bauch. Mit wütendem Gebrumm flog es los. Tausend Burgen, rechts und links.."
„Im Bauch war es verdammt eng“, unterbrach Stig. „Ich bekam fast keine Luft.."
Sofort zeigte Stummer ein zorniges Gesicht und Olav bellte: „Stig Stenhammer! Soll ich dir das Maul stopfen?“
Darauf schwieg Stig und begann sich bald zu wundern: Wie viele Heldentaten sie vollbracht hatten, von denen er nichts wusste!
Indessen geriet Olav immer mehr in Fahrt, der Sklave hatte mächtig zu tun, um mit dem Gesichtermachen mitzuhalten. Und so kam es, dass die Wikinger mit den Ohren bei Olav waren, mit den Augen
aber beim Sklaven. Sein Gesicht bewegte sich wie das Meer. Es war finster, dann wieder heiter, rümpfte die Nase, strahlte glücklich, blickte verschmitzt, bleckte die Zähne, hob tadelnd die
Brauen, machte ein Schnäuzchen, als küsste es eine Schweinshaxe, verzog den Mund, als schmecke es Saures, lachte und weinte gleichzeitig. Ein prachtvolles Schauspiel war es zu einer prachtvollen
Erzählung! Noch Jahre später sprachen die Wikinger davon.
Torbjörn und Beatrice hatten die Halle verlassen. Obwohl es schon dunkel war, wollte das Mädchen unbedingt den Wald sehen. Aber sie sah ringsum nur eine Wand, schwarz und still.
„Das ist unheimlich“, flüsterte sie. „Was ist das?"
„Das ist der Wald mit seinen Bäumen!“ erklärte Torbjörn. „Sie stehen ganz dicht zusammen und so schützt uns der Wald wie eine Hand mit tausend Fingern.“
Ja, das hatte er schön gesagt, aber man konnte es auch so wie Beatrice sehen: man war wie in einer Höhle mit Lichtern an der Decke. Sie zeigte zum Sternenhimmel, so eine Sternepracht hatte sie in
der großen Stadt noch nie gesehen..
„Lass uns die ganze Nacht hier draußen bleiben", bat sie. Denn die Luft war lau und voller Düfte, und die Stille kam ihr jetzt friedlich vor mit einem ganz leisen Flüstern aus dem Wald..
Rasch holte er zwei Schafsfelle, breitet sie unter der Eiche aus und dann setzten sie sich nebeneinander, den Baumstamm als Rückenstütze. Nach einer Weile lehnte sich Beatrice an Torbjörn. Er
legte den Arm um sie, und als er sah, wie ihr die Augen zufielen, beschloss er, die ganze Nacht über sie zu wachen. Aber wenige Minuten später schlief auch er.
In der Versammlungshalle aber dachte keiner an Schlaf. Endlich endete Olav seine großartige Geschichte mit diesen Worten: „Wenn sie nur nicht so blöd wären! Denkt euch, sie jagen nicht mehr mit
Pfeil und Bogen. Sie jagen das Fleisch auf Tellern mit Messer und Gabel, ich hab es mal versucht und ich sage euch: es ist verdammt schwer!“
Alles brach in Gelächter aus, da ertönte Stigs Stimme: „Aber was sie dabei tranken ausihren großen Gläsern, so was Gutes habt ihr noch nie getrunken! Vielleicht sollte man den Göttern eine
Botschaft schicken: Es gibt einen Ort, wo selbst Götter staunen werden.“
Und wieder lachten die Männer, aber ein wenig furchtsam, denn die Götter sollten nicht glauben, dass man sie auslache.
Mit einer Handbewegung trat Heidrun in die Mitte, sofort wurde es still. „Ihr habt jetzt genug gehört", begann sie, „nun ist es Zeit für eine Entscheidung. Denn morgen früh kehren wir in diese
Welt zurück und leben dort für immer. Wollt ihr hier bleiben oder kommt ihr mit? Wer etwas länger braucht für eine Entscheidung, kann nachkommen. Ich lasse ein Jahr lang das Tor geöffnet.
Lasst alle Sachen hier, nehmt nur euren Goldschatz mit. Die Waffen müssen hier bleiben! Damit würdet ihr die Menschen erschrecken und den Frieden stören. Was ihr in der anderen Welt braucht
sind Klugheit und Weisheit!“
In der Halle erhob sich lautes Gemurmel. Einige Wikinger wollten mitgehen, die meisten wollten hier bleiben, sie seien Wikinger und der Kampf gehöre zu ihrem Leben. Oskar hatte das kommen sehen
und wusste längstt, was er sagen sollte. Er holte tief Lust, dann dröhnte seine Stimme durch die Halle:
„Jaja, ich weiß, ich weiß, ihr seid Krieger und wollt Krieger bleiben! Klar doch! Könnt ihr auch! Keine Angst, ihr werdet nicht durch Nichtstun verfaulen. Denn auch dort in der anderen Welt sind
Krieger nötig. Schweig, Frau! Keine Widerrede! Denn ich will euch was verraten: Auch dort gibt es Gefahren! Zum Beispiel gibt es ein Ungeheuer mit zwei Köpfen, das frisst den Wald auf, es
hat schon die Hälfte gefressen und wenn man nichts dagegen tut, wird es den ganzen Wald auffressen und dann noch die Menschen! Ich aber, Olav Blaufuchs, Häuptling von Odensvik, ich werde dagegen
ankämpfen! Das wird ein harter Kampf, vielleicht verliere ich mein Leben, aber der Wald hat uns geschützt, jetzt muss er geschützt werden. Und wer kann das besser als ein Wikinger? Aber
natürlich! Ich sehe hier nur Feiglinge! Gut, wenn ihr Angst vor dem Ungeheuer habt, dann bleibt ruhig hier!"
