aufgewachsen in der Schweiz, lebt seit 1967 in Berlin.
Sie studierte Psychologie und war über dreißig Jahre
wissenschaftliche Mitarbeiterin
am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung.
Sie promovierte über Friedenspsychologie
und publiziert seit 1987
zum Thema Krieg und Frieden.
Text aus dem Buch von Dr. Marianne MüllerBrettel
Zum Geleit
Ein schönes Bild: Großmutter und Enkelin Meike im ernsthaften Gespräch über Militär und Sicherheit und Frieden und Unsicherheit in der Stube, während des Galaessens, beim Spaziergang und auf dem Segelboot. Beide mit schier unendlicher Geduld und gezügelter Ungeduld. Da wird fast nichts ausgelassen vom Internationalen Recht bis zur psychischen Veränderung durch militärischen Einsatz. Zwischen beiden muss ein tiefes Vertrauensverhältnis bestehen, dass sie ein so spannungsgeladenes Gespräch aushalten können, ohne die Verbindung abreißen zu lassen, ohne einfach fortzulaufen. Die Großmutter will nicht den Freund der Enkelin akzeptieren, während Meike nicht seine Rechtfertigung, als Soldat nach Afghanistan zu gehen, aufgeben möchte. Es entsteht im Gespräch eine nicht nur intellektuelle Zwiesprache, sondern ein Kampf um existentielle Behauptung einer gefährdeten Liebesbeziehung. Fast dominant wirkt Unterbewusstsein auf eine scheinbar sachlich geführte Auseinandersetzung ein.
Die Großmutter weiß unerhört viel und ist deshalb Meike sachlich meist überlegen. Manchmal sagt sie aber auch erstaunlich drastische Sätze:
„Hätte man vor zwanzigtausend Jahren gewusst, wie viel Elend Waffen anrichten, hätte man vielleicht ein Tabu entwickelt, das den Einsatz von Waffen gegen Menschen verbietet. Dann würden wir heute den Einsatz von Waffen zur Lösung von Konflikten genauso verabscheuen wie den Kannibalismus.“
Das mag wohl eine Illusion sein, bezeichnet aber doch gut, woran zu arbeiten ist, nämlich gesellschaftliche Lernprozesse so voranzubringen, dass Sicherheit und Gewalt im Unterbewusstsein nicht mehr automatisch zusammen gefügt werden und damit gewaltfreien, zivilen Alternativen Raum gelassen würde.
Doch dann schüttet die kluge Oma wieder Wasser in den hoffnungsvollen gewaltfreien Wein als Meike meint:
„Wenn du Recht hättest, würde uns ja nur ein falsches Bewusstsein an der Abschaffung von Kriegen hindern.“
„So einfach ist es leider nicht. Es sind viele sich immer wieder selbst reproduzierende Systeme, die ineinander greifen und schwer zu entzerren sind. Da ist einmal die Bevölkerung, die eigentlich keinen Krieg will, aber lieber an dem Bekannten festhält, als sich auf etwas Neues und damit Unbekanntes einzulassen. Zudem profitieren wir von billigen Rohstoffen und dem Rüstungsexport. Auf der anderen Seite bildet eine Mischung aus Angst, Mangel an Wissen und dem Bedürfnis nach Unverwundbarkeit immer noch einen fruchtbaren Boden für die Kriegsbefürworter.“
Bei solchen Worten sollte die Friedensbewegung gut zuhören. Stand sie doch immer unter dem Zwang, militärische Expertise zu erwerben, um in Diskussionen bis zu den höchsten Ebenen bestehen zu können. Dabei geriet leicht die Frage in den Hintergrund, wie denn die Menschen, die gegen Gewalt und Militär zu mobilisieren waren, ihre Friedenssehnsucht mit ihren traditionellen Sicherheitsängsten und mit welchen Folgen verbinden würden. Pazifismus musste und war nicht zwangsläufig das Ergebnis.
Doch zurück zu der Schrift: Glücklich wer eine solche Oma hat! Glücklich auch, wer eine solche Enkelin zur Gesprächspartnerin gewinnen kann. Möge die Schrift zu vielen ähnlichen Gesprächen zwischen der Generationen anregen.
Doch wie würde wohl ein Gespräch zwischen ‚normalen’ Omas und ihren Enkelinnen verlaufen? Könnte es weitere neue psychologischen Einsichten vermitteln?
Andreas Buro
Mein Freund zieht in den Krieg
Ein Streitgespräch über Kriege und die Schwierigkeit, sie abzuschaffen
Für meine Enkelkinder in der Hoffnung, dass sie keinen Krieg erleben müssen.
Denn Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts.
Einleitung
1989 schien der Krieg als Mittel der Politik in Europa überwunden. Die Friedensbewegung und der breite Widerstand in der Bevölkerung der 1980er Jahre hatte den Abbau der Mittelstreckenraketen bewirkt. In der DDR war ein Konversionsplan entwickelt worden, um alle militärischen Einrichtungen der DDR innerhalb von zehn Jahren in zivile Bereiche zu überführen. In der BRD hatten Betriebsräte, Gewerkschafterinnen und Wissenschaftler Konversionspläne für Rüstungsfirmen erarbeitet, um anstelle von Panzern und Minen zivile Güter zu produzieren. 1989 fiel die Berliner Mauer und Deutschland wurde wiedervereinigt, ohne dass ein einziger Schuss abgegeben wurde. Anschließend löste sich die Warschauer Vertragsorganisation, das Militärbünd-nis der sozialistischen Staaten, auf und die Rote Armee wurde aus Deutschland abgezogen.
Doch es kam anders. Die Nationale Volksarmee wurde in die Bundeswehr überführt. Man reformierte die Bundeswehr und änderte die Verfassung, damit Bundeswehrsoldaten out-of-area eingesetzt werden können. Seit 1999 führt Deutschland wieder Krieg. Im Sommer 2017 sind über 3000 Bundeswehrsoldaten außerhalb des Territoriums der NATO im Einsatz.
Nach wie vor lehnt die Mehrheit der Bevölkerung Kriege ab. Warum aber gibt es keinen Aufschrei, wenn Deutschland wieder Krieg führt? Warum vertraut die Mehrheit der Politiker und Politikerinnen in der Sicherheitspolitik auf militärische Einsätze, obgleich kollektive Sicherheits-systeme wie die KSZE und die OSZE bei der Beendigung des Kalten Krieges und der Bewältigung der Konflikte im Baltikum nach 1989 erfolgreich waren? Warum wird die Forderung nach Auflösung der NATO als naiv, weltfremd oder gar gefährlich dargestellt, obgleich die Geschichte zeigt, dass Militärbündnisse die Wahrscheinlichkeit erhöhen, in einen Krieg hineingezogen zu werden?
In den 1990er Jahren wurden Friedensbewegung und Friedensforschung wieder zu Rand-erscheinungen. Dass Krieg und Militär zu den größten Ressourcenverschwendern und Umwelt-zerstörern gehören, wird selten thematisiert. Einstellungen und Haltungen zu Krieg sind voller Widersprüche: Man lehnt Kriege ab, mag sich aber nicht mit diesem Thema befassen. Man hält Kriege für etwas Grausames, nimmt sie aber als notwendiges Übel hin. Man versteht nicht, warum junge Männer im Krieg ihr Leben riskieren, ehrt sie aber als im Dienst für Deutschland Gefallene. Man spricht vom Krieg für Öl, von Kriegsgewinn, mystifiziert aber militärische Interventionen als Hilfe für die jeweilige Bevölkerung.
Kriege sind spezifisch für menschliche Gesellschaften. Alle bekannten Hochkulturen haben Kriege geführt, während wir in der Tierwelt Ansätze von Kriegen oder Kriegen vergleichbare Kampfformen höchstens bei Schimpansen oder Tieren finden, die in Staaten leben wie die Ameisen. Kriege entstehen, wie es in der Präambel der UNESCO-Satzung heißt, „im Geist der Menschen“. Daher müssen „auch die Bollwerke des Friedens im Geist der Menschen errichtet werden.“ Leider lassen sich Kriege nicht durch moralische Appelle oder guten Willen beseitigen, wie die militärischen Auseinandersetzungen seit 1945 zeigen. Denn die von Menschen in Jahrtausenden geschaffenen ökonomischen Systeme, politischen Institutionen, kulturellen Traditionen und sozialen Strukturen, die ineinandergreifen und sich selbst reproduzieren, machen den Verzicht auf Kriege so schwierig. Immer noch gehen die meisten Staaten davon aus, dass das Militär einem Land Schutz bietet, der durch Militärbündnisse erhöht werden kann. Im Unterschied zu Militärbündnissen setzen kollektive Sicherheitssysteme wie die UNO oder die OSZE nicht primär auf militärische Stärke. Sie gehen von einem Sicherheitsdenken aus, das auf der Einsicht beruht, dass wir in einem Beziehungsgeflecht leben und alle voneinander abhängig sind, auch die Starken von den Schwachen.
Das Ausspielen der wirtschaftlichen und militärischen Stärke westlicher Gesellschaften brachte Einigen ökonomische Gewinne. Gleichzeitig zeigen aber der mit dem Kampf gegen den Terror begründete Abbau demokratischer Rechte, die Flüchtlingsproblematik und der wachsende Wider-stand gegen Waffenexporte und Bundeswehreinsätze, dass eine auf militärischer Stärke beruhende Politik nicht nur die schwachen Länder ins Elend stürzt, sondern auch in den starken Staaten poli-tische und soziale Probleme erzeugt.
Neben ökonomischen Interessen, politischen Strukturen und kulturellen Traditionen spielen auch psychische Faktoren wie Fehleinschätzungen, Feindbilder, Täuschungen, Gruppendruck, Machtstre-ben, Opferbereitschaft, Identitätsverlust und Angst eine Rolle. Kriege entstehen in bestimmten Situationen und sind in erster Linie das Ergebnis bewusster Entscheidungen, nicht aggressiver Impulse. So können angeborene Dispositionen wie Tötungshemmung oder Todesangst die Bereitschaft, Kriege zu führen, hemmen, während moralische Überzeugungen wie die Lehre vom gerech-ten Krieg diese fördern. Kriege sind Bestandteil unserer zivilisatorischen Entwicklung und prägen unser Bewusstsein, indem wir den Schutz durch eine Armee überschätzen und die Bedrohung durch deren Waffen unterschätzen.
Seit rund 30 Jahren befasse ich mich als Psychologin mit der Frage, warum es so schwierig ist, Kriege abzuschaffen, obgleich sie keine Naturkatastrophen sondern gesellschaftliche Prozesse sind, die von Menschen entwickelt und durchgeführt werden. Der Dialog zwischen der Großmutter, einer Pazifistin, und ihrer achtzehnjährigen Enkelin, deren Freund als Freiwilliger einen Auslandseinsatz absolviert, beleuchtet Probleme wie Kriegsursachen, die Funktion militärischer Interventionen, Sicherheitsdenken, Massentötungen und psychische Auswirkungen von Kriegseinsätzen auf Soldaten.
Den komplexen gesellschaftlichen Prozess „Krieg“ in einem Gespräch darzustellen, war schwie-riger als ich erwartet hatte. Ohne die Vielen, die mich immer wieder ermunterten, weiter zu machen, wertvolle Hinweise gaben, das Manuskript redigierten und Korrektur lasen, hätte ich das Vorhaben nicht durchführen können. Danken möchte ich besonders Annemarie Cordes, Marianne Gutmann, Dieter Lenz, Ursula Müller-Wißler, Ursula Schröder, Annemarie und Peter Schürch, Edgar Weick sowie meinen Kindern Claudia und Urs. Ich hoffe, dass der Text dazu beiträgt, die Ursachen von Kriegen zu entmystifizieren und das Problem von Krieg und Frieden unter einem neuen Blickwinkel zu sehen. Denn die Forderung Gorbatschows nach einem Neuen Denken ist nach wie vor aktuell.
„Schmeckt er nicht?“
„Doch, Oma, ich habe einfach keinen Hunger.“ Die junge Frau stochert in einem Stück Schokoladentorte herum.
„Hast du Liebeskummer?“ Besorgt mustert die alte Dame ihre Enkelin.
Die junge Frau quetscht ein lang gezogenes „Nein“ durch die Lippen.
„Was ist los? Oder willst du nicht mit mir darüber reden?“
„Eigentlich nicht, du hast Florian von Anfang an nicht gemocht.“
„So kann man das nicht sagen. Er sieht gut aus und kann sehr charmant sein. Natürlich bin ich nicht begeistert, dass du dich ausgerechnet in einen Bundeswehrsoldaten verliebt hast.“
„Er ist Sportsoldat. Florian ist Leistungssportler. Was ist so schlimm daran, dass die Bundeswehr ihn gefördert hat? Seine Eltern hätten das nicht gekonnt.“
Die Großmutter schweigt, aber diese Erklärung stellt sie nicht zufrieden. Meike spürt es und sagt: „Nun gut. Du erfährst es ja doch. Florian hat sich freiwillig für einen Auslandseinsatz gemeldet.“
„Das gibt gutes Geld.“
„Oma, du bist gemein.“
Sie beginnt zu weinen. Die Großmutter steht auf und legt eine Hand auf ihre Schulter.
„Tut mir leid, ich wollte ihm nichts unterstellen.“
„Er will seine Kameraden nicht im Stich lassen“, schluchzt die Enkelin. „Ich habe Angst, dass ihm was passiert.“
„Die Militärstützpunkte sind stark gesichert und die Bundeswehrfahrzeuge gut gepanzert. Nur wenige Soldaten haben Feindkontakt“, versucht die Großmutter zu trösten. Und, indem sie sich setzt, fügt sie leise, mehr für sich hinzu: „Sie schreiben Berichte, putzen Waffen, spielen Karten und langweilen sich.“
„Florian meint auch, ein Auslandseinsatz sei weniger gefährlich als deutsche Autobahnen.“
Meike trocknet sich die Tränen und beginnt zu essen.
