Anfang Dezember, der Himmel ist grau. Sieht nach Schnee aus. Ich nippe abwechselnd an vier Büchern. Es ist Spätnachmittag, die Fensterscheiben sind mittlerweile kohlschwarz. Ich
überlege, ob ich mir einen heißen Kakao machen soll. Da, ein Rumsen.. Noch mal. Das muss auf der Terrasse sein. Ich schalte die Terrassenlampe an, schiebe den Vorhang beiseite. An der Glastür
steht Gunnar, hinter ihm, im Halbdunkel, noch jemand. Beim Eintreten reicht Gunnar mir ein Glas mit einer Hyazinthe, ich bedanke mich förmlich, der fremde Mann lächelt verlegen. Gunnar stellt ihn
mir als seinen Chauffeur vor. Sie kommen aus Halmstad, wo sie ein Eishockey-Spiel besuchten. Der Mann heißt Sven, ist etwas füllig, seine Nase ist rot vom Frost oder vom Wein. Ihm ist der späte
Besuch sichtlich unangenehm.
Die Hyazinthe duftet so intensiv, dass ich das Glas in die hinterste Ecke der Hütte stelle. Gunnars Outfit verblüfft mich. Er trägt einen blitzsauberen blauweißen Pullover und nagelneue
Jeans. Dass sein Bauch den Hosenstall etwas aufplatzen lässt, kann er nicht sehen. Das ist unterhalb des Bauches.
Kaum sitzt er in den Sessel - ich servierte noch schnell Kekse zum Knabbern - beginnt er in aufgekratzter Stimmung zu erzählen und ist nicht mehr zu bremsen, obwohl Sven mehrmals sagt, seine Frau
warte auf ihn.
Mal sehen, ob ich noch einiges zusammenkriege:
Mit 22 baute er sich einen Kajak aus Brettern und wasserdicht präparierten Bettlaken. Als er es auf dem See ausprobierte, kam Sturm auf, plötzlich zog die Leinwand Wasser, heftig begann er
Richtung Ufer zu paddeln, Wind und Wellen wurden immer stärker. Da war es, sagte er, dass er zum ersten Mal betete, er betete, Gott möge ihn retten. Die letzten Meter waren schrecklich, sagt er
(seine sonst kleinen Augen werden Kugeln aus hellem Grau) die Arme schmerzten, ständig kippte der Kajak nach Lee, die Leinwand löste sich auf, noch 10m bis zum Ufer, von Stein zu Stein springend,
rettete er sich an Land..
„Und? Hast du Gott gedankt?“
Erstaunt sieht er mich an.
„Wieso? Ich schaffte es doch.“
„Wahrscheinlich hat er dir übermenschliche Kräfte verliehen...“
„Nein, nein.“ Heftiges Kopfschütteln. „Ich war so stark!“
„Jetzt müssen wir aber gehen“, murmelt Sven und greift sich den letzten Keks vom Teller.
„Nein, wart noch. Gleich. Ich muss noch was sagen.“
Und weiter ging‘s im Singsang der schwedischen Sprache, als säße hier ein Barde aus vergangener Zeit.
Mit einem Kumpel trampte er nach Florenz, die Adresse auf einem Zettel stellte sich als das Schloss einer Gräfin heraus, dort wohnten sie ein paar Tage, dann trampten sie weiter nach Rom. In
einer Außenstelle des Vatikans kämpften sie sich „vom Pförtner durch alle Etagen bis nach oben“, zu einem Kardinal mit roter Bauchbinde. Sie seien auf einer Pilgerreise aus Schweden, sagten sie,
der Kardinal war entzückt. In Schweden, einem Ketzerland, gibt es nur kaum Katholiken. Als sie sagten, sie hätten kein Geld mehr, besorgte er ihnen eine Suite in einem Hotel mit Marmorbad, wo sie
eine Woche kostenlos wohnten, bezahlt von der katholische Kirche.
„Moment.. Ihr seid doch Lutheraner?“
„Woher sollte er das wissen? Und wir knieten uns nieder, als er das machte!“ Feierlich zeigt er die Geste des Segnens. „Sogar das Kreuzzeichen war perfekt. Aber den Ring küssten wir nicht.“
Als nächstes ging es in die Schweiz, da halfen sie Anthroposophen beim Bau eines Gemeinschaftshauses. Dann kam der Balkan an die Reihe, Spanien, Argentinien. Usw. usw.
Gegen 10 steht Sven auf, nachdem er noch einen langen Blick auf den Teller warf und ich keine Reaktion zeigte. Gunnar begreift, das ist endgültig, und rutscht aus dem Sessel. Ich mache
ihnen Licht und sehe sie langsam im Dunkel unter der Linde verschwinden.
Und ich fiel ins Bett, erschlagen von einer aufregendenen Weltreise.