Angst? Feiglinge? Das hat noch keiner von den Wikingern gesagt und das sollte auch in Zukunft nicht sein dürfen. Die Männer schrien, sie kämen mit, er solle sie in den Krieg führen wie immer und
wenn sie nicht mit Schwertern kämpfen dürften, dann eben mit bloßen Händen!
Wenig später hörte man nur noch ein feines Klimpern in den Hütten, es waren die Goldstücke, die in Gefäße und Truhen fielen.
Olav ging in sein Zimmer, wo Heidrun gerade ihren Schmuck, goldene Armreifen und Halsketten aus kostbaren Perlen, in die Schatztruhe legte.
„So, das ist alles“, sagte sie. „Mehr nehmen wir nicht mit.“
„Oho“, dachte Olav und war froh, dass Stummer nicht dabei war, denn sonst hätte Heidrun an seinem Gesicht gesehen, dass ihr Mann was vorhatte. „Meinen Dolch nehm ich mit! Sonst kriegt ihn dieser
verdammte … wie hieß er noch? Ausgräber?"
Und er schob den Dolch in den Ärmel, als Heidrun für einen Augenblick wegsah. Doch als er die Schatztruhe zum Portal in die andere Welt schleppte, passierte es. Unbemerkt rutschte der Dolch aus
dem Ärmel und fiel ins Gras. Jahr für Jahr deckte Herbstlaub es zu, Stürme schleuderten Äste und Bäume darüber, Regen und der Hunger der Würmer verwandelten alles zu Erde, Schicht um
Schicht wurde sie höher, bis eines Tages.. Ach, ihr wisst es schon? Ist das nicht eine tolle Geschichte? Aber halt! Sie ist noch nicht zu Ende.
Als der Vater von Beatrice am nächsten Morgen aufwachte, lauschte er. Merkwürdig. Wo ist der Lärm der Gäste? Nichts zu hören. Er schlich zu den Gästezimmern. Nanu? Die Betten waren ja schon
gemacht, ebenso das Bett von Beatrice. Sind die doch in aller Herrgottsfrühe schon ausgeflogen! dachte er schmunzelnd. So ein lebhaftes Völkchen! Weil seine Tochter dabei war, machte er sich
keine Sorgen. Sie schien ihm die Vernünftigste von allen. Er frühstückte und dann fuhr er wie jeden Morgen auf seine Baustelle.
Es war genau um diese Stunde, dass der Mann in Badehose, jetzt aber im Pyjama, ein Fenster aufschlug und mit seinen gymnastischen Übungen begann. Er sprang in die Höhe, schlug über seinem Kopf
die Hände zusammen und spreizte die Beine. Beim fünften Mal wäre er beinahe gestürzt, denn er hatte vor Schreck vergessen, wie man mit gespreizten Beinen wieder zu stehen kommt. Denn er hatte
etwas gesehen: In seinem Garten stand ein bärtiger Mann in gelber Jogginghose mit einer Truhe an seiner Seite.
Sofort schimpfte der Mann im Fenster: "He! Sie Jogger! Gehen Sie wohl runter von meinem Grundstück! Und nehmen Sie Ihren Kasten mit!"
Da tauchte neben dem Jogger eine Frau auf, ein Junge, ein Mädchen und dann noch ein Mann in Boxershorts, auch mit einer Truhe.
Erst stand der Hausbesitzer wie versteinert, dann hob er abwehrend die Hände, denn Heidrun trat zu ihm ans Fenster und sagte freundlich: „Lieber Mann, wir kaufen dein Haus und deinen Garten -
sag, was es kostet.“
„Ganz bestimmt träume ich“, dachte der Mann, „oder es ist ein Streich mit der versteckten Kamera.“
Als aber zwischen den Fliederbüschen und sogar hinter dem Haus auf seinem Gemüsefeld immer mehr Menschen auftauchten und alle in einer seltamen Kleidung, griff er nach Heidruns Hand, sie war warm
und fest, eine richtige Menschenhand, da sagte er schnell: „Jaja, ich verkauf alles.. Wie viel zahlen Sie?“
Die Augen gingen ihm über, als er das Gold sah. Wenig später befand er sich mit Heidrun in der Bank, bekam eine Menge Geld, so dass er immerzu von einem Jackpot sprach, den er gewonnen
hätte.