„Jedenfalls kamen in den bisherigen Kriegseinsätzen kaum Bundeswehrsoldaten ums Leben. Dafür umso mehr Zivilisten.“
„Es sind keine Kriegseinsätze, sondern Stabilisierungseinsätze. Sie dienen der Bekämpfung von Aufständischen, unterstützen Demokratiebewegungen und schützen die Bevölkerung vor Islamisten.“
„Wie in Afghanistan?“
„Die Bundeswehr ist nach Afghanistan gegangen, um Aufbauarbeit zu leisten“, beharrt Meike. „Dass die Taliban daraus einen Krieg gemacht haben, ist nicht ihre Schuld.“
„Entschuldige, Liebes, da bin ich ganz anderer Meinung. Ein Militäreinsatz ist kein Entwicklungshilfeprojekt. Mit Bezeichnungen wie Friedensmission und Durchsetzung der Men-schenrechte sollte die Bevölkerung positiv auf den Afghanistaneinsatz eingestimmt werden. Solche Begriffe erzeugen in uns ein Bild von Versöhnung und Helfen. Dass die Bundeswehr nur Brunnen und Brücken baut, war von Anfang nichts anderes als eine geschickte Propagandakampagne.“
„Die längst korrigiert wurde.“
„Der erste Eindruck ist der entscheidende. Haben sich bestimmte Vorstellungen erst einmal in unseren Köpfen festgesetzt, lassen sie sich nur schwer korrigieren. Längst sehen wir aus Kabul keine Bilder tanzender Jugendlicher und unverschleierter Schülerinnen mehr, sondern Aufnahmen von Häuserruinen und Soldaten in Kampfanzügen. Doch wenn von der Bundeswehrmission in Afghani-stan die Rede ist, denken die Meisten immer noch an Aufbau und nicht an Zerstörung.“
„Manchmal muss man erst zerstören, bevor man aufbauen kann.“
„Den gordischen Knoten zerschlagen wie Alexander der Große?“
„Was hat Alexander der Große mit der Bundeswehr zu tun?“
Die Großmutter hebt die Schultern, denkt einen Moment nach und sagt dann: „Eigentlich eine ganze Menge. Beiden fehlt die Geduld und die Fähigkeit, den Knoten aufzulösen.“
„Was ist daran schlecht?“
„Zerschlägt man den Knoten, ist das Seil kaputt. Nicht zufällig zerfiel das Reich Alexander des Großen ebenso schnell wie er es erobert hatte.“
„Aber er war ein großer Feldherr und hat dafür gesorgt, dass die griechische Kultur sich bis nach Indien ausbreiten konnte.“
„Das hätte man auch den Kaufleuten überlassen können. Übrigens, was ist groß daran, Leute dazu zu bringen, sich gegenseitig umzubringen?“
„Ach Oma, man kann Kriege nicht abschaffen. Bei Gefahr gibt es nun mal nur zwei Mög-lichkeiten, die Flucht oder der Kampf. Du unterschätzt die menschliche Aggression.“
„Das ist eine der vielen Legenden. Leider bezeichnen wir Kriege als Aggressionen, also mit einem Begriff aus der Biologie. Dies verschleiert die Tatsache, dass Kriege gesellschaftliche Prozesse sind. Aggression ist eine biologische Anlage, die alle höheren Lebewesen besitzen. Aggressiv zu reagieren ist eine Eigenschaft, ähnlich wie die Fähigkeit, Befehle zu befolgen, Strategien zu entwickeln oder Geräte zu bedienen, die uns neben vielen anderen Fähigkeiten in die Lage versetzt, Kriege zu führen. Aber ebenso wenig wie die Fähigkeit, Werkzeuge zu entwickeln und zu bedienen, sind Aggressionen die Ursache von Kriegen.1 Dies zeigt schon die Tatsache, dass Tiere keine Kriege führen.“
„Aber“, fällt Meike ihr ins Wort, „was ist mit den Schimpansen oder Ameisen?“
„Gut, es gibt immer Ausnahmen. Wobei gerade diese mit uns Menschen am meisten Ähnlichkeit haben. Schimpansen sind hoch intelligent und Ameisen leben in Staaten. Entscheidend ist doch: Aggression ist eine Reaktion. Sie wird nicht wie zum Beispiel der Hunger durch einen inneren Mangelzustand sondern durch eine äußere Situation ausgelöst. Hunger treibt mich an, etwas zu Essen zu finden. Wütend werde ich erst, wenn ich entdecke, dass nichts zu Essen im Haus ist und die Geschäfte schon geschlossen haben.“
„Hm.“ Meike stutzt. Nach kurzem Nachdenken meint sie: „Stimmt, aggressiv werde ich erst, wenn mir etwas misslingt. Ich fühle mich dann so hilflos.“
„Gewalt ist letztlich immer ein Zeichen von Hilflosigkeit. Zerstören ist einfacher als aufbauen. Vielleicht ist das der Grund, warum es so schwierig ist, Kriege abzuschaffen“, überlegt die Großmutter. „In kritischen Situationen neigen wir zum Zuschlagen. Das scheint leider auch für Politiker und Staaten zu gelten. Obgleich natürlich ein Konflikt zwischen Nationen oder Ethnien etwas anderes ist als ein Streit in der Buddelkiste.“
„Warum? Egal, ob sich zwei Brüder um ein Feuerwehrauto streiten oder der Irak Kuwait überfällt, in beiden Fällen wird Gewalt angewandt und in beiden Fällen geht es darum, wer der Stärkere ist und sich durchsetzen kann.“
„Das ist zu simpel“, entgegnet die Großmutter. „Sicher gibt es zwischen einem Geschwisterstreit und einem Krieg Ähnlichkeiten. Die Übergänge sind fließend. Ein Bandenkrieg enthält mehr Elemente eines Bürgerkrieges oder eines Konfliktes zwischen Staaten als eine Kneipenschlägerei. Doch Krieg ist ein viel komplexerer Prozess als ein Streit zwischen Individuen. Wir können ihn nicht durch das verstehen, was wir unmittelbar sehen oder erleben. Zeitungsartikel und Erfahrungsberichte sind wie Teile eines Puzzles. Solange wir sie nicht zusammengesetzt haben, kennen wir das Bild nicht.“
„Unser Physiklehrer sagt immer, einen Ball, der am Boden liegt, können wir ohne Hilfsmittel beschreiben, nicht aber ein unförmiges Gebilde, das sich im Weltall bewegt. Dafür benötigen wir wissenschaftliche Analysen.“
„In der Physik hat man das längst begriffen. Nur alles, was den Menschen betrifft, versuchen wir aus unserer unmittelbaren Anschauung zu erklären. Aber die Welt richtet sich nun mal nicht nach der Begrenztheit unserer Wahrnehmung.“
„Trotzdem“, insistiert Meike. „Aggression ist Aggression, ob sich nun zwei Jungen prügeln oder Soldaten gegeneinander kämpfen.“
„Vieles, was auf den ersten Blick gleich erscheint, entpuppt sich als verschieden, wenn man es genauer untersucht. Prügeln sich zwei Jungen auf dem Schulhof, erfahren sie ihre eigenen körperlichen Stärken und Verletzlichkeiten, aber auch die ihres Gegners. Im Krieg dagegen kämpfen Soldaten mit Waffen, die einen direkten Körperkontakt mit dem Gegner verhindern.“
Die alte Dame geht zum Schreibtisch und zieht aus einem Stapel Hefte eine Mappe heraus. Sie gibt die darin enthaltene DVD ihrer Enkelin.
„Hier auf dem Video ist ein Interview mit einem kroatischen Offizier. Er hat als Kommandant im Jugoslawienkrieg viele Menschen getötet. Er meinte, er schieße nicht auf einen Mann, weil er ihn hasse – es sei vielmehr wie eine Puppe, auf die man in der Kaserne schieße. Er wolle nicht wissen, wer er sei. Wenn ein Soldat daran denke, wenn er fühle, dass er jemand getötet habe, der vielleicht Frau und Kinder hat, dann drehe er durch, könne nicht mehr schlafen, sei übermüdet und mache Fehler.“2
„Sicher, im Kampf muss ein Soldat vieles ausblenden. Immerhin setzt er sein Leben ein. Deshalb sind Soldaten auch keine Mörder.“
„Nur, wenn man Kriege für legitim hält.“
„Wären Kriege grundsätzlich ein Verbrechen, wie du immer behauptest, warum haben dann alle Länder, selbst die neutrale Schweiz, eine Armee? Nein Oma, wir brauchen die Bundeswehr.“
„Wozu?“
„Zur Verteidigung.”
„Gegen wen? Gegen die Russen, die Chinesen? Kampfjets, Panzer und Raketen sind Angriffswaffen. Ich kenne keine Armee, die so ausgerüstet ist, dass sie nur der Verteidigung dient.“
„Aber wir brauchen Waffen zur Abschreckung“, beharrt Meike.
„Die einzige Waffe, die der Abschreckung dient, ist die Atombombe. Seit die US amerikanische Regierung 1945 den Befehl zum Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki gegeben hat, hat sich keine Regierung mehr getraut, atomare Waffen einzusetzen. Nicht zuletzt hat die atomare Abschreckung dazu beigetragen, dass der Kalte Krieg kalt geblieben ist.“
„Das ist nicht dein Ernst.“ Irritiert blickt sie ihre Großmutter an.
„Warum nicht? Mit Atombomben lassen sich keine Kriege führen. Nicht zufällig lehnen viele Soldaten bis hin zu Generälen Atomwaffen als schmutzige Waffen ab. Ähnlich wie die biologischen und chemischen Waffen hätte man auch die Atomwaffen nach internationalem Recht schon längst verbieten können. Doch bisher haben dies die Atommächte verhindert.“3
„Omi, Fakt ist doch, dass die Japaner durch die Atombombe 1945 zur Kapitulation gezwungen wurden. Ohne sie hätte der Krieg im Pazifik noch lange gedauert. Der Atombombenabwurf hat deshalb tausendenamerikanischen und japanischen Soldaten das Leben gerettet."
„Und hunderttausend Zivilisten das Leben gekostet. Der Krieg mit Japan hätte auch ohne Atombomben beendet werden können, wenn die USA bereit gewesen wären, auf ihre Forderung nach einer totalen Kapitulation Japans zu verzichten.“4
Eine Weile schweigen die beiden Frauen. Mittlerweile ist es dunkel geworden. Die Großmutter stellt einen Kerzenleuchter auf den Tisch.
„Aber eins bleibt wahr: Ein Staat ohne Armee wird nicht ernst genommen“, sagt Meike, während sie die Kerzen anzündet.
„Nach dem Motto Streitkräfte brauchen keine Begründung, ein souveräner Staat hat eine Armee oder er ist keiner?“, entgegnet die Großmutter sarkastisch, meint aber nach einer Weile:
„Im Grunde muss ich dir Recht geben. Die über zehntausendjährige Zivilisationsgeschichte ist ohne Kriege kaum denkbar. Alle Hochkulturen haben Kriege geführt. Weder Ägypter noch Römer hätten ihre Pyramiden und Tempel ohne die in Kriegen erbeuteten Sklaven bauen können.“
„Also ist Krieg doch der Vater aller Dinge, auch wenn es dir nicht passt.“5
„Die Frage ist eher, brauchen wir Pyramiden und Tempel. Zudem hat es immer Alternativen gegeben: Land zum Beispiel wurde durch Rodungen oder eine geschickte Heiratspolitik gewonnen. Wir sehen häufig nur die Kriege, die geführt wurden, und vergessen die unzähligen Lösungen, die Staaten gefunden haben, um Konflikte ohne Militär beizulegen.“
„Nicht immer lassen sich Konflikte ohne Waffen lösen.“
„Unsere Interventionen und Waffenlieferungen verlängern die Kriege nur.“ Die Großmutter seufzt. „Scheinbar sind wir auch im 21. Jahrhundert nicht in der Lage, den zivilisatorischen Teufelskreis zu durchbrechen.“
„Welcher Teufelskreis?“
„Der Unterhalt von Armeen setzt einen gewissen personellen und materiellen Überfluss voraus. Um diesen Überfluss aufrecht zu erhalten, benötigen die meisten Gesellschaften mehr Ressourcen als sie mit eigenen Kräften produzieren können. Im Frieden aber trägt das Militär nichts zum gesellschaftlichen Wohlstand bei. Soldaten bebauen keine Felder und mit Panzern kann man keine Güter produzieren. Im Krieg aber sind Armeen in der Lage, sich fremde Güter gewaltsam anzueignen. Eine Gesellschaft muss daher von Zeit zu Zeit Kriege führen, damit sich der Unterhalt einer Armee lohnt. Mit anderen Worten, man braucht Armeen, um Kriege zu führen, und man muss Kriege führen, um Armeen unterhalten zu können. Das klingt zynisch, ist aber leider so.“
„Nein! Nein! Das Militär hat eine Schutzaufgabe“, wehrt sich Meike. „Ohne die NATO hätten wir uns nicht gegen Angriffe aus dem Osten wehren können.“
„Welche Angriffe? Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Sowjetunion ausgeblutet. In den 1950er Jahren hätte sie unmöglich Eroberungskriege führen können. Im Gegenteil. Stalin hat 1952 in der sogenannten Stalin-Note den anderen Alliierten vorgeschlagen, mit Deutschland über einen Friedensvertrag zu verhandeln. Doch die Alliierten lehnten ab.“ 6
„Warum?“
„Deutschland sollte sich keinem Militärbündnis anschließen. Vor allem Adenauer, aber auch die USA wollten die Westbindung. Deutschland sollte nicht neutral oder blockfrei werden. Somit wurde die Chance einer Wiedervereinigung verpasst zugunsten der NATO-Mitgliedschaft Westdeutschlands.“
„Willst du damit sagen, eine Wiedervereinigung wäre schon in den 1950er Jahren möglich gewesen?“
„Ja.“
„Das glaube ich nicht, das wäre ja absurd.“
„Politik ist selten rational.7 Der eine hat Angst, der andere könnte angreifen, der andere hat Angst, der eine könnte angreifen, und alle machen alles, was sie machen aus Angst davor, jemand könnte angreifen. Ja, das ist absurd, aber so denken Menschen, die zwischenmenschlichen Bindungen nicht trauen und im Anderen immer nur den Feind sehen.“
„Aber wir können einen militärischen Angriff nicht immer ausschließen. Ein Land ohne Armee ist doch den Angreifern schutzlos ausgeliefert!“
„Wenn ein Land eine kluge Außenpolitik betreibt, indem es auf der einen Seite seine Souveränität behauptet, auf der anderen Seite die Souveränität aller anderen Staaten respektiert, also keine expansive Politik betreibt und für kein anderes Land eine Bedrohung darstellt, ist die Wahrscheinlichkeit, dass es in einen Krieg hineingezogen wird geringer als bei einem Staat, der Mitglied eines Militärbündnisses ist.“
„Mag sein, nur wir brauchen die Bundeswehr und NATO um Kriege zu beenden.“
„So wie man Feuer nicht mit Feuer löschen kann, so kann man Krieg nicht mit Krieg bekämpfen. Gewalt erzeugt Gegengewalt.“
„Das stimmt nicht. Es gibt Fälle, wo die Feuerwehr das Feuer mit Feuer bekämpft.“
„Das sind seltene Ausnahmen. Es ist schon traurig, wie wenig Protest es heute gegen Rüstung und Krieg gibt.“
„Die Mehrheit der Bevölkerung lehnt Kriege nach wie vor ab.“
„Meinungen können sich rasch ändern. Ich erinnere mich, wie 1991 Schülerinnen und Studenten auf die Straße gingen, um gegen den Krieg zu protestieren. Überall wurde diskutiert. Im Institut haben wir uns in der Mittagspause versammelt. Drucker und Direktoren, Sekretärinnen und Wissenschaftlerinnen, alle waren wir empört, dass amerikanische Soldaten von deutschen Flughäfen aus in den Krieg gegen den Irak flogen.8 Acht Jahre später, als die ersten Bomben auf Belgrad fielen, blieben die Straßen leer. Die Menschen waren schockiert, blieben aber stumm. Wir waren dabei, uns an den Krieg zu gewöhnen.“
„Du siehst wieder zu schwarz. Krieg ist nur das allerletzte Mittel, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind.“
„Kriege haben viele Funktionen. Nicht selten dienen Kriege dazu, die Einheit im Innern zu festigen. Der Staat ist etwas Abstraktes, der Zusammenhalt einer Gemeinschaft benötigt auch emotionale Bindungen. Diese können nicht allein durch Gesetze oder durch eine Verfassung hergestellt werden. Hierfür braucht es Personen, Rituale, nationale Symbole und Institutionen, mit denen man sich identifizieren kann.“
„Das haben wir doch“, triumphiert Meike. „Entwickelte Gesellschaften benötigen für ihren Zusammenhalt kein Militär, sie haben eine gemeinsame Kultur.“
„Wenn aber das Militär Bestandteil der Kultur ist? 9 Bei der Bildung der Nationalstaaten im neunzehnten Jahrhundert spielte das Militär eine große Rolle. Es galt, eine Gemeinschaft über alle religiösen, ethnischen und lokalen Unterschiede hinweg zu schaffen. Neben dem allgemeinbildenden Schulwesen war die Einführung der Wehrpflicht ein Mittel, um die jungen Männer aus den unterschiedlichen Regionen und sozialen Schichten zu Staatsbürgern zu machen.“
„Oma, wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert. Heute ist das Militär nicht mehr die Schule der Nation.“
„Unterschätze nicht die Rolle, die die NATO bei der Westanbindung der Staaten der ehemaligen Sowjetunion spielt.“
„Mag sein. Aber für den Zusammenhalt der Deutschen ist die Bundeswehr bedeutungslos.“
„Ja, Meike, das ist wahr. Nach dem Zweiten Weltkrieg stand das Militär nicht mehr für nationale Stärke. Die europäischen Bevölkerungen hatten am eigenen Leib erleben müssen, dass Waffen nicht Schutz, sondern Zerstörung bedeuten. Bis heute tragen Autoindus-trie, Sozialversicherung und die Gesundheitsversorgung mehr zur Identifikation der Bundesbürger und Bürger-innen mit ihrem Staat bei als die Bundeswehr.“
„Und wir wissen heute, dass sich internationale Konflikte nicht allein militärisch lösen lassen.“
„Wenn es so wäre, warum versucht man es dann immer wieder? Schon 1910 schrieb William James, ein amerikanischer Philosoph und Psychologe: ‚Modern war is so expensive that wie feel trade to be a better avenue to plunder’.“ 10
„Weil moderne Kriege so teuer sind, sei Handel ein besserer Weg zu plündern? Eine sehr pragmatische Einschätzung.“ Meike schüttelt den Kopf.
