Es war Mittsommer, ich wollte mich in die Waldstille meiner schwedischen Hütte zurückziehen, aber schon am ersten Tag hörte ich das Gejaule von Motorsägen. Ich ging der Lärmquelle nach. Und da
war sie: drei behelmte Männer in gelben Westen mit Motorsägen. Sie hoben ihren Kopf nur, um nach der nächste Fichte zu sehen und sie zu Fall zu bringen. Die reinsten Roboter. Vor lauter Bäumen
sahen sie mich nicht, ich glaube, sie sahen nicht mal den Wald. Und der war groß. Er endete erst weit weg an einem See. Wahrscheinlich würden sie noch tagelang zu tun haben.
Am nächsten Morgen fuhr ich zurück nach Deutschland.
Da ging es mir gar nicht gut. Ich schlief schlecht, war ständig gereizt und nervte meine Umgebung. Und so riet man mir, bevor es zum Äußersten käme, nämlich zum Familienkrach, endlich in meine
Hütte zu verschwinden. Und so fuhr ich los.
Es war später Nachmittag. Der Himmel hatte sich mittags zugezogen, es war schummrig geworden, es nieselte. Was für eine Schnapsidee, im Herbst hier Ferien zu machen, dachte ich. Gerade bog ich in
mein Waldgebiet ein. Und dann..
Ich riss das Steuer nach rechts, vor einem Gebüsch kam der Wagen zum Stehen. In halber Höhe schwebte etwas Leuchtendes. In seinem Umkreis schimmerte der Regendunst wie Goldstaub. Etwas
Außerirdisches?
Und dann erkannte ich es. Auf einem Hügel, inmitten eines weiten Kahlschlags, stand ein Baum, ein Ahorn. Offensichtlich der einzige Überlebende einer Holzfällerschlacht. Aber statt traurig
auszusehen, glich der Baum einer in Gold gekleideten indischen Tänzerin. Mit nach außen gedrehten Händen und einem Lächeln stand sie bereit, ihren Tanz zu beginnen.
Ich lächelte zurück und ich glaube, ich hatte ein dummes Lächeln noch auf den Lippen, als ich meine Klamotten aus dem Wagen in die Hütte trug. Ich fragte mich, wie ist so was möglich? Diese
verfluchten Holzfäller, die mich verjagten, die den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen, die lassen einen einzigen Baum stehen. Wieso? Aus Faulheit?
Ich brummte den abgedroschenen Spruch vor mich hin.. Ich stutzte. Moment mal. Vielleicht sagten sie was ganz anderes? Wie wär's damit: Mein Lieber, du siehst den Baum vor lauter Wald nicht?
Ich wurde nachdenklich. Ich fühlte mich von den Holzfällern geradezu angefixt, und.
als ich am nächsten Morgen meinen ersten Waldspaziergang machte, kam ich nicht weit. Fast bei jedem Baum blieb ich stehen und betrachtete ihn aufmerksam. Ich suchte nach seinem besonderen
Charakter. Beim Weitergehen nickte ich ihm zu, so, als hätte auch er mich die ganze Zeit betrachtet.
Bis ich merkte: Auf diese Weise sehe ich den Wald vor lauter Bäumen nicht. Und darum blieb ich nur noch stehen, wenn mir etwas Ungewöhnliches an einem Baum auffiel.
So machte ich es die kommenden Tage. Aus meinen Spaziergängen – ich kann es nicht anders sagen – wurde ein trauliches Treffen unter Freunden, und, dem Himmel sei's geklagt, mit manchem habe ich
sogar gesprochen..
Das ist nun auch schon wieder ein paar Jahre her und ich schreibe diesen Text in einer Zeit, wo viel von Flüchtlingen, Moslems, Palästinensern, Juden, usw. gesprochen wird. So wird eine große Zahl von Menschen in einem Gruppenbegriff zusammengefasst wie die Bäume in einem Wald. Ja, auch bei den Gruppen handelt es sich um einen Wald, einen Wald von Menschen, und es darf nicht passieren, dass nur wenige oder gar nur einer von ihnen übrig bleibt, bis wir entdecken, dass er ein besonderer Mensch ist. Richten wie den Blick weg von der Gruppe, schauen wir auf den Einzelnen: wir werden überrascht sein, denn er ist uns ähnlich, ja, wir sind mit ihm verwandt.