Und am Schluss sagte er zu Heidrun, vor Dank hatte er nasse Augen: „Liebe Glücksfee! Es gehört jetzt alles dir, das Haus und das Grundstück, ich will nichts mehr damit zu tun haben. Weißt du, ich
hoffe es macht dir nichts aus: es ist nämlich verhext! Ich wünsch dir alles Gute! Ich zieh für den Rest meines Lebens in ein Hotel und wenn da komische Kerle kommen, dann lass ich die vom
Personal rausschmeißen.“
Als Heidrun von der Bank zurückkehrte, hörte sie Olav fluchen. Er sagte, er müsse sofort zurück, um seinen Dolch zu holen. Dieser Schatzplünderer solle den Dolch nicht in die Finger bekommen. Sie
machte ihm klar, das ginge nicht mehr, sie hätte für die Rückkehr keine Zauberkraft mehr. Als Stummer sein Gesicht zum Weinen verzog, wollte ihm Olav eine runter hauen, aber der Sklave duckte
sich und seufzend hob er die Schatztruhe, um sie in das Haus zu tragen, wo sie jetzt wohnen würden.
Und wie ging es weiter mit den Wikingern? Wie kamen sie in der Welt der Wunder zurecht? Sie waren jetzt im 21. Jahrtausend, weit, weit weg aus ihrer Zeit. Aber es gelang ihnen, sich gut anzupassn
und ihre Vergenenheit verbergen. Bald lebten sie unter den Menschen von heute, als hätten sie schon immer hier gelebt, und, um ehrlich zu sein, es fiel ihnen ziemlich leicht, schließlich waren
sie ja nicht die Ärmsten mit ihren Goldschätzen.
Noch lange beklagte Olav den Verlust seines Dolches. Ein paar Jahre später spendete er einem Museum eine schöne Geldsumme. Und warum? In einer Ausstellungsvitrine hatte er seinen Dolch entdeckt,
auf roten Samt glänzte er in seiner ganzen Pracht.
Mit seinem vielen Geld gründete er eine Bank und kauft Wälder auf, damit sie keiner zerstören kann, und wo immer es geht, lässt er Bäume pflanzen. Heidrun hilft ihm dabei, sie hat eine Stiftung
zum Schutze der Natur gegründet.
Und die anderen Wikinger? Sie sind Krieger geblieben, aber ohne Schwert. Sie kämpfen, wie Odin es täte: mit Weisheit und Verstand. Ist ein Wald in Gefahr, schlagen sie dort Zelte auf und bleiben
so lange, bis der Wald gerettet ist. Manche klettern auf Bäume, die gefällt werden sollen, und harren dort so lange aus, bis der Baum stehen bleiben darf.
Und was ist mit Torbjörn und Beatrice? Na, was wohl. Sie haben geheiratet und ich hoffe, sie bekommen bald Kinder. Außerdem sind sie in einem Naturschutzverein.
Achja, da ist noch Stig Stenhammer, der Muskelprotz. Er ist mit der Tochter eines Restaurantbesitzers verheiratet und besitzt ein Fitness-Studio. In seinen freien Stunden ist er mit Kindern im
Wald und zeigt ihnen, wie man Bäume pflanzt.
Was Stummer betrifft, da gibt es nichts zu sagen. Er ging eines Tages fort, ganz einfach. Er verschwand, als hätte es ihn nie gegeben. Als ich Heidrun nach ihm fragte, sagte sie, das sei
überhaupt kein Sklave gewesen, ganz im Gegenteil. Es war Odin!
Ich bin heute noch sprachlos. Wie kann sie so was behaupten? Zwar nahm Odin oft Menschengestalt an, um auf der Erde herumzuwandern. Aber nie würde er die Gestalt eines Sklaven annehmen,
niemals! Ein Gott als Sklave, unmöglich! Und als sie meinte, sie selber sei eine Tochter Odins – wenn auch bloß eine von vielen –, da musste ich mich beherrschen, um nicht laut loszulachen. Ja,
das hätte sie wohl gern. Nun ja. Welcher Mensch wäre nicht gern ein Kind Odins...
Übrigens braucht Olav den Sklaven gar nicht mehr. Wie alle Wikinger rasierte er sich den Bart ab, damit keiner errät, wer und was er in Wirklichkeit ist: ein Wikingerhäuptling. Und ein
Wikingerhäuptling als Bankdirektor, das geht gar nicht.
Und wollt ihr wissen, wer ich bin? Das möchtet ihr wohl gern. Nein, das bleibt ein Geheimnis. Ich habe mich nämlich bei dieser Geschichte ganz schön blamiert. Bei Odin! Ich könnte ein Lied davon
singen.
Siehe auch Opa und die Bäume