„Aber wahr. Kriege sind nicht nur eine teure, auch eine verlustreiche und gefährliche Strategie. Ein fairer Handel mit Rohstoffen wäre letztlich billiger. Sparte nicht nur die Kosten für Einsätze, auch für die Unterbringung von Flüchtlingen. Denn Kriege produzieren nicht nur Kriegs- sondern auch sogenannte Wirtschafts-flüchtlinge. Im Krieg können sich zwar Warlords bereichern, aber kein Land kann sich ökonomisch entwickeln, wenn es vermint ist und ständig Bomben fallen.“
„Aber Schuld sind doch die korrupten Regimes in diesen Staaten.“
„Die sich ohne unsere Unterstützung nie lange halten könnten. Entwicklungshilfe, Grenzsicherungen, militärische Interventionen und die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen kosten uns weit mehr als der Verzicht auf billige Rohstoffe und günstige Absatzmärkte. Wir müssten allerdings den schwächeren Staaten erlauben, wieder Zölle zu erheben, um die eigene Produktion zu schützen.“ Die Großmutter schüttelt den Kopf. „Warum nur ist unser Zivilisationsprozess ein ständiges Fehler machen und Fehler korrigieren? Warum nutzen wir unsern Verstand in der Politik so sel-ten?“
„Na Oma, schließlich hatten wir die Aufklärung.“
„Man kann Kriege natürlich auch als rationale Strategie betrachten. Die meisten Gesellschaften schwanken zwischen Handel, der Frieden benötigt, und Krieg, der dem Handel entgegensteht. Misst man den Erfolg einer Art an ihrer Expansion, so war unser Modell der Zivilisation mit den vielen Kriegen bisher durchaus erfolgreich. Trotz 200 Millionen Kriegstoten hat sich die Weltbevölkerung im zwanzigsten Jahrhundert ver-doppelt.“
„Das ist zynisch!“
„Es ist wie es ist. Das bedeutet nicht, dass ich deshalb Kriege befürworte. Heute können Industriegesellschaften mit ihren bürgerlichen Rechten, ihrem Wohlstand und der relativ hohen sozialen Sicherheit in einem Krieg nur verlieren. Was in der Antike ein erfolgreiches Überle-benskonzept für die jeweilige Oberschicht gewesen sein mag, kann heute den Untergang einer ganzen Gesellschaft bedeuten. Nicht selten gefährdet uns gerade das, von dem wir glauben, dass es uns schützt."
Draußen beginnen Glocken zu läuten. Meike springt auf und blickt auf die Uhr.
„Oh, schon sechs. Ich muss los, Florian hasst Unpünktlichkeit.“
Sie umarmt ihre Großmutter und eilt hinaus.
Hilfe oder Invasion?
Die alte Dame sitzt vor einem Glas Prosecco. Ihre Enkelin stürmt ins Restaurant und gibt ihr einen Kuss.
„Entschuldige, ich bin zu spät“, meint sie atemlos. „Florian und ich haben uns eine Hallberg-Rassy angeschaut.“
„Ihr wollt eine Segelyacht kaufen?“, staunt ihre Großmutter.
„Es ist ein absolutes Schnäppchen.“
„Auch als Schnäppchen dürfte eine solche Yacht einiges kosten.“
„Sein Patenonkel, der Offizier bei der Bundeswehr ist, schießt das Geld vor. Florian kann es mit dem Geld aus dem Auslandseinsatz zurückzahlen.“
Die Großmutter zieht die Augenbrauen hoch und schluckt die Bemerkung hinunter, dass das Geld bei der Meldung als Freiwilliger offenbar doch eine Rolle gespielt habe. Es soll ein harmonischer Abend werden.
Meike mustert den getäfelten Raum.
„Hier ist es aber edel.“
„Man macht nur einmal Abitur. Erzähl, wie ist es gelaufen.“
„Ganz gut. In PoWi habe ich sogar eine Eins.“
Die Großmutter blickt sie fragend an.
„Also Politik und Wirtschaft“, erläutert die Enkelin. „Mein Thema war ‚Warum sind militärische Interventionen notwendig?’.“
„Na sag mal, eine solche Formulierung suggeriert ja, dass sie notwendig sind.“
„Sind sie doch auch.“
„Und was ist mit dem Desaster des Afghanistaneinsatzes?“
„Das war ein Bündnisfall. Als NATO-Mitglied waren wir verpflichtet, die USA zu unterstützen.“11
„Mitgefangen, mitgehangen – das Problem von Militärbündnissen. Stell dir vor, eine nord-koreanische Rakete trifft absichtlich oder aus Versehen einen Flugzeugträger der US-Marine im Pazifik. Die USA ruft den Bündnisfall aus, China, als Schutzmacht von Nordkorea, muss eingreifen – nun geht die Kaskade der gegenseitigen militärischen Unterstützung los und plötzlich befindet sich Deutschland im Krieg mit China.“
„Ach Oma, deine Fantasie“, ruft die Enkelin.
„Jedenfalls hätten wir ohne Bündnisverpflichtung diesen sinnlosen Krieg am Hindukusch nicht führen müssen.“
„Es war kein sinnloser Krieg. Die afghanische Bevölkerung brauchte unsere Hilfe gegen das Taliban- Regime. Eine demokratische Regierung konnte nur mit ausländischer Hilfe eingesetzt werden.“
„Schon 1978 hat der Revolutionsrat, der nach einem Putsch in Afghanistan eine sozialistische Regierung errichtet hatte, die Sowjets um brüderliche Hilfe im Kampf gegen die Mudschaheddins gebeten. Diese Gotteskrieger wurden in den 1980er Jahren erst von den Briten, dann von den USA zu einer modernen Kampftruppe ausgebildet.12 Das Ergebnis war ein zehnjähriger Krieg, gefolgt von einem siebenjährigen Bürgerkrieg, der mit der Herrschaft der Taliban endete.“
„Aber wir können das Land doch nicht den Taliban überlassen.“
„Was nützt einer afghanischen Bäuerin die Gleichberechtigung, wenn ihr Haus von einer US-amerikanischen Rakete getroffen wird, was ihrem Mann Freiheit und Demokratie, wenn er bei der Feldarbeit von einer Mine zerrissen wird? Sind wir in der Lage, Entwicklungen in anderen Ländern zu bestimmen? Sind wir überhaupt dazu berechtigt?“
„Immerhin gibt es heute in Afghanistan Mädchenschulen.“
„Die gab es schon unter der sozialistischen Regierung in den 1970er Jahren.“
„Aber Diktaturen, die das Völkerrecht missachten, muss man doch bekämpfen.“
„Auch westliche Demokratien wie die USA missachten das Völkerrecht, wenn sie vermutliche Feinde in anderen Staaten mit Drohnen liquidieren.“
„Entscheidend ist doch das Ergebnis“, beharrt Meike.
„Nach dem Prinzip ‚Wo gehobelt wird, fallen Späne’ oder ‚Der Zweck heiligt die Mittel’ darf man Wohnhäuser und Zivilisten bombardieren?“
„Die NATO bombardiert keine zivilen Objekte.“
„Warum wurden dann 1999 die Chemieanlagen in Novi Sad, die Sendeanstalten und die chinesische Botschaft in Belgrad bombardiert?“
Meike sucht nach einer Antwort, sie will sich nicht so schnell geschlagen geben und meint: „Mag sein, dass im Kosovokrieg Fehler gemacht wurden. Aber selbst die UNO geht davon aus, dass wir eine Schutzverantwortung haben und man eine Bevölkerung vor Verbrechen gegen die Menschlichkeit schützen muss, wenn ein Staat dazu nicht mehr in der Lage ist.“
„Du meinst das Konzept ‚Responsibility to Pro-tect’?“ 13
Meike nickt.
„Ich gebe zu“, lenkt die Großmutter ein, „die Idee, die dahinter steht, hat etwas Bestechendes. Aber wie so oft schaden gute Absichten mehr als sie nützen. Weißt du, was das Gegenteil von Gut ist?“
„Nein“
„Gut gemeint.“
Die Frauen lachen, dann insistiert Meike weiter:
„Aber manchmal muss man Menschenrechte mit militärischen Mitteln durchsetzen.“
„Da könnte man ebenso gut versuchen, Feuer mit Benzin zu löschen“, entgegnet ihre Großmutter heftig. „Krieg und Menschenrechte sind unvereinbar. Kein militärischer Einsatz kann das Recht auf körperliche Unversehrtheit garantieren. Nicht zufällig erlaubt Artikel 15 der EU-Menschenrechtskonvention, im Kriegsfall Menschenrechte außer Kraft zu setzten.14 Zudem kollidiert das Prinzip der Responsibility to Protect mit dem Prinzip der staatlichen Souveränität.“
„Aber Menschenrechte sind wichtiger als staatliche Souveränität.“
„Nicht wenn man den Frieden erhalten will. Die Respektierung der staatlicher Souveränität ist ein Grundprinzip der UNO. Besonders zwischen labilen und verfeindeten Staaten sind Grenzen notwendig, damit Konflikte nicht in Kriege ausarten. Nicht nur in der Erziehung ist es wichtig, Grenzen zu setzen.“
„Trotzdem finde ich es richtig, wenn die internationale Gemeinschaft eine Schutzverantwortung übernimmt.“
„Das Problem ist zum einen, wer ist die internationale Gemeinschaft? Ist es der Westen, sind es alle Industrie- und Schwellenländer oder ist es die UNO? Zum anderen öffnet so ein Konzept Tür und Tor für Missbrauch. Wie leicht kann man eine Invasion damit begründen ein Volk von einem Diktator befreien zu wollen.15 Nicht zufällig wurde dieses Konzept während des Kosovokrieges entwickelt, um den völkerrechtswidrigen Krieg zu rechtfertigen.“
„Oma, der Kosovokrieg war notwendig, um einen Völkermord zu verhindern“, protestiert Meike.
„1998 herrschte im Kosovo Bürgerkrieg. Die systematische Vertreibung der Kosovo-Albaner durch die serbische Armee begann erst nach dem Bombardement durch die NATO. Den Hufeisenplan, der als Beleg für den geplanten Völkermord galt, hat es ebenso wenig gegeben wie die Atomwaffen im Irak.“
„Auch eine Regierung kann sich irren.“
„Immerhin, die Regierung der USA hat dies nachträglich eingestanden, während sich die Regierung der Bundesrepublik bis heute über den Hufeisenplan ausschweigt.“16
„Im Nachhinein ist man immer klüger. 1999 sollte ein zweites Auschwitz verhindert werden. Ohne das Eingreifen der Amerikaner wären die KZs auch nicht befreit worden“, wendet Meike ein.
„Erstens die Hauptlast an der Befreiung Deutschlands vom Faschismus trug die Sowjetunion. Den USA ging es vor allem um ihre Interessen im Pazifik. Ihr Hauptgegner war Japan. Die Alliierten landeten erst Anfang Juni 1944 in der Normandie, nachdem der Krieg an der Ostfront entschieden und etliche deutsche Militärs zu einem Waffenstillstand bereit waren. Zweitens vergisst man häufig, dass die ersten Massenerschießungen von Juden im Herbst 1941 an der Ostfront begannen und die Wannseekonferenz erst im Januar 1942 stattfand. Der Holocaust begann also mitten im Krieg und endete erst mit der Kapitulation Deutschlands. Ein Waffenstillstand im Sommer 1944 hätte Millionen Juden das Leben gerettet. Denn während des ganzen Krieges wurde keine einzige militärische Operation durchgeführt, um den Völkermord zu stoppen. Weder die Zufahrtswege zu den KZs noch deren Krematorien wurden bombardiert. Wenn Juden vor den Gaskammern gerettet wurden, dann durch Aktionen der Zivilbevölkerung.“17
Der Kellner bringt den Hauptgang. Die Frauen essen schweigend. Nachdem der Kellner die Teller abgeräumt und Wein nachgeschenkt hat, nimmt Meike das Gespräch wieder auf:
„Zottel, mein Politiklehrer, meinte, wir hätten keine Wahl gehabt, nachdem die Verhandlungen in Rambouillet am Widerstand von Milosevic gescheitert waren. Man sei schuldig geworden, ganz gleich, was man tat.“
„Erstens: die Verhandlungen in Rambouillet sind nicht einfach gescheitert. Man hat in einem Ultimatum von Serbien verlangt, seine Souveränität aufzugeben. Ein solches Ultimatum hätten auch alle NATO-Staaten abgelehnt. Es war nicht das erste Mal in der Geschich-, te, dass ein Krieg mit einem unannehmbaren Ultimatum provoziert wird.18 Zweitens ging es nicht um Schuld, sondern um Macht“, widerspricht die alte Dame ein wenig heftig. „Gerhard Schröder schreibt in seinen Erinnerungen, dass er sich bewusst gewesen war, dass die Zustimmung zum Kosovo-Krieg darüber entscheiden würde, ob Rot-Grün regierungsfähig sei oder auf der Regierungsbank nur eine kurze Gastrolle übernehmen würde.19 Mit dem Schuldargument schaff-te es Eppler, dass die Genossen auf dem SPD-Parteitag dem völkerrechtswidrigen Krieg zustimmten. Wer sich schuldig fühlt, hat ein schlechtes Gewissen und ist leicht manipulierbar.“
„Aber ohne Gewissen gäbe es keine Moral.“
„Mit moralischen Argumenten sind viele Kriege geführt, aber keine beendet oder verhindert worden. Nicht selten verstärkt das, womit man das Übel beseitigen will, dieses gerade. Besonders wenn Halbwissen mit im Spiel ist. Als deine Mutter ganz klein war“, begann die Großmutter zu erzählen, „waren wir in Italien in den Ferien. Am zweiten Tag bekam deine Mutter Durchfall. Wir konnten wenig Italienisch, wussten aber, dass Kohle ,Carbone‘ oder so ähnlich heißt. Mit Händen und einigen italienischen Wortfetzen schilderten wir der Apothekerin unser Problem. Sie nickte freundlich und gab uns eine Schachtel mit Tabletten für das Bambini. Doch am nächsten Morgen war der Durchfall schlimmer. Wir erhöhten die Dosis. Der Durchfall wurde stärker. Mittlerweile waren die Eigentümer der Pension, in der wir wohnten, auf uns aufmerksam geworden und wollten das Medikament sehen, das wir in der Apotheke besorgt hatten. Als sie die Packungsaufschrift lasen, lachten sie. Es war Kohle mit Rhabarber, ein Abführmittel! Hätten wir unsere Sprachkenntnisse nicht überschätzt, wäre deiner Mutter einiges erspart geblieben. Daran muss ich immer denken, wenn man versucht, mit immer mehr Soldaten einen Krieg zu beenden.“
„Schließlich haben wir vieles aus der Zeit des Kolonialismus gut zu machen.“
„Kein Mörder kann den Ermordeten wieder lebendig machen. Es ist überheblich zu glauben, wir könnten die Zerstörung so vieler Kulturen durch christliche Missionare, koloniale Armeen und kapitalistische Konzerne ungeschehen machen.“
„Aber, Oma, wir müssen doch etwas tun.“
„Manchmal ist weniger mehr. Woher wissen wir, welches der richtige Weg ist?“
„Wir haben eine Verantwortung.“
„Sicher.“ Die Stimme der Großmutter klingt bitter. „Wir sind verantwortlich für die deutsche Mine, durch die ein Kind zum Krüppel wird, für das deutsche Kleinkalibergewehr, mit dem ein Kindersoldat Frauen erschießt und für den deutschen Panzer, der Wohnhäuser zerstört.“
„Wir haben auch eine politische Verantwortung. Wir sind kein kleines Land wie die Schweiz, das sich heraushalten kann.“
„Eine neutrale Instanz kann für die Lösung von Konflikten sehr nützlich sein. Das gilt auch für die Politik. Nicht zufällig haben viele internationale Organi-sationen ihren Sitz in neutralen Ländern wie der Schweiz und Österreich.“
„Das reicht nicht aus, das Elend zu bekämpfen“, beharrt Meike.
„Unsere Interventionen beseitigen nicht das Elend, sie machen es zu einem Dauerzustand. Es ist, wie wenn man den Dorn in einer Wunde nicht herauseitern lässt, sondern täglich darin her-umstochert und die immer größer werdende Wunde neu verbindet. Dies bringt keine Heilung. Es nützt höchstens den Fabrikanten von Verbandsstoff.“
Die Enkelin lacht kurz, blickt dann aber irritiert ihre Großmutter an.
„Das ist leider kein Witz“, fährt diese fort. „Es gibt mittlerweile nicht nur einen militärisch-industriellen Komplex, sondern auch einen humanitär-industriellen Komplex. Die Zerstörungen, die unsere Waffen an-richten, schaffen Nachfrage nach unseren Hilfsgütern. Ein Teufelskreis, dank dem wir doppelt verdienen und zudem die Betroffenen beschämen.“
„Wieso beschämen, sie benötigen doch unsere Hilfe.“
„Hilfe macht abhängig. Für Erwachsene, die in Friedenszeiten für ihren Lebensunterhalt sorgen konnten, ist es beschämend, auf fremde Hilfe angewiesen zu sein. Zudem werden die Möglichkeiten von Hilfsorganisationen, etwas zum Aufbau der Länder beizutragen oder gar Frieden zu schaffen, überschätzt.“20
Das Dessert wird gebracht. Nachdem die alte Dame einige Löffel davon probiert und den Rest ihrer Enkelin zugeschoben hat, nimmt sie das Gespräch wieder auf.
