Ich hätte wetten können, dort wohne ein putziges Fräulein, ebenso zierlich und reinlich wie ihr Häuschen. Mit blanken Augen, gestärkter Bluse, nach Lavendel duftendem Rock. Ihr kleines Gesicht
ist rosig wie ein Rosenblatt, ihre Stimme zirpt und sie droht mit dem Zeigefinger, wenn ihr Rock in der Haustür klemmen bleibt: „Husch.. Wirst du wohl..“
„Das ist das Sterbehaus und drinnen wohnen die Jungs!“ sagte Gunnar und lächelte. Wie alle im Dorf betrachtete er „die Jungs“ - so wurden sie allgemein genannt - mit einer Mischung aus
Zärtlichkeit und Spott.
Vor über 20 Jahren starb ihr Vater, und seitdem hieß das Haus „Sterbehaus“, denn so werden in Schweden die Häuser bezeichnet, die als Erbe zur Verteilung anstehen. In ihrem Fall hatten die Brüder
das Erbe sozusagen nicht angetreten, weiß Gott warum, vielleicht um Steuern zu sparen, vielleicht auch vergaßen sie es einfach.
Das einstöckige Haus war rot gestrichen und hatte einen vorgebauten Windfang mit geschnitzten Ziererein, hinter den weiß umrandeten Fenstern hingen geklöppelte Gardinen, die sich nie bewegten und
fügten der Stille des Grundstücks den Zauber der Entrückung hinzu. Es stand im Schatten zweier Kastanien ziemlich dicht an der Dorfstraße.
Als ich die Brüder kennen lernte, waren sie schon Rentner: der älteste war 69, der zweite 67 und der jüngste 64.
Man sah sie nur zu dritt und immer im Gänsemarsch, wobei die Älteren den Jüngsten in die Mitte nahmen. Dieser hatte etwas Kindhaftes an sich. Oft blieb er plötzlich stehen, betrachtete
aufmerksam etwas vor seinen Füßen oder einen Baum in der Nähe, sah manchmal still zum Himmel hinauf, wo Wolken zogen. Geduldig warteten seine Brüder, bis er sich satt gesehen hatte, erst dann
marschierten sie weiter. Aus der Ferne wirkten sie wie eine Patrouille, und angesichts ihrer ernsten Gesichter wäre ich bereit gewesen, unaufgefordert meinen Pass zu zeigen.
Sie besaßen einen großen Wald. Wenn sie wieder mal Geld brauchten, zogen sie mit Äxten und Motorsäge los und fällten gut gewachsene Fichten. Das Sägewerk des Dorfes holte die Stämme ab. Im
Frühjahr sah man sie mit geschulterten Spaten in den Wald marschieren, denn Smålands Wälder durchziehen Sümpfe, die Gräben müssen regelmäßig von Bewuchs befreit werden, soll der
Waldboden trocken bleiben.
Im Sommer saßen sie auf Küchenstühlen vor der von der Sonne gewärmten roten Hausfassade. Sie trugen Overalls und grünweiße Baseballkappen auf ihren kantigen Köpfen. Sie sprachen nicht
miteinander. Jedenfalls habe ich das kein einziges Mal erlebt. Sie beobachteten die Straße. Meistens war sie leer. Manchmal wendeten sie den Kopf in die eine oder andere Richtung. Aber auch da
war nichts, und doch schienen sie etwas zu sehen, wofür wir keine Augen hatten. Am Abend, wenn die Straße in der Dämmerung weiß zu schimmern begann, nahm einer nach dem andern seinen Stuhl in die
Hand und ging ins Haus.
Auf meiner Radtour machte ich gern einen kleinen Umweg und fuhr an ihnen vorbei. Ich rief: „Hej!“. Langsam hoben sie ihre breiten, schweren Bauernhände und ebenso langsam sanken sie auf die
Schenkel zurück. Dann saßen sie wieder regungslos, die Zeit schien ihnen abhanden gekommen zu sein
Sie hatten den grünen Schatten der Kastanien im unbewegten Gesicht, es waren schwedisches Buddhas, Buddhas auf Küchenstühlen.