„Es gibt ein chinesisches Sprichwort: Fragt einer seinen Freund: Warum bist du böse auf mich, ich habe dir doch gar nicht geholfen?“
„Aber was wäre der Mensch, wenn er nicht bereit wäre zu helfen?“
„Ohne Altruismus kann keine Gemeinschaft überleben, da gebe ich dir Recht, Meike. Aber leider werden Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe häufig missbraucht.“
„Nur wenn man sich ausnutzen lässt.“
„Schon in persönlichen Beziehungen ist es nicht immer leicht zu merken, wenn der andere die eigene Gutmütigkeit ausnutzt. Auf der politischen Ebene ist es noch viel schwerer. Wenn wir in der Zeitung lesen, wir müssen mit unseren Soldaten den Christen im Irak, der Regierung in Mali oder der afghanischen Bevölkerung helfen, gehen wir spontan davon aus, dass dies wirklich der Zweck eines Bundeswehreinsatzes ist. Selbst die meisten Politiker und Ministerinnen wissen nicht, ob und welchen wirtschaftlichen oder geostrategischen Interessen ein militärischer Einsatz letztlich dient. Wer findet sich schon in dem komplexen Geflecht von Beziehungen und Interessen in der internationalen Politik zurecht? Woher weiß eine Bundestagsabgeordnete, wem die Verlängerung des Afghanistan-Mandats oder der Einsatz in Mali in Wirklichkeit nützt, wer in Frankreich oder in Saudi-Arabien davon profitiert und welche Interessen in Brüssel oder Washington hinter einer militärischen Intervention oder Aufbaumission stehen?“
„Omi“, erwidert empört die Enkelin, „du unterstellst Regierungen grundsätzliche schlechte Absichten und alles, was die Bundeswehr tut, ist in deinen Augen böse.“
„Es geht nicht um Gut oder Böse, sondern darum, wem eine Maßnahme nützt. Was bringt es, Häuser aufzubauen, die kurz darauf in Gefechten zerstört werden? Wie sollen ausländische Soldaten Menschen ermutigen, auf Gewalt zu verzichten, wenn sie selber Waffen tragen und in gepanzerten Fahrzeugen fahren? Wie sollen zivile Strukturen entstehen, wenn fremde Soldaten den korrupten Regierungen die Aufgabe abnehmen, die Bevölkerung zu versorgen?“
„Was schlägst du also vor?“, fragt Meike, die nach dem guten Essen versöhnlich gestimmt ist.
„Es wäre schon viel geholfen, wenn Bundestagsabgeordnete zugeben würden, dass sie über-fordert, ja hilflos sind. Es ist immer schmerzhaft, einzugestehen, dass man machtlos ist. Noch verletzender ist es, einzuräumen, dass man an das Falsche geglaubt hat. Welcher Soldat ist bereit, einzugestehen, dass er bei seinem Auslandseinsatz niemandem helfen konnte. Auch die Bevölkerung lässt sich belügen. Sie will keinen Krieg und glaubt daher gern, Soldaten würden nur Brücken bauen.“
„Aber Frieden kommt nicht von allein. Wir müssen etwas dafür tun.“
„Faire Preise für Rohstoffe, Verzicht auf Waffenexporte und auf einen Freihandel, der zu Lasten der ökonomisch schwächeren Länder geht, würden uns dem Weltfrieden näher bringen als militärgestützte Friedens-missionen. Das würde allerdings das Wirtschaftswachstum gefährden.“
„Wir brauchen aber Wirtschaftswachstum.“
„Kein Baum kann in den Himmel wachsen. Wir haben in Deutschland längst den Punkt erreicht, wo Wachstum mehr schadet als nützt. Wir wünschen uns eine gerechte Welt ohne Hunger und Elend, wollen aber unseren verschwenderischen – meine Freundin sagt imperialen – Lebensstil nicht aufgeben. Bevor man seine gute Pension aufs Spiel setzt, nimmt man schon einen begrenzten Krieg außerhalb des eigenen Landes in Kauf.“
„Das ist gemein“, empört sich Meike.
„Es ist wie es ist. Schon Goethe schrieb:
Nichts Besseres weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen
Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,
Wenn hinten, weit, in der Türkei,
Die Völker auf einander schlagen ...
Dann kehrt man abends froh nach Haus,
Und segnet Fried’ und Friedenszeiten.“21
Der Kellner bringt die Rechnung. Die Großmutter legt mehrere Scheine in das Ledermäppchen. Die Enkelin schüttelt den Kopf.
„Wahnsinn, wir geben für ein Abendessen so viel Geld aus, wie viele in einem Monat nicht verdienen.“
„Und wundern uns, warum die Welt so ist, wie sie ist.“
„Aber lecker war es. Vielen Dank.“
Sicherheitsillusionen
Die Großmutter und ihre Enkelin sitzen in Florians neuem Segelboot und legen ab.
„Schade, dass Florian abgeflogen ist. Ohne ihn traue ich mich nicht unter Segel abzulegen“, sagt Meike und macht den Motor an.
„Du bist eben eine Frau. Frauen sind sich der Gefahren eher bewusst. Männer denken seltener daran, dass das Ruder brechen, ein Segel reißen oder ein Unwetter aufkommen kann. Sie vertrauen auf die Technik, die uns nur allzu häufig die Illusion verschafft, unverwundbar zu sein.“
„Immerhin sind wir dank der Technik stärker als Elefanten, schneller als Antilopen, fliegen höher als Vögel und werden älter als jede andere Art.“
„Und können innerhalb von Sekunden hunderte Artgenossen umbringen. Immerhin hat der Homo sapiens ohne Wissenschaft und Technik mehr als eine Million Jahre überlebt. Wer weiß, wie lange er mit Wissenschaft und Technik überleben wird.“
„Ach Oma, dein Pessimismus! Technik macht unser Leben sicherer.“
Die junge Frau schüttelt halb vorwurfsvoll, halb nachsichtig ihren Kopf.
„Nicht immer. Ein Schild ,Bissiger Hund‘ oder – wie in den USA – ‚Neighbours watched’ schreckt Diebe oft mehr ab als Alarmanlagen. Reden ist besser als Schießen. Auch wenn viele am liebsten die Natur durch Technik ersetzen würden.“22
Ein Ruderboot treibt auf sie zu. Im letzten Moment legt Meike das Ruder und dreht ab.
„Solche Idioten! Turteln anstatt nach vorne zu schauen“, ärgert sie sich. „Wir hätten sie rammen können, wir wären im Recht gewesen.“
„Die Strategie der Stärke? Es hätte uns den ganzen Nachmittag verdorben. Zudem hättest du wahrscheinlich einen Teil der Schuld bekommen.“
„Du meinst, man darf die Vorfahrt nicht erzwingen?“
„Genau. Das Verkehrsrecht geht ähnlich wie die UNO von den Prinzipien eines kollektiven Sicherheitssystems aus. Oberstes Gebot ist es, Schaden zu vermeiden.“
„Oma, du kannst den Straßenverkehr nicht mit der Politik vergleichen. Im Verkehr geht es um das Verhalten von Personen, in der internationalen Politik um das von Staaten. Selbst die UNO-Charta erlaubt die Anwendung von militärischer Gewalt.“
„Nur in einem Fall, wenn der Weltfrieden bedroht ist, als allerletztes Mittel. Davor fordert die Charta viele Stufen des Einsatzes nichtmilitärischer Gewalt. Ein Problem dabei ist, dass allein der Sicherheitsrat über die Maßnahmen entscheidet. In den letzten Jahren haben die Großmächte im Sicherheitsrat den Spielraum für militärische Einsätze ständig erweitert. Schon längst sind militärische Einsätze in Afghanistan, Mali oder Syrien keine Frieden erzwingenden Maßnahmen mehr, sondern einfach Kriege.“23
„Das stimmt nicht. Florian sagt, wenn sie unter einem UNO-Mandat kämpfen, müsse vor jedem Ein-satzbefehl die Verhältnismäßigkeit sorgfältiger geprüft werden als das vom Kriegsrecht verlangt wird.“
„Soldaten sind keine Völkerrechtler. Ein Kampfeinsatz ist nicht der Ort für juristische Abwägungen. Wie soll ein Offizier unter Beschuss entscheiden, ob er einen Befehl, der nach dem Kriegsvölkerrecht erlaubt ist, auch erteilen darf, wenn seine Truppe unter einem UNO-Mandat kämpft?24 Soldaten sind für den Kampf ausgebildet. Eine Bevölkerung vor Gewalt zu schützen – im Notfall auch mit Waffen – ist etwas anderes als den Gegner im Kampf zu besiegen. Deshalb bräuchte man für UNO-Einsätze nicht Soldaten, sondern speziell für friedenserzwingende Maßnahmen ausgebildete Fachkräfte.“
„Und was ist der Unterschied?“
„Soldaten sind Partei. Sie vertreten die Interessen ihres Landes. Die UNO dagegen ist eine neutrale Instanz, nach der Charta sollte es bei Einsätzen nicht um Sieg oder Niederlage, Gewinn oder Verlust, sondern ausschließlich um die Bewahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens gehen. Deshalb benötigte die UNO Kontingente von Friedensfachkräften, die nicht wie Soldaten ausgebildet sind, um gegen einen Feind zu kämpfen, sondern die in der Lage sind, zwischen die Fronten zu gehen und Konfliktparteien mit einem Mini-mum an Gewalt zu trennen. Männer und Frauen, die nicht für eine der Konfliktparteien Partei ergreifen, son-dern allparteilich sind und mit allen Seiten reden können.“
„Warum bildet man nicht entsprechende Truppen aus?“
„Das hat sicher viele Gründe. Zum einen benötigte man dafür ein Umdenken nicht nur bei Politikern und Militärs, auch in der Bevölkerung. Man müsste das Prinzip Sicherheit durch militärische Stärke ersetzen durch das Prinzip Sicherheit durch Bindung, durch Verhandeln, gegenseitiges Verstehen und Vertrauen. Sicher spielen auch machtpolitische Gründe eine Rolle. Die US-Streitkräfte sind die weltweit stärkste Armee. Solange man auf militärische Stärke setzt, behält die USA ihre Führungsrolle in der Welt. Friedensfachkräfte dagegen könnte jedes Land ausbilden. Dazu benötigt man weder eine hochentwickelte Technologie noch Billionen Dollars.“
„Aber die UNO ist doch nicht die USA.“
„Nein, aber die UNO ist auch noch weit davon entfernt, ein funktionierendes kollektives Sicherheitssystem zu sein. Sie ist nicht neutral. Schon bei ihrer Gründung in San Francisco im Oktober 1945 gab es unterschiedliche Ziele und Erwartungen. Auf der einen Seite sollte jeder Staat die gleichen Rechte besitzen – ähnlich wie in einer Demokratie jeder Bürger und jede Bürgerin. Deshalb hat jedes Land in der Generalversammlung eine Stimme, die Großmacht USA genauso wie der Zwergstaat Andorra. Auf der anderen Seite sicherten sich die Großmächte mit der Einführung des Sicherheitsrates und ihrem Vetorecht eine Führungsrolle.“
„Deshalb soll ja die UNO reformiert werden.“
„Das scheiterte bisher an den Großmächten, die ihre Vormachtstellung nicht verlieren wollen. Boutros-Ghali, der in seiner ersten Amtszeit als Generalsekretär mit Reformen begonnen hatte, wurde 1996 auf Betreiben der USA nicht wiedergewählt.“
Meike ist irritiert. Sie versucht, sich auf den Trimm des Bootes zu konzentrieren. Sie fiert das Großsegel, nimmt es dichter, fiert die Fock, fällt leicht ab und luvt wieder an. Der richtige Trimm will sich nicht einstellen. Zum Schluss schaltet sie den Autopiloten an und setzt sich neben ihre Großmutter. Diese berichtet:
„Zu Beginn der 1960er Jahre hat Charles E. Osgood, ein US-amerikanischer Sozialpsychologe, das Modell GRIT entwickelt, um die Spannungen zwischen den Großmächten USA und Sowjetunion abzubauen. Er schlug vor, durch einseitige Vorleistungen eine Atmosphäre des gegenseitigen Vertrauens herzustellen.25 Dieses Modell hat die US-amerikanische Außenpolitik beeinflusst. Auch die von Egon Bahr und Willy Brand entwickelte Ostpolitik war eine Alternative zur Blockkonfrontation und Revanchepolitik. Der erste Schritt war 1971 das Viermächteabkommen für Berlin. Es folgte 1975 die Einberufung der KSZE (Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa), die 1995 in die OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusam-menarbeit in Europa) überführt wurde. Dass der Kalte Krieg ohne militärische Gewalt beendet werden konnte, ist nicht der NATO, sondern dieser Politik zu ver-danken. Ich sage immer, ein kollektives Sicherheitssystem schützt uns besser als ein Militärbündnis.“
„Die NATO ist auch ein kollektives Sicherheitssystem.“26
„Nein, denn OSZE und NATO gehen von einem anderen Sicherheitsverständnis aus. Militärbündnisse schließt man, weil man glaubt, je größer die militärische Stärke desto höher die Sicherheit. Doch es gibt viele Beispiele, vom Peloponnesischen Krieg über die napoleonischen Kriege bis zum Vietnam- und Irakkrieg, dass der militärisch Überlegene letztlich der Verlierer ist. Ein kollektives Sicherheitssystem dagegen geht davon aus, dass alle voneinander abhängig sind, auch die Starken von den Schwachen. Es basiert auf dem Prinzip Sicherheit durch Bindung, nicht durch Stärke.“
„Was ist mit der Ukraine? In militärischen Auseinandersetzungen ist die OSZE doch ein zahnloser Tiger.“
„Gut, auch die OSZE ist nicht allmächtig. Immerhin blieb der Krieg im Donezbecken bis jetzt lokal begrenzt – nicht zuletzt dank der Präsenz der OSZE. Ich möchte nicht wissen, was passiert wäre, wenn sich die NATO eingemischt hätte – wie damals in den Jugoslawienkriegen. Ich jedenfalls bin froh, dass es in Europa die OSZE gibt.“
„Aber warum fühle ich mich von der NATO und nicht von der OSZE beschützt?“
„Es scheint unmöglich zu sein, bei militärischer Stärke nicht an Sicherheit zu denken. Es ist wie in dem Experiment, in dem die Versuchspersonen aufgefordert werden, sich bei dem Wort Elefant keinen Elefanten vorzustellen, was praktisch keiner gelingt. Es sind Schemata, die unser Denken und Wahrnehmen prägen. Sie entstehen in der frühen Kindheit. Neue Wahrnehmungsinhalte werden mit ihnen verknüpft. Informationen dagegen, die an keine schon vorhandenen Schemata anknüpfen können, dringen meist nur kurzfristig ins Bewusstsein und werden bald vergessen.“27
„So wie eine E-Mail, die in keines meiner Postfächer passt. Sie bleibt eine Weile im Eingang und wenn der Eingang voll ist, wird sie automatisch gelöscht.“
„Genau. Das könnte auch erklären“, überlegt die Großmutter, „warum nach dem Zweiten Weltkrieg alle behaupteten, von den Vernichtungslagern nichts gewusst zu haben, obgleich es in Deutschland genügend Informationen über die KZs und Hinweise auf die Judenvernichtung gab.28 Die fließbandmäßige Tötung von Menschen ist so ungeheuerlich, dass die meisten einen Widerstand gegen diese Informationen entwickelten. Sie passten in kein vorhandenes Schema und wurden bald im Gedächtnis gelöscht. Ähnlich vergessen wir das Versagen von Militärinterventionen. Es kann ja nicht sein, dass so viel Kosten, Zerstörung und menschliches Leid vergeblich gewesen sind.“
„Wenn du Recht hättest, bräuchten wir die NATO nicht mehr.“
„Stimmt, die NATO-Mitgliedschaft gefährdet uns mehr als sie uns schützt. Leider erinnert sich deine Generation kaum mehr an die Erfahrungen unserer Eltern und Großeltern im Zweiten Weltkrieg. In allen europäischen Ländern erlebte die Bevölkerung, dass das Militär sie nicht schützen konnte.“
„Die Funktion des Militärs hat sich geändert.“
„Nicht für ein jemenitisches Kind, das von einer Drohne zerfetzt wird, nicht für eine afghanische Bäuerin, die auf eine Mine tritt, und nicht für eine Familie in Mossul, deren Haus bombardiert wird. Nach wie vor töten Waffen. Ihre Funktion hat sich nicht geändert, nur der Ort, an dem sie eingesetzt werden.“
„Aber die NATO wird benötigt im Kampf gegen den Terror.“
„Der Terror lässt sich nicht militärisch bekämpfen.“
„Da magst du Recht haben“, gibt Meike zu. „Aber was ist mit den Taliban, dem IS?“
„Zugegeben, diese fundamentalistischen Regimes sind grausam. Nur wenn die Gotteskrieger an einer Stelle unserer militärischen Überlegenheit weichen müssen, ziehen sie woanders hin. Erst kämpften sie in Bosnien, dann in Afghanistan, dann im Irak, heute auf den Philippinen und wo morgen? Unsere Bomben und Drohnen zerstören zwar ihre Städte, produzieren aber gleichzeitig neue Gotteskrieger, denen dank unserer Waffenexporte die Maschinengewehre und Raketen nicht ausgehen werden.“
„Aber wir können die Bevölkerungen doch nicht dem IS überlassen.“
„Der Boden für den IS ist nicht zuletzt der Hass auf den Westen. Vielleicht sollten wir mal überlegen, woher dieser Hass kommt.“
„Aber es geht doch um die Sicherheit“, weicht Meike aus.
„Wir scheinen in unserer frühen Kindheit ein Schema ‚Stärke und Gewalt gleich Sicherheit’ entwickelt zu haben.“
„Für ein Kind bedeuten nun mal starke Eltern Sicherheit.“
„Selbst wenn es geschlagen wird?“
„Das ist ein Problem. Aber spätestens im Kindergarten erfährt es, wie wichtig ein starker Freund ist.“
„Ein starker Freund kann einem auch gefährden. Oder findest du, dass die amerikanischen Atomwaffen, die in dem Fliegerhorst Büchel lagern, uns schützen?“
„Nein, natürlich nicht.“
„Leider wird die komplexe Dynamik internationaler Beziehungen häufig auf die Gleichung Sicherheit gleich starker Freund, also Sicherheit gleich Freundschaft mit den USA, reduziert.“
„Omi, wir brauchen starke Freunde, in der Politik ebenso wie im Privatleben. Ohne Robert wären wir damals den Glatzen hilflos ausgeliefert gewesen.“
„Davon hast du mir gar nichts erzählt.“
„Das war an meinem sechzehnten Geburtstag. Du warst verreist. Wir feierten in unserem Garten. Mama und Papa waren ins Kino gegangen. Plötzlich stand eine Gruppe Neonazis im Vorgarten. Sie trampelten mit ihren Springerstiefeln auf den Blumenbeeten herum und schrien nach Bier. Ich bekam furchtbare Angst. Robert sagte, niemand solle den Garten verlassen. Er selbst ging mit einem Kasten Bier in den Vorgarten und verteilte die Flaschen an die Kerle. Danach setzte er sich mit dem Anführer auf die Eingangstreppe und rief in einer Machomanier, die ich von ihm nicht kannte: ‚He, wo bleibt das Essen!’ Ohne nachzudenken, brachte ich ihnen Koteletts und eine Schüssel Kartoffelsalat. Ich verstand nicht, warum Robert, der die Neonazis verabscheute, mit diesen Typen Bier trank. Doch irgendwie schien er die Situation im Griff zu haben. Jedenfalls versuchte keiner der Glatzen zu uns in den Garten zu kommen. Nachdem sie Koteletts und Kartoffelsalat aufgegessen und jeder eine Flasche Bier eingesteckt hatte, verschwanden sie. Als sie weg waren, informierten wir die Polizei, die die Gang kurz danach festnahm.“
„Na bitte, da siehst du es! Robert hat gerade nicht seine Muskeln spielen lassen, sondern eine Beziehung zu dem Anführer hergestellt. Stell dir vor, Florian wäre dabei gewesen und im Haus hätte es Waffen gegeben.“
Meike schweigt. Sie mag sich nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn Florian sich mit dem Anführer der Glatzen angelegt hätte.
„Es ist erstaunlich“, fährt die Großmutter fort, „wie die einmal erworbenen Schemata unsere Wahrnehmung und Erinnerung prägen. Du bist im Nachhinein überzeugt, die körperliche Stärke Roberts habe die Glatzen in Schach gehalten, obgleich er keine Gewalt eingesetzt hat. Das Verzwickte an Schemata ist: Die Kritik an einem bestimmten Schema ruft dieses automatisch hervor und verfestigt es. Es macht durchaus Sinn, dass unsere Vorstellungen stabil sind. Stell dir vor, du müsstest bei jedem Hund, der dir begegnet, erst die Kopfform, Fellbeschaffenheit und Körpergröße mit deinem Wissen über Hunde vergleichen, um zu entscheiden, ob es sich um einen Hund oder um einen Wolf handelt.“
„Ich würde mich kaum mehr in den Park trauen“, gibt Meike lachend zu.
„In Situationen, in denen man rasch reagieren muss, sind stabile Schemata nützlich. Aber wir leben nicht mehr im Urwald. Historische Erfahrungen lehren uns, Waffen haben häufiger Menschen getötet als beschützt und Militärbündnisse führten fast immer zu Kriegen. Deshalb bräuchten wir dringend das von Gorbatschow geforderte Neue Denken. Es gibt keinen Grund, das Schema ,militärische Stärke gleich Sicherheit’ beizu-behalten, das mehr auf Glauben als auf Wissen beruht.“
„Wissen und Glauben müssen sich nicht widerspre-chen.“
„Vom Glauben zum Aberglauben ist es nicht weit. In Situationen, die wir nicht durchschauen und erklären können, neigen wir zu magischem Denken. Leider kommt unser politisches Denken häufig über die Stufe des magischen Denkens nicht hinaus.29 So wie ein kleines Kind glaubt, die Sonne bewegen zu können, glauben wir, ein Diktator, General oder Präsident könne gesellschaftliche Entwicklungen nach seinem Willen steuern. Wir sagen, Hitler habe den Zweiten Weltkrieg gemacht und denken nicht an die Reichswehr, an BASF und Krupp, an gesellschaftliche Bewegungen im In- und Ausland oder an die vielen Widersprüche und Zufälle, die es ihm ermöglichten, sein zerstörerisches Programm umzusetzen.“
„Es stimmt schon“, seufzt die junge Frau, „Politiker, seltener Politikerinnen, lassen uns gern in dem Glauben, sie seien allmächtig, stark wie die Helden in den Sagen und weise wie die Könige in den Märchen.“
„Interessant ist, dass Märchen häufig Beispiele für zivile Konfliktlösungen enthalten: Schwache setzen sich mit List gegen Mächtige durch. Nicht Stärke, sondern Klugheit und emotionale Bindungen führen zum Erfolg. Denk an das tapfere Schneiderlein und den gestiefelten Kater. Sie überlisten ihre überlegenen Gegner. Hänsel und Gretel halten zusammen und retten sich mit Klugheit. Herr und Frau Igel gewinnen, weil sie sich gegenseitig unterstützen. Helden in nationalen Epen dagegen sind ohne Schwert nicht denkbar. Ich glaube, die Welt wäre friedlicher, würden nicht Heldensagen, sondern Märchen unser politisches Bewusstsein prägen.“
„Märchen sind nicht rational.“
„Sind vielleicht Politiker rational? Kein vernünftiger Mensch würde Zigarette rauchend einen Benzinkanister nach dem anderen in eine Scheune voll Stroh tragen und sich dann wundern, wenn sie explodiert. Die USA und Europa aber exportieren seit Jahrzehnten Waffen in den Nahen Osten und sind empört, wenn sie eingesetzt werden.“
„Ohne das Militär gäbe es längst keinen israelischen Staat mehr, das musst du zugeben, Oma. Ganz zu schweigen von der Bedrohung aus dem Iran.“
„Ich kann verstehen, dass Israel nach dem Holocaust nie mehr schutzlos sein will. Aber wir vergessen oft, auch der Iran fühlt sich bedroht und zwar von den Atommächten Israel und USA.“
„Omi, du willst doch nicht bestreiten, dass die atomare Aufrüstung des Irans gefährlich ist.“
„Jede Atomwaffe ist gefährlich. Wer weiß, vielleicht wäre der Iran heute ein säkularer, demokratischer Staat ohne atomare Ambitionen, wenn der gewählte Mossadegh 1953 nicht mit Hilfe der CIA gestürzt worden wäre – seine Regierung hatte die anglo-iranische Ölgesellschaft verstaatlicht.“
„Wäre, wenn – das sind Spekulationen, Omi.“
„Trotzdem ist es nützlich, sich ab und zu klar zu machen, dass die Geschichte auch anders hätte verlaufen können. Fakt ist, ein Staat, der keine Armee besitzt, kann keine Kriege führen.“
„Aber Opfer von Kriegen werden.“ Meike schüttelt den Kopf. „In einem Land ohne Armee würdest selbst du dich unsicher fühlen.“
„Mag sein. Nur leider können uns Gefühle täuschen. Welches Mädchen oder welcher Junge träumt nicht von einer Wunderwaffe, mit der man die Welt beherrschen kann. Aber Allmachtfantasien gehören ins Kinderzimmer, nicht ins Parlament.“ 30
„Eine Armee schützt ein Land, das ist keine kindliche Fantasie.“
„Wir überschätzen die Möglichkeiten von Waffen und unterschätzen das Risiko, das mit ihnen verbunden ist. Hätte man vor zwanzigtausend Jahren gewusst, wie viel Elend Waffen anrichten, hätte man vielleicht ein Tabu entwickelt, das den Einsatz von Waffen gegen Menschen verbietet. Dann würden wir heute den Einsatz von Waffen zur Lösung von Konflikten genauso verabscheuen wie den Kannibalismus.“
„Hätte, wäre, wenn … Oma, wir haben nun mal Waffen. Zudem bedeuten Waffen auch Sicherheit.“
„Sicher sind nur Steuern und der Tod, sagte, glaube ich, Benjamin Franklin“, meint die alte Dame trocken. „Der Glaube, militärische Stärke bedeute automatisch Sicherheit, macht uns blind für die vielen Konflikte, die erfolgreich ohne Militär beigelegt wurden. Die Möglichkeiten ziviler Friedensstrategien und einer zivilen Verteidigung werden meist unterschätzt.“31
„Wenn das wirklich funktionierte, bräuchten wir keine Armeen.“
„Jedenfalls nicht zur Herstellung von Frieden oder zur Verteidigung. Ohne die Kriege der Fürsten und Könige hätten die mittelalterlichen Bauern niemand benötigt, der sie beschützt. Sie hätten keine Burgen bauen und nicht für ihre Herren in den Krieg ziehen müssen. Friedensrichter hätten ausgereicht, um Konflikte zu schlichten.“
„Immerhin haben die Burgen sie vor Normannen und anderen Eindringlingen geschützt.“
„Wahrscheinlich sind durch diese Invasoren weniger Bauern umgekommen als durch die Kriege ihrer Herren.“
„Du kannst das Mittelalter nicht mit heutigen Industriegesellschaften vergleichen. Wir können froh sein, dass die USA die fundamentalistischen Regimes in Schranken weist. Ich fühle mich von den USA beschützt, nicht bedroht.“
„Dieses Gefühl kann genauso falsch sein wie der Glaube der mittelalterlichen Bauern, sie bräuchten zu ihrem Schutz Burgen und Ritter.“
„Oma, wir leben heute, wir haben Bildung und gelernt, unsern Verstand zu benutzen.“
„Unser Verstand ist begrenzt, auch der von Ministern und Politikerinnen. Sie müssen meist unter Zeitdruck über Dinge entscheiden, für die sie keine Fachleute sind. Deshalb entscheiden sie nach einfachen Faustregeln, was in den meisten Fällen bedeutet, so zu verfahren wie immer.“32
„Wenn es sich bewährt hat.“
„Wie Probleme mit Kriegen zu lösen? Das ist das Übliche. So haben über zehntausend Jahre Herrscher und Regierungen entschieden. Eine brutale und ver-lustreiche Strategie.“
„Dank der viele Gesellschaften überlebt haben.“
„Und viele zerstört wurden.“
„Es würden doch nicht alle Gesellschaften Armeen unterhalten und Kriege führen, wenn dies keinen Sinn hätte.“
„Ich habe nicht gesagt, das Militär sei sinnlos. Es dient der Disziplinierung und dem Machterhalt im Innern ebenso wie der Machterweiterung nach außen. Nur Machtpolitik ist nicht Sicher-heitspolitik.“
„Manchmal muss man gesellschaftliche Entwicklungen mit Gewalt durchsetzen.“
„Frauenrechte und Demokratie kann man nicht importieren wie Coca Cola – schon gar nicht mit militärischer Gewalt. Militärische Stärke verführt zum Zuschlagen. Dadurch wird das mühsame Suchen nach einer gemeinsamen Lösung vermieden.“
„Omi, mit Diktatoren wie Milosevic und Assad oder Verbrechern wie den Taliban und dem IS kann man keine gemeinsamen Lösungen finden.“
„Warum nicht? Sie lassen sich allerdings nicht mit Gewalt erzwingen. Manchmal muss man jahrelang verhandeln.“
„Kriegsverbrecher gehören vor den internationalen Gerichtshof, nicht an den Verhand-lungstisch.“
„Verhandeln heißt nicht kooperieren. Die Frage ist doch, will man seine eigenen moralischen Überzeugungen durchsetzen, egal wie viel Tote es kostet, oder das gegenseitige Abschlachten beenden.“
„Aber das ist ungerecht gegenüber den Opfern.“
„Das stimmt. Es ist ungerecht. Auch unser Rechtssystem ist oft ungerecht und doch bin ich froh, in einem Rechtsstaat zu leben. Übrigens Diktatoren und Kriegsverbrecher fallen nicht vom Himmel. Hinter ihnen stehen Interessen. Um die deutsche Arbeiterbewegung zu schwächen, nahmen große Teile der deutschen Wirtschaft einen Hitler in Kauf. Um die Sowjetunion zu bekämpfen, bildeten Großbritannien und die USA die Mudschahedins aus. Assad wiederum wurde erst im Bürgerkrieg zu einem brutalen Kriegsherrn.“33
„Nun sind Taliban, IS und Assad da. Das ist unser Problem heute!“
„Solange wir in Kategorien von Stärke und Macht denken, werden sie auch weiterhin agieren können. Deshalb benötigen wir ein anderes Sicherheitsdenken, das auf der Einsicht beruht, dass wir in einem Beziehungsgeflecht leben und wir alle voneinander abhängig sind, auch die Starken von den Schwachen. Das bedeutet, Schwächere zu stützten und Stärkere nicht herauszuheben.“
„Das ist illusorisch. So funktioniert unsere Gesellschaft nicht.“
„Immerhin leben wir in einem Staat, in dem nicht das Recht des Starken, sondern die Stärke des Rechts gilt. In dem auch die Starken Grenzen akzeptieren und Gesetze einhalten müssen. Sie tun dies, weil auch sie von der Rechtssicherheit profitieren. Denn in einem Rechtsstaat lebt man sicherer als in einer Gesellschaft, in der Blutrache und Lynchjustiz herrschen. Warum also sollte der Rechtsstaat nicht Vorbild sein für die Regelung internationaler Beziehungen?“
„Oma, dein Traum von einer friedlichen Welt!“
Verändern durch Zerstören
Liebe Oma,
herzliche Grüße aus Kroatien. Es ist schon erstaunlich, wie schnell sich ein Land vom Krieg erholt. Allerdings gibt es bei den Leuten noch viele Wunden. Gestern habe ich mich mit der Besitzerin unserer Pension unterhalten. Ihr Vater ist 1995 bei dem Massaker in Srebrenica umgekommen. Es ist unfassbar, was damals geschah: Unter den Augen holländischer UNPROFOR-Soldaten wurden unbewaffnete Dorfbewohner abgeschlachtet. Wie kann ein normaler Mensch solche Gräueltaten begehen? Ich vermisse Florian sehr. Doch mich tröstet die Vor-stellung, dass er hilft, solche Massaker zu verhindern.
Viele Grüße! Deine Meike
Liebe Meike,
vielen Dank für Deine Karte. Ja, zerstörte Gebäude sind rasch aufgebaut. Leider lassen sich zerstörte Seelen nicht so leicht erneuern. Was Florians Einsatz betrifft, hoffe ich, du hast Recht. Sicher gibt es Situationen, in denen Soldaten Massaker verhindern können. Auf der anderen Seite aber begünstigt nun mal jede Kriegssituation Massaker und Völkermorde. Nicht selten sind Soldaten daran beteiligt. Ein Völkermord wie der Holocaust wäre ohne Krieg und ohne die Mithilfe von Teilen der Wehrmacht nicht möglich gewesen.
Ich schicke dir einen Artikel, den ich vor etlichen Jahren zu dem Thema geschrieben habe. Er handelt unter anderem vom Zusammenhang zwischen Kultur und Existenz. Dadurch, dass eine bestimmte Kultur quasi die ökologische Nische einer bestimmten Gesellschaft ist, erhält sie automatisch eine existentielle Bedeutung. Erst dadurch wird verständlich, warum sich Menschen gegen Veränderungen eines bestehenden Gesellschaftssystems wehren, unabhängig davon, ob Sitten und Gebräuche human oder grausam sind und das Wirtschaftssystem allen oder nur einer kleinen Elite ein Leben ohne Hunger und Existenzangst ermöglicht. Selbst wenn kulturelle Traditionen und religiöse Glaubenssätze die Entfaltungsmöglichkeiten der Mehrheit einschränken, sind sie Bestandteil der Identität jedes Gesellschaftsmitglieds.
Durch Sozialisation haben sich in unserem Bewusstsein Schemata gebildet, die uns die eigene Kultur als unbedingt erhaltenswert erscheinen lassen. Gerade denjenigen, die am wenigsten von einem Gesellschaftssystem profitieren, fehlt häufig die Bildung, um zu erkennen, dass es viele mögliche, aber keine perfekten Gesellschaftssysteme gibt. Besonders Religionen und Ideologien, die auf Glauben, nicht auf Wissen beruhen, erzeugen in uns die Gewissheit, den einzig richtigen Weg gefunden zu haben. Aber jede Kultur hat ihre Schwachstellen. Kein Gesellschaftssystem ist optimal.
Den meisten europäischen Frauen und Männern erscheint das kapitalistische Wirtschaftssystem als das einzig mögliche. Kapitalgesetze werden als Naturgesetze und damit als unveränderlich wahrgenommen. Wir vergessen, dass Menschen auch in anderen Kulturen überlebt haben. Ich bin immer wieder erstaunt, dass wir uns dem kapitalistischen Wirtschaftssystem und seinen Verwertungsinteressen mehr ausgeliefert fühlen als Naturgewalten. Wir glauben für unser Überleben seien Banken unverzichtbarer als gesunde Nahrung. Wir fürchten einen Stromausfall mehr als verseuchte Böden, vergiftete Luft und verschmutztes Trinkwasser. Wir haben die Verluste vergessen, die durch die Industriealisierung auch für uns verloren gegangen sind.
Nun ist der Brief doch sehr lang gewor-den. Aber Krieg und Völkermord ist nun mal mein Thema. Ich wünsche dir noch viele schöne Tage am Meer.
Liebe Grüße! Deine Oma
Das Unfassbare fassbar machen
Nach internationalem Recht ist Völkermord, anders als Krieg, ein Verbrechen. Nach der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes von 1948 liegt ein Völkermord vor, wenn Handlungen „in der Absicht“ begangen werden, „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe“ ganz oder teilweise zu zerstören. Darunter fallen auch Maßnahmen, „die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der (zu vernichtenden) Gruppe gerichtet sind.“ Entscheidend dabei ist die Absicht, eine bestimmte Gruppe ganz oder teilweise ausrotten zu wollen.
Oft werden Völkermorde und Massaker auf krankhaftes Verhalten zurückgeführt. Doch weder diejenigen, die solche Verbrechen befehlen, noch diejenigen, die sie ausführen, sind Psychopathen oder gar Dämonen. Die Täter weisen nicht mehr Persönlichkeitsstörungen auf als der Durchschnitt der Bevölkerung. Sie sind weder besonders aggressiv, noch haben sie sonstige Auffälligkeiten. Es gibt keine besonderen Anlagen, die jemand besitzen muss, um sich an einer Massentötung zu beteiligen. Entscheidend sind vielmehr die Normen des Kollektivs, dem die jeweiligen Täter angehören. „Die Deutschen fühlten sich zur Zeit des Nationalsozialis- mus einem normativen Modell verpflichtet, das die Erniedrigung und Verfolgung anderer Menschen nicht verurteilte, sondern forderte, und das im letzten Drittel des ‚Dritten Reiches’ auch vorsah, dass es notwendig und gut sei, zu töten“ (Welzer, S. 69).
Auch wenn der Völkermord als Barbarei bezeichnet wird, findet er nicht nur in unter-entwickelten Gesellschaften statt. Einer der größten Genozide ereignete sich in Deutschland, einem Industriestaat. Er wurde von Intellektuellen geplant und von Gebildeten toleriert. Die Ausführenden hatten eine Schulbildung und besaßen weder eine angeborene, noch kulturell bedingte, hohe Gewaltbereitschaft. Vielmehr fühlten sie sich verpflichtet, die Befehle der Vorgesetzten auszuführen. Diese appellierten nicht in erster Linie an Hass oder Zerstörungslust, sondern an die Opferbereitschaft und das Pflichtgefühl der Täter. So bezeichnete Himmler in seiner Rede an die SS vom 21. Juni 1944 die Tötung von jüdischen Frauen und Kindern als schwere Aufgabe, die aber zum Schutz der eigenen Frauen und Kinder und des deutschen Volkes durchgeführt werden müsse.
Erst in neuerer Zeit wurden wissenschaftliche Analysen über Massaker und Völkermorde durchgeführt. Nach Staub (1989} kommt es in Situationen beschleunigter gesellschaftlicher Um-wälzungen zu Völkermorden. Nach Sémelin (2007) entstehen Massaker und Völkermorde aus einer „komplexen Situation“. Dabei ist der „Gewaltprozess … keineswegs anarchisch, sondern wird bewusst gegen eine bestimmte Gruppe gerichtet. Er konkretisiert sich als kollektives Handeln, angestoßen zumeist von einem Staat (und dessen Vertretern), der diese Gewalt bewusst organisiert. Das verhindert jedoch nicht, dass die Akteure bei den Formen des Quälens und Tötens eine gewisse Improvisation oder sogar Spontaneität walten lassen können“ (S. 356). Massentötungen können nicht allein staatlichen Akteuren zugeschrieben werden. Sie werden erst durch die „partizipative Gewalt“, also das Zusammenwirken unterschiedlichster gesellschaftlicher Gruppen möglich. Massentötungen ereignen sich in einer langfristig angelegten, aber zeitlich begrenzten Krise. Sie sind im zwanzigsten Jahrhundert meist auf den Wandel von einer agrarischen zu einer industriellen Gesellschaft und die damit verbundene Konkurrenz neuer und alter gesellschaftlichen Gruppen um den Elitestatus zurückzuführen (Gerlach 2011).
Kriege sind ein guter Nährboden für Massaker. Massentötungen sind aber auch ohne Krieg möglich und nicht jeder Krieg artet in Massentötungen aus. Zwischen einem Krieg und einem Massaker gibt es strukturelle Unterschiede. Im Krieg geht es darum, den Gegner zu unterwerfen, nicht zu vernichten. Anders beim Massaker: hier wird eine von vornherein unterlegene Gruppe von der überlegenen ganz oder teilweise vernichtet. Es findet kein Wettkampf statt. Es gibt weder Sieger noch Verlierer, sondern Täter und Opfer. Im Krieg sind die Akteure ausgebildete Soldaten, die auf Befehl handeln und deren Tun durch staatliche Stellen sowie das Kriegsvölkerrecht legitimiert ist. Bei Massentötungen dagegen sind Zivilisten nicht nur Opfer, sondern häufig auch Täter. Es gibt selten Regeln. Gesellschaften, in denen staatliche Strukturen fehlen, sind besonders anfällig für Massaker. Das Töten wird in erster Linie durch Gewähren lassen ermöglicht. Weder Regierungen noch Nachbarn noch gesellschaftliche Institutionen wie Kirchen und Verbände greifen ein. Alle sehen weg.
Menschen leben in Gemeinschaften, die durch eine bestimmte Kultur geprägt sind. Die Zuge-hörigkeit zu einer sozialen Gruppe, Ethnie oder Nation ist Teil ihrer Identität. Ihre Kultur, das heißt: die Werkzeuge, Bauten, Produktionsweise, die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Institutionen sowie die Regeln des Zusammenlebens sind existentiell für das Überleben einer Gesellschaft, sie sind quasi die ökologische Nische ihrer Mitglieder.
Aber Kultur ist kein statischer Zustand. Überleben bedeutet, sich den ständigen inneren und äußeren Veränderungen anzupassen. Misslingt dies, weil herrschende Eliten einen gesellschaftlichen Wandel verhindern oder gesellschaftliche Veränderungen einem Land von außen aufgezwungen werden, kommt es meistens zu gewaltsamen Auseinandersetzungen wie Revolutionen oder Bürgerkriegen. Das plötzliche Wegbrechen gesellschaftlicher Strukturen erzeugt Existenzangst und führt zu Identitätsverlust. Die Verteidigung der bestehenden Kultur wird zum Existenzkampf, während die Abgrenzung nach außen dem Identitätsverlust entgegen wirken soll.
Mithilfe kollektiver Gewalt wird versucht, die bedrohte Identität zu festigen. Kollektive Gewalt verschafft dem Schwachen ein Gefühl von Stärke. In einer unsicheren Welt stiftet Gewalt Identität. „Sie sorgt für Sicherheit, wo Unsicherheit herrschte, indem sie zwischen ,ihnen‘ und ,uns‘ unüberwindliche Schranken errichtet“ (Sémelin, S. 106). Wenn sich Staaten auflösen und gesellschaftliche Regeln nicht mehr gelten wird Sicherheit in der Reinheit und Homogenität der eigenen sozialen Gruppe gesucht. Es scheint, als ob der Zusammenhalt der Mehrheitsgesellschaft nur durch Vernichtung aller anderen Gruppen zu retten sei. In einer solchen Situation fehlt die Einsicht, dass durch Massentötungen nicht nur die „fremde“ Gruppe sondern auch die eigene Gemeinschaft zerstört wird. Während die Unterwerfung eines Gegners in einem siegreichen Krieg möglicherweise den Zusammenhalt einer Nation festigen kann, muss der Versuch scheitern, durch „Säubern und Vernichten“ das Auseinanderfallen einer Gesellschaft zu verhindern.
Bei Massakern sind sowohl Täter wie Opfer die Verlierer. Nur selten haben die direkt daran Beteiligten langfristig einen Gewinn. Massaker bringen Vorteile für diejenigen, die ein Interesse an der Schwächung eines Staates und einer raschen gesellschaftlichen Umwälzung haben. Sie beschleunigen in der Regel die gewünschten Veränderungen. Wie der Bauer den Acker bestellt für eine neue Saat, so pflügt ein Genozid gesellschaftliche Institutionen und Beziehungen unter und bestellt das Feld für ein neues Gesellschaftssystem. Nicht selten ist daher die Bildung von Nationalstaaten verbunden mit ausrottenden Vernichtungspraktiken. Sémelin beschreibt diese konstitutive politische Dynamik folgendermaßen: „Es scheint, als ob der moderne Staat, der sich als ein homogenes ‚Selbst’, als ein politisch, ethnisch und/oder religiös begründetes imaginäres ‚Wir’ begreift, immer dazu neigt, sich gegen einen Anderen herauszubilden, den es zu vertreiben, ja zu vernichten gilt. Zum Feindbild wird in diesem Falle jener ‚überflüssige Andere’, den man als ganz und gar andersartig betrachtet und der auf dem beanspruchten Territorium ‚zu viel’ sein soll“ (S. 368).
Massentötungen finden in der Regel in gesellschaftlichen Umbruchsituationen statt. Aber nicht jede Umbruchsituation führt zu einem Massaker. Bei aller Brutalität und Grausamkeit, mit der gesellschaftliche Systemveränderungen durchgesetzt werden, bleiben Völkermorde die Ausnahme. Auch ethnische und religiöse Unterschiede führen nicht zwingend zu Massentötungen. Es gibt kaum einen Staat, in dem nicht verschiedene Ethnien und Religionen leben. Gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen ihnen finden aber meistens erst statt, wenn die Unterschiede zwischen ihnen für die Austragung politischer und wirtschaftlicher Konflikte missbraucht werden. In der Weimarer Republik kam es erst zu Gewaltexzessen, nachdem sich die wirtschaftlichen Probleme verschärften. Alle negativen Folgen des Ersten Weltkrieges und des kapitalistischen Wirtschaftssystems wurden auf die Juden projiziert. Im ehemaligen Jugoslawien begann die Gewalt zwischen den verschiedenen Volksgruppen, als die ökonomischen Probleme mit dem jugoslawischen Wirtschaftsmodell nicht mehr zu lösen waren.
Die Grenzen zwischen den einzelnen ethnischen und religiösen Gruppen sind mögliche Bruchstellen einer Gesellschaft. Bruchstellen brechen aber nur, wenn von außen darauf eingewirkt wird. Immer wieder haben in der Geschichte Großmächte nach dem Prinzip „Teile und herrsche“ ethnische und religiöse Konflikte geschürt, um ihre wirtschafts- und machtpolitischen Interessen durchzusetzen. Meist wird der Anteil unterschätzt, den ausländische Mächte am Entstehen von Massakern und Völkermorden haben. Wer thematisiert zum Beispiel die Rolle des Auslandes während des Holocausts oder die Rolle Frankreichs während des Völkermordes in Ruanda?
Unser Verstand weigert sich, Völkermorde und Massaker zu begreifen. Und doch sind Massentötungen Bestandteil der menschlichen Zivilisationsgeschichte. Sie sind weder Ergebnis von Psychopathen noch das spezifische Merkmal primitiver Gesellschaften. Christen haben Heiden abgeschlachtet, intelligente Menschen Völkermorde geplant und bis heute werden nicht selten Massaker in Kauf genommen, um politische und ökonomische Interessen durchzusetzen.
Massentötungen finden unter den unterschiedlichsten kulturellen, politischen und wirt-schaftlichen Bedingungen statt. Umgekehrt finden in einem Land Massentötungen statt, während unter vergleichbaren Bedingungen ein anderes Land davon verschont bleibt. Soziale Ungerech-tigkeiten, Armut, machtpolitische Interessen von außen und innen, ethnische Unterschiede, religiöser Fanatismus, spezifische Mentalitäten und historische Traditionen können in ihrem Zusammenwirken zu Massentötungen führen, müssen aber nicht. Sich am Eigentum der Getöteten zu bereichern oder private Racheakte mögen in einzelnen Fällen eine Rolle spielen, reichen aber zur Erklärung ebenso wenig aus wie das Vorhandensein bestimmter politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Bedingungen.
Bei einer gewaltsam durchgeführten gesellschaftlichen Umwälzung ist ein Völkermord der GAU, der größte anzunehmende Unfall. Ähnlich wie die Kernschmelze in einem Reaktor entwickelt ein Völkermord, einmal in Gang gesetzt, eine Eigendynamik, die kaum mehr zu stoppen ist. Warum in einer konkreten gesellschaftlichen Situation gesellschaftliche Regeln, Gesetze, geltende Normen und natürliche Schranken wie Tötungshemmung und der Schutz von Kindern außer Kraft gesetzt werden, während dies unter ähnlichen Bedingungen unterbleibt, müssen weitere Forschungen klären.
Gerlach, C.: Extrem gewalttätige Gesellschaften. Stuttgart: DVA 2011
Sémelin, J.: Säubern und Vernichten. Die Politik der Massaker und Völkermorde. Hamburg: Hamburger Edition 2007
Staub, E.: The roots of evil. The origins of genocide and other group violence. Cambridge: University Press 1989
Welzer, H.: Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden. Frankfurt a.M.: S. Fischer 2005
Soldatenberuf
„Puh, richtiges Novemberwetter.“
Die alte Dame knöpft ihren Mantel bis unters Kinn und zieht sich die Kapuze über den Kopf.
„Sollten wir nicht lieber ins Café gehen?“
„Ach Oma, es nieselt doch nur. Ich brauche frische Luft und dir tut ein bisschen Bewegung auch gut.“
„Warum joggst du nicht mit Florian, er ist doch wieder da?“
Meike schüttelt den Kopf. Nach einigem Zögern sagt sie: „Wir haben uns gestritten. Er ist plötzlich so anders.“
Die Großmutter blickt sie besorgt an und sagt:
„Viele Soldaten haben Schwierigkeiten, sich im Zivilleben zurecht zu finden. Der Krieg verändert die Menschen. Nicht Mitgefühl sondern Härte und Todesverachtung werden verlangt. Nicht die Lebenden zählen sondern die Toten.“
„Oma, für einen Bundeswehrsoldaten gelten die gleichen Werte wie für jeden Bürger. Er darf sogar Befehle verweigern, die er nicht mit seinem Gewissen vereinbaren kann.“
„Unter Beschuss kann man nicht über Befehle diskutieren. Da geht es nicht um Gewissen sondern um Gehorsam. Auch in heutigen Kriegen verändert sich die Bedeutung von Werten und Gegenständen, ein Wohnhaus wird zum Gefechtsstand und eine bewohnte Stadt zum Feindobjekt.“
„Oma, das ist Vergangenheit. Einen Stabilisierungseinsatz kann man nicht mit früheren Kriegen vergleichen. Es geht darum, das Leben von Zivilisten zu schützen.“
„Deshalb sterben in heutigen Kriegen mehr Zivilisten als Soldaten,“ meint die Großmutter sarkastisch. „Du hast recht, das war früher anders.“
„Doch nur, weil Terroristen die Bevölkerung als lebende Schutzschilde benutzten. Im Unter-schied zu einer Armee bringen Gotteskrieger gezielt Zivilisten um.“
„Auch Minen und Drohnen töten mehr Zivilisten als Kombattanten. Wo ist der Unterschied?“
„Terroristen sind Verbrecher, keine Soldaten.“
„Deshalb dürfen sie gefoltert und, wie Bin Laden, ohne Gerichtsverfahren exekutiert werden? Nein, Meike, da wird mit zweierlei Maß gemessen.“ Sie bleibt stehen und schaut einem Specht nach, der zwischen den kahlen Bäumen hindurch fliegt. Dann fährt sie fort: „Jede Gesellschaft, auch wenn sie militärisch dem Gegner haushoch überlegen ist, ist verwundbar. Gegen Selbstmordattentate helfen keine Raketen. Die Entwicklung wirksamerer Waffen bringt immer nur kurzfristig Vorteile. Denn die gegnerische Seite rüstet entweder nach oder – wie die Dschihadisten mit ihren Attentaten – praktiziert Kampftechniken, gegen die eine Armee hilflos ist.“
„Wenn eine Seite aufrüstet, muss man nachrüsten.“
„Eine endlose Rüstungsspirale. Wir müssen aufhören, unsere waffentechnische Überlegenheit auszuspielen. Warum nicht unsere sozialen Errungenschaften einsetzen? Wie wäre es, wenn wir Wissen statt Waffen exportierten?“
„Fände ich auch gut, aber so ist die Welt nicht. Wir benötigen Soldaten.“
„Fragt sich nur wofür. Spätestens seit der Erfindung des Maschinengewehrs ist die Vorstellung vom tapfer für seine Familie und sein Vaterland kämpfenden Soldaten zur Fiktion geworden.“
„Auch in heutigen Kriegen benötigen Soldaten Mut, um für die Sicherheit der freien Welt zu kämpfen“, beharrt Meike.
„Wohl eher für die Geschäfte der freien Welt“, kontert die Großmutter. „Und dafür opfern sich junge Männer!“
„Was ist schlecht daran?“
„Es kommt immer darauf an, wofür man sich opfert, Meike. Die Bereitschaft sein Leben zu riskieren, um ein Kind vor dem Ertrinken zu retten, ist eine wichtige Eigenschaft, ohne die unsere Art nicht überlebt hätte. Doch seit tausenden von Jahren wird diese Bereitschaft von den Herr-schenden missbraucht, um Kriege zu führen. Wem hat Florians Einsatz denn genützt? Im besten Fall hat er niemand getötet.“
„Ein Soldat tötet nicht für sich. Er kämpft gemeinsam mit seinen Kameraden für andere.“
„Nach dem Motto: Töten ist akzeptabel, wenn man es für andere tut?“, fragt die Großmutter leicht sarkastisch. „Aber wer sind diese anderen? Die irakische Bäuerin oder die Ölkonzerne, der syrische Arzt oder die Wall Street? Ist es wirklich sinnvoll, sein Leben für die Errichtung US-amerikanischer Militärbasen rund um den Globus oder für bundesrepublikanische Großmachtträume aufs Spiel zu setzen?“
„Berufssoldaten setzen ihr Leben nicht leichtsinnig aufs Spiel.“
„Das stimmt. Totale Kriege wie die beiden Weltkriege können wahrscheinlich nur mit Wehr-pflichtigen geführt werden. Denn die meisten Berufssoldaten wollen sich weder für ein Vaterland noch für einen Regime-Change opfern. Sie empfinden ihre Tätigkeit als interessanten Job, den sie gut machen wollen und dem sie auch positive Seiten abgewinnen können.“
„Krieg ist doch kein Vergnügen!“, entsetzt sich Meike.
„Menschen sind verschieden. Es scheint Männer, auch einige Frauen, zu geben, die sich im Krieg wohler fühlen als im Zivilleben. Soldatenleben und Zivilleben sind zwei völlig verschiedene Welten.“34
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand die Front ohne Not dem zivilen Leben vorzieht.“
„Nicht die Front, aber das Militär. Glücklicherweise eignet sich nicht jeder zum Soldaten. Wahrscheinlich sind die, die am Krieg zerbrechen, die Gesünderen.“
„Florian ist nicht am Krieg zerbrochen und trotzdem gesund, obschon … “ Meike hält inne, wischt sich eine Träne aus den Augen. „Vielleicht habe ich mich doch in ihm getäuscht.“
„Jeder trägt in sich verschiedene Anlagen. Wir unterschätzen häufig die ‚Macht der Situation’.“35
„Nicht jede wird zur Verbrecherin, egal wie die Situation ist.“
„Das habe ich nicht behauptet. Ich meinte nur, wenn ein Krieg erst einmal da ist, passt man sich der Situation an. Das ist die Schattenseite unserer hohen Anpassungsfähigkeit.“
„Jedes Tier kämpft ums Überleben und verteidigt sein Revier.“
„Und ergreift die Flucht, wenn der Gegner übermächtig ist. Ziel militärischer Ausbildung ist es doch gerade, Instinkte wie Fluchtverhalten oder Tötungshemmung abzutrainieren. Krieg pervertiert die Natur. Tiere sind klüger. Drohgebärden werden eingesetzt, um Reviere abzustecken, ohne dass ein Tier verletzt wird. Ein Wolf zum Beispiel, der in einem Kampf mit einem Rivalen aufgibt, präsentiert dem Stärkeren seine offene Flanke. Dies führt beim Sieger zu einer instinktiven Hemmung seiner Kampffähigkeit.“
„Aber der Mensch ist kein Tier. Wir haben eine Moral, auch Bundeswehrsoldaten. Wir leben schließlich in einer Zivilisation.“
„Sag ich doch. Kriege sind ein Ergebnis unserer Zivilisation. Wir haben leider nicht nur großar-tige Bauten und nützliche Werkzeuge hervorgebracht, sondern auch Kasernen und Waffen. Es ist schon traurig, wenn ein junger Mann seine Fähigkeiten durch das Bombardieren fremder Städte beweisen muss.“
„Florian muss sich nichts beweisen“, widerspricht Meike, etwas zu schnell und heftig. Die Großmutter blickt sie ungläubig an und sagt:
„Bist du sicher? Schließlich ist er nicht freiwillig aus der Olympiamannschaft ausgeschieden. Ich hatte den Eindruck, dass für ihn der Job als Trainer ein Abstieg bedeutet, dass er sich als Versager fühlt.“
„Aber das Kriegführen passt nicht zu ihm. Er ist kein Draufgänger.“
„Das muss ein Soldat nicht sein. Im Gegenteil. Die Bereitschaft zu gehorchen ist eine der wichtigsten Eigenschaften eines Soldaten. Im Militär herrscht Ordnung. Die starren Regeln geben Halt. Florian dürfte damit kein Problem haben. Hast du dich nicht manchmal über seine Pedanterie und Autoritätshörigkeit beklagt?“
„Aber das macht ihn doch noch nicht zu einem begeisterten Soldaten“, sagt Meike verzweifelt.
„Begeistert vielleicht nicht, aber befähigt. Der Mensch ist nicht nur friedensfähig, er ist leider auch kriegsfähig“, seufzt die Großmutter.
„Auch Florian lehnt Kriege ab.“
„Wer lehnt Krieg nicht ab? Ich kenne niemand, der Krieg will. Nur leider führt dies in den seltensten Fällen zur Kriegsverweigerung. Findet der Krieg im eigenen Land statt, geht es ums nackte Überleben. Wenn Bomben fallen, kann man keinen Widerstand organisieren. Solange sich der Krieg wo anders abspielt, wird er toleriert – man ist ja nicht direkt betroffen. Vielleicht fallen sogar ein paar Brosamen vom Kriegsgewinn für den kleinen Mann oder die einfache Frau ab.“
„Das ist zynisch. Zudem vergisst du das Flüchtlingsproblem und die Kriegskosten.“
„Kriegsflüchtlinge kann man zurückschicken, wenn nicht mehr geschossen wird. Die Kriegs-kosten tragen vor allem die Länder, in denen der Krieg stattfindet. Manchmal sind allerdings – wie im letzten Irakkrieg – die Kosten einer Intervention höher als der Gewinn. Auch die USA kann sich verrechnen.“36 Die Großmutter bleibt stehen und schiebt die Kapuze vom Kopf. Dann geht sie weiter und meint nach einigem Überlegen: „Übrigens, Meinungen können rasch umschlagen. Fühlt man sich bedroht, ist man anfällig für Kriegspropaganda.“
„Aber Propaganda ist nicht allmächtig.“
„Stimmt, deshalb passt sich ihr Inhalt dem Zeitgeist an. Früher führte man Kriege, weil es Gottes Wille war, dann weil das Vaterland bedroht war und jetzt, weil wir moralisch verpflichtet sind, zu helfen. Damit werden heute genauso wie früher die eigentlichen Triebkräfte von Kreuzzügen, Völkerschlachten und humanitären Interventionen verschleiert. Leider findet man in Zeitungen kaum Informationen über geostrategische und wirtschaftliche Interessen, die hinter militärischen In-terventionen stehen.“
„Heute werden Kriege geführt, um Unrecht zu bekämpfen. Auch die Kriegsberichterstattung dient diesem Zweck. Kriegsbilder können Widerstände gegen einen ungerechten Krieg mobilisieren. Wärst du ohne die Bilder der Opfer von Napalm gegen den Vietnamkrieg auf die Straße gegangen?“
„Wahrscheinlich nicht. Ich behaupte ja nicht, dass Kriegsreportagen überflüssig sind. Im Gegen-teil, Dokumentationen und gut recherchierte Berichte sind sehr wichtig. Nur leider tragen Medien selten zum Verstehen eines Kriegsereignisses bei. Die vielen Einzelmeldungen verbauen den Blick auf die Zusammenhänge. Die dritte Wiederholung einer Nachricht ist als Information wertlos, erweckt in uns aber die Illusion, Bescheid zu wissen. Nicht selten werden wir durch die Medien mehr desinformiert als informiert.“
„Aber du liest doch auch jeden Morgen den Tagesspiegel.“
„Der gehört zu meiner Tasse Tee.“37
„Siehst du, du möchtest auch nicht ohne Zeitungen leben. Ich bin froh, dass es sie gibt. Eine freie Presse ist für jede Demokratie unerlässlich.“
„Sicher, viele Journalisten und Reporterinnen bemühen sich um eine möglichst objektive Berichterstattung. Aber warum spiegeln Medien in der Regel nur den Zeitgeist? Warum bestärken Zeitungen, Tagesschau und Talk Shows das Schema 'Militärische Stärke bedeutet Sicherheit', anstatt es zu hinterfragen? Stattdessen zementieren sie unsere Vorstellungen von Sicherheit durch mili-tärische Stärke.“
„Ach, Oma, deine Pauschalurteile! Nie bist du mit dem zufrieden was ist.“ Meike seufzt, dann fährt sie lachend fort: „Aber wenn du nicht mehr die Welt verbessern wolltest, mit wem könnte ich mich dann streiten?“
„Ich weiß. Mich ärgert es einfach, dass immer noch behauptet wird, Kriege seien nicht zu vermeiden. Schließlich haben wir es auch geschafft, bei uns Folter und Blutrache abzuschaffen.“
„Das ist was anderes.“
„Warum eigentlich. Wir müssten nur aufhören, über unsere Verhältnisse zu leben. Unsere Produktivität ist so hoch, dass wir ohne weiteres von dem leben könnten, was wir aus eigener Kraft herstellen oder durch fairen Handel erwerben.“
„Und was ist mit unserer internationalen Verantwortung?“
„Warum nicht mit den Kapazitäten der Bundeswehr eine internationale Zivilschutzeingreiftruppe bilden, die entweder dem Auswärtigen Amt oder dem Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung unterstellt ist. Diese könnte man internationalen Organisationen oder einzelnen Ländern bei Katastrophen zur Verfügung stellen. Das wäre hilfreicher als unser Waffenexport. Denn kein Gesetz kann verhindern, dass Waffen ihren Weg in die Kriegsgebiete finden.“
„Wir brauchen die Rüstungsindustrie.“
„Ich gebe zu, die Rüstungsproduktion hat einen Vorteil: Solange es Kriege gibt, kennt sie keine Überproduktionskrise.“
„Das ist zynisch. Zudem brauchen wir Wirtschaftswachstum.“
„Leider ist der Glaube ans Wirtschaftswachstum unsere neue Religion. Wir unterwerfen uns den Finanzmärkten wie einst Herrscher und Untertanen der Kirche.“
„Oma, du siehst wieder einmal alles nur negativ. Heute haben wir Menschenrechte, religiöse Toleranz, ein Verbot von Kriegshetze und vieles mehr.“
„Umso trauriger ist es, dass Krieg und Militär immer noch Teil unserer Zivilisation sind. Nach wie vor bestimmt die Vorstellung, dass Sicherheit von der Stärke unserer Armeen abhängt, unser Denken.“
„Wenn du Recht hättest, hätte man Kriege ja längst abschaffen können.“
„So einfach ist es leider nicht. Es sind viele sich immer wieder selbst reproduzierende Systeme, die ineinander greifen und schwer zu entzerren sind. Da ist zum einen die Bevölkerung, die eigentlich keinen Krieg will, aber lieber an dem Bekannten festhält als sich auf etwas Neues, Unbekanntes einzulassen. Zum anderen bildet eine Mischung aus Angst, Mangel an Wissen und dem Bedürfnis nach Unverwundbarkeit einen fruchtbaren Boden für die Kriegsbefürworter. Auch Armut und Unterdrückung fördern Kriege. Nicht zuletzt bietet das Militär Arbeits- und Ausbildungsplätze sowie Aufstiegschancen für unterprivilegierte Schichten wie die Schwarzen in den USA.“
„Zottel meint, Kriegführen benötigt einen gewissen Überschuss an jungen Männern.“
„Das stimmt. Nicht zufällig haben kriegführende Gesellschaften häufig strenge Abtrei-bungsgesetze.”
„Eigentlich sind Frauen für den Krieg genauso wichtig wie Männer“, überlegt Meike. „Wenn sie zu wenig Kinder gebären, fehlt der Nachwuchs fürs Militär.“
„Ja, ein Gebärstreik könnte Kriege verhindern.“
„Du meinst, Lysistrate sollte unser aller Vorbild sein?“38
Die alte Dame nickt. „Würden alle Mütter ihren Söhnen verbieten, zum Militär zu gehen, und Mädchen und Frauen sich den Soldaten verweigern, gäbe es bald keine Bundeswehr mehr.“
Plötzlich beginnt Meike zu weinen.
„Florian ist so verändert“, schluchzt sie.
Die Großmutter nimmt sie in den Arm. Allmählich versiegen die Tränen. Meike löst sich aus der Umarmung. Zum ersten Mal, seit sie sich getroffen haben, blickt sie ihrer Großmutter direkt in die Augen und sagt:
„Er hat mich geschlagen!“
Anmerkungen
Warum Krieg?
1 1986 verabschiedeten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus der Ethnologie, Biogenetik, Evolutionsforschung, Neurophysiologie und Psychologie die „Erklärung von Sevilla“, in der sie feststellen, dass die Annahme, der Mensch sei aufgrund seiner biologischen Ausstattung oder evolutionsgeschichtlichen Entwicklung zu Aggression und Krieg verdammt, wissenschaftlich nicht haltbar ist. Vielmehr zeigten Ergebnisse aus der Verhaltens- und Evolutionsforschung die zentrale Bedeutung der Kooperation für das Überleben einer Gattung. Auch die militärpsychologische und militärsoziologische Forschung zeigt, dass Kriege auf einer Vielzahl von Faktoren basieren wie auf der systematischen Nutzung individueller Eigenschaften wie Gehorsam, Suggestion und Idealismus, auf sozialen Fähigkeiten wie Sprache und auf rationalen Überlegungen wie Kosten-Nutzen-Rechnungen, Planung und Informationsverarbeitung (Die "Erklärung von Sevilla" 1993, 226).
2 Friedensfachkräfte des Zivilen Friedensdienstes (forum ZFD) arbeiten mit Kriegsveteranen im ehemaligen Jugoslawien. In diesem Zusammenhang entstand ein Film mit anschließenden Interviews mit Veteranen. (ZFD 2008,Teil 3).
3 Der Abschluss des Atomwaffensperrvertrages 1970 war ein erster Schritt zur Begrenzung von Atomwaffen. 1995, nach dem Ende des Kalten Krieges, bedeutete seine Verlängerung auf unbegrenzte Zeit die völkerrechtliche Anerkennung von Atomwaffenbesitz mit dem Ergebnis, dass es heute nicht fünf, sondern neun Atommächte gibt (USA, Russland, Frankreich, Großbritannien, China, Israel, Indien, Pakistan, Nordkorea). Am 7.7.2017 haben 122 Staaten bei der UNO einen Vertrag zum Verbot von Atomwaffen verabschiedet, der von den Atommächten boykottiert wird. Auch die Regierung der BRD hat ihn bisher nicht unterzeichnet.
(http://www.spiegel.de/politik/ausland/Atomwaffen 7.2.2017)
4 Mitte Juli 1945 hatten die Japaner versucht über Moskau mit den USA über einen Waffenstillstand ins Gespräch zu kommen. Auf der Potsdamer Konferenz (17-25 Juli 1945) erfuhr Truman vom erfolgreichen Atombombentest. Am 25. Juli forderten USA, China und Großbritannien in der Potsdamer Deklaration von Japan die bedingungslose Kapitulation. Japan lehnte diese ab, unter anderem wegen der Forderung nach der Abdankung des Tenno, des japanischen Kaisers, dem im nationalen Verständnis ein göttlicher Ursprung zugeschrieben wurde (Müller 2011, 64-69; Ploetz 1998, 1228). Der Einsatz der Atombombe war strittig: Hohe Militärs und einige Wissenschaftler waren dagegen. Truman schwankte. Es gab den Vorschlag, den Japanern die Waffe auf einem unbewohnten Atoll im Pazifik zu demonstrieren. Viele Atomphysiker und einige hohe Offiziere aber drängten Truman dazu, sie gegen Japan einzusetzen (Moore/Moore 1958).
5 Das Zitate lautet: „Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König. Die einen erweist er als Götter, die andern als Menschen – die einen lässt er Sklaven werden, die anderen Freie“ (Heraklit 1986: B53).
6 Die USA hatten kaum Kenntnisse über die Verhältnisse in der Sowjetunion. McMahon, ein CIA Mitarbeiter, meinte später über die Zeit während Trumans Präsidentschaft (1945-1953): „Unsere Erkennt-nisse über die Sowjetunion waren gleich null“ (Weiner 2008, 108). Am 10. März 1952 überreichte der stellvertretende sowjetische Außenminister Andrej Gromyko den Vertretern der drei Westmächte in Moskau den Entwurf eines Friedensvertrages mit Deutschland, mit der Bitte, darüber zu verhandeln. Der Entwurf, die sogenannte „Stalin-Note“, enthielt unter anderem folgende Punkte: Wiederherstellung Deutschlands als einheitlichen Staat in den im Potsdamer Abkommen festgelegten, Grenzen. Abzug der Streitkräfte der Besatzungsmächte und Liquidation sämtlicher ausländischer Militärstützpunkte. Gewährung demokratischer Rechte einschließlich Redefreiheit, Pressefreiheit, Recht der freien Religionsausübung, Freiheit der politischen Überzeugung und der Versammlungsfreiheit. Freie Betätigung demokratischer Parteien und Organisationen. Verpflichtung Deutschlands keinerlei Koalitionen oder Militärbündnisse mit Staaten einzugehen, die am Krieg gegen Deutschland teilgenommen haben. Keinerlei Beschränkungen für die Entwicklung der deutschen Friedenswirtschaft. Deutschland darf für seine Verteidigung eigene nationale Streitkräfte (Land-, Luft- und Seestreitkräfte) besitzen (Steininger 1985, 115-116). Es kam zu keinen Gesprächen. Nach einer umfassenden Analyse von unveröffentlichten britischen und amerikanischen Akten von April 1952 bis Juni 1953 kommt der Historiker Steininger zu dem Schluss, dass vor allem Adenauers Ziel einer „bedingungslosen Westbindung“ die Verhandlungen über die Note der sowjetischen Regierung verhindert hatte (Steininger 1985, 88).
7 In komplexen Situationen, was bei politischen Entscheidungen in der Regel der Fall ist, schränken begrenzte kognitive Kapazitäten (Dörner 1995) und gruppendynamische Prozesse (Janis 1983, 173-276) die Problemlösefähigkeit ein. Nicht zuletzt führen Emotionen zu falschen Risikoabschätzungen, sei es, dass sie die Aufmerksamkeit gegenüber Risiken einschränken (Selten 2001, 13-36) oder durch sie Risiken überschätzt werden (Pinker 2011, 559-560). Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass das „Phänomen, dass Regierungen und Regierende eine Politik betreiben, die den eigenen Interessen zuwiderläuft“ - wie zum Beispiel die Entscheidungen zum Ersten Weltkrieg (Müller-Brettel 2017) - „die gesamte Geschichte, unabhängig von Zeit und Ort durchzieht“ (Tuchman 1996, 11).
8 Im 1. Golfkrieg (1980-1988) unterstützte der Westen den Irak im Krieg gegen den Iran. Nach dem Sieg über den Iran besetzte die irakische Armee 1990 völkerrechtswidrig Kuweit. Der UNO-Sicherheitsrat forderte in den Resolutionen 661 und 662 im August 1990 die Wiederherstellung der Souveränität Kuweits. Daraufhin bildeten die USA eine anti-irakische Koalition. Im November ermächtigte der UNO-Sicherheitsrat in der Resolution 678 die Mitgliedsstaaten, alle notwendigen Mittel zur Befreiung Kuweits einzusetzen. Ein französischer Vermittlungsversuch, der die Einberufung einer Nahostkonferenz vorsah, scheiterte am Veto der USA. Im Januar 1991 begannen die USA das Bombardement. Gestützt auf die Resolutionen des Sicherheitsrates führte die Anti-Irak Koalition unter US-amerikanischer Führung einen dreimonatigen Krieg, der mit der Niederlage Iraks endete. Während der 3. Golfkrieg 2004 eindeutig völkerrechtswidrig war, ist für den 2. Golfkrieg strittig, inwieweit das Eingreifen der von den USA geführten Koalition dem Völkerrecht entsprach. Nach Kapitel VII, Artikel 47 der UNO Charta hätte ein Generalstabsausschuss eingesetzt werden müssen.
9 Müller-Brettel 2004
10 James 1910, 400. Zum gleichen Schluss kam der polnische Bankier Jan van Bloch (1899). Seine Berechnungen der Kosten moderner Kriege ergaben, dass sich wegen der hohen Kosten der neuen Waffen, Kriege nicht mehr lohnen.
Hilfe oder Invasion?
11 Zum ersten Mal hat der NATO-Rat am 4. Oktober 2001 den Bündnisfall (Artikel 5 des NATO-Vertrages) beschlossen, nachdem die Mitgliedstaaten die Interpretation der US-Regierung, die Anschläge auf das World Trade Center seien ein bewaffneten Angriff von außen, akzeptiert hatten. Diese Interpretation ist strittig, weil das Attentat weder die Existenz der NATO noch die eines einzelnen Mitglieds gefährdet hatte.
12 Carew 2001, 63-64
13 In mehreren UNO Resolutionen aus den Jahren 2005-2009 wird gefordert, dass die internationale Staatengemeinschaft Verantwortung übernehmen soll für den Schutz der Bevölkerung vor Genozid, Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Erler 2009, 93-98). Die Befürworter militärsicher Interventionen berufen sich meist auf den Artikel 139 der Resolution 60/1 des Weltgipfels 2005, in dem das Eingreifen nicht nur nach Kapitel VI und VIII (friedliche Mittel), sondern auch nach Kapitel VII (regelt unter anderem den Einsatz von Streitkräften) erwähnt wird. Allerdings wird im gleichen Artikel die weitere Prüfung „eingedenk der Grundsätze der Charta und des Völkerrechts“ gefordert.
(http://www.un.org/depts/german/gv-60/band1/ar60001.pdf 4.11.2017). Zur Problematik des Konzepts Responsibility to Protect siehe Haid 2011.
14 Artikel 15, Abs. 1 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention) vom 4. November 1950: „Wird das Leben der Nation durch Krieg oder einen anderen öffentlichen Notstand bedroht, so kann jede Hohe Vertragspartei Maßnahmen treffen, die von den in dieser Konvention vorgesehenen Verpflichtungen abweichen, jedoch nur, soweit es die Lage unbedingt erfordert und wenn die Maßnahmen nicht im Widerspruch zu den sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen der Vertragspartei stehen.“ Auch im Kriegsfall müssen folgende Verpflichtungen beibehalten werden: das Verbot von Tötungen, außer sie stehen im Zusammenhang mit Kriegshandlungen (Artikel 2), das Verbot von Folter (Artikel 3), das Verbot der Sklaverei und Leibeigenschaft (Artikel 4, Abs. 1) und die Bedingung „Keine Strafe ohne Gesetz“ (Ar-tikel 7).
(https://www.menschenrechtskonvention.eu/konvention-zum-schutz-dermenschenrechte-und-grundfreiheiten-9236/ 4.11.2017)
15 „Jede Befreiungsarmee kommt an einen Punkt, jenseits dessen sie sich in eine Besatzungsarmee verwandelt“, schrieb Leutnant General Davie H. Petraeus, führender Vier-Sterne-General im Irakkrieg von 2003-2011 (Weiner 2008, 637).
16 Heinz Loquai, ein ehemaliger Bundeswehrgeneral und Mitarbeiter der OSZE im Kosovo, sagte in der Panorama- Sendung vom 18. Mai 2000: „Ich kann nur sagen, dass der Verteidigungsminister bei dem, was er über den Hufeisenplan sagt, nicht die Wahrheit sagte.“ Daraufhin wurde sein Vertrag als Mitarbeiter der OSZE im Kosovo vom Bundesministerium der Verteidigung nicht verlängert. (http://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2000/erste7422.html 4.11.2017). Loquai belegte seine Aussage in einer Dokumentation der Entwicklungsstadien des Bürgerkriegs im Kosovo von Ende 1997 bis März 1999 (Loquai 2000). Loquai verfasste auch einen detaillierten Bericht über die verschiedenen Faktoren (fehlende Vorbereitung der OSZE auf den Konflikt, mangelnde Unterstützung durch die meisten OSZE Teilnehmerstaaten, Einmischung der USA, Intervention der NATO, Behinderungen bei der Aufarbeitung der Ereignisse in Racak), die eine erfolgreiche Arbeit der OSZE in den Balkankriegen behinderten (Loquai 2003). Fehlinformationen und die Weigerung, das Scheitern von militärischen Einsätzen zuzugeben, werden auch für andere Einsätze beschrieben: Somalia 1994: „Das Engagement in Somalia war fehlgeschlagen. Dennoch tat die Politik, als sei man erfolgreich gewesen. ... Für die Bundesrepublik rechnet sich die ‚Erfolgsbilanz’ nach einem Jahr Einsatz und mehr als 380 Millionen D-Mark folgendermaßen: knappe vier Millionen Liter Wasser aufbereitet, sieben Brunnen gebohrt und drei Straßen ausgebessert. ... Heute sind dort Brunnen zerstört oder vermint, auf den Straßen patrouillieren marodierende Banden und das aufbereitete Wasser ist längst getrunken“ (Lindemann 2010, 186-187). Afghanistan 2001-2014: „Für die internationale Staatengemeinschaft, auch für das Heer der Staatsbeamten, besteht Afghanistan nur aus Kabul. ... sie werden dort (am Flughafen M.M-B.) abgeholt, in Quartieren untergebracht, die den europäischen gleichen. Dann sind sie nach ein paar Monaten zwar gerade mal zehn Kilometer außerhalb von Kabul gewesen, ... dennoch aber meinen sie, jetzt Afghanistan zu kennen“ (Neudeck 2003, 45-46).
17 Der polnische Diplomat Karski (2011) beschreibt, wie er vergeblich versuchte, die Alliierten dazu zu bewegen, den Holocaust zu stoppen. Er wurde zwar von Churchill und Roosevelt empfangen, musste aber erkennen, dass niemand etwas vom Judenschicksal wissen wollte. Dass die Zufahrtswege zu den KZs und deren Krematorien nicht bombardiert wurden, ist wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass unterschiedliche Interessen und Faktoren zusammenfielen und sich gegenseitig verstärkten. Churchills Motiv soll die Angst vor jüdischen Flüchtlingen gewesen sein, insbesondere vor ihrer massenhaften Einwanderung nach Palästina, das englisches Mandatsgebiet war. Ein militärstrategisches Motiv könnte gewesen sein, dass die Judentransporte die Kapazitäten für den Nachschub an die Ostfront blockierten und damit die Wehrmacht schwächten. Die Befreiung der KZs begann ein Jahr vor Kriegsende mit der Befreiung von Majdanek am 23. Juli 1944 durch die Rote Armee. Das Morden ging aber in den anderen Vernichtungslagern weiter und selbst nach der Befreiung von Auschwitz am 27. Januar 1945 starben bis zum 8. Mai 1945 noch Hunderttausende auf den Todesmärschen.
Gerettet wurden Juden dagegen durch zivile Aktionen wie zum Beispiel die Rettung der dänischen Juden durch die Be-völkerung in Dänemark (Pundik 1995), die Aktionen des Unternehmers Oskar Schindler. (http://www.judentum-projekt.de/geschichte/nsverfolgung/rettung/schindler.html) oder auch der Protest der Frauen gegen die Deportation ihrer jüdischen Ehemänner in der Rosenstraße in Brlin (https://de. wikipedia.org/wiki/Rosenstraße-Protest).
Die Weigerung Hitlers, 1944 über einen Waffenstillstand zu verhandeln, ist nicht das einzige Beispiel für die sinnlose Verlängerung eines Krieges, weil eine Kriegspartei den Dialog verweigert: Ablehnung eines Verständigungsfriedens der deutschen Generäle 1917; Ignorieren der japanischen Kontaktbemühungen 1945 (siehe Anmerkung 4); Weigerung der Opposition und ihrer Verbündeten, im Syrienkrieg mit Assad zu verhandeln.
18 Zum Beispiel das Ultimatum Österreichs an Serbien vom 23. Juli 1914 (Hirschfeld/Krumeich 2013, 38) oder das Ultimatum Präsident Roosevelts an Japan im November 1941 (Beard 1948).
19 Schröder 2006, 84.
Obgleich bei allen Meinungsumfragen die Mehrheit der Bevölkerung Kriege ablehnt, scheint das Kriegführen die Chancen, wiedergewählt zu werden, nicht zu beeinträchtigen. 2002 wurde die Rot-Grüne Koalition wiedergewählt, nachdem sie 1999 den Kosovokrieg befürwortet und 2001 dem Afghanistaneinsatz zugestimmt hatte. Ähnlich wurde Thatcher 1983 nach dem Falklandkrieg trotz rigorosem Sozialabbau und der Zerschlagung der Gewerkschaften mit 43,5% wiedergewählt. Auch der US-amerikanische Präsident Bush wurde 2004, nachdem er den Afghanistan- und Irakkrieg begonnen hatte, mit mehr Stimmen als bei seiner Wahl 2000 wiedergewählt.
20 Goodhand (2006) analysierte die Arbeit von NGOs in bewaffneten Konflikten. Sein Fazit ist, dass die Arbeit von NGOs überbewertet wird: Es fehle die Kontinuität. Helfer wollten innergesellschaftliche Prozesse von außen kontrollieren und es bestehe die Gefahr, dass die Arbeit von NGOs für Interessen von lokalen Warlords oder internationalen Machtblöcken missbraucht wird. Kritik übt auch der Gründer von Cap Anamur Rupert Neudeck (2003): Die Entwicklungshilfe ist zufrieden, wenn sie die eigenen Bataillone für die Beratung der nichtsnutzigen Ministerien einsetzt und Residenzen und Bürogebäude nach deutschem Standard in Kabul hochzieht. Übrigens immer mit deutschem Mobiliar, wie ich mich in den neugebauten Diplomatenquartieren überzeugen konnte (52). Anstatt den Rückkehrern in Afghanistan Baumaterialien zur Verfügung zu stellen, damit sie in ihren Heimatdörfern die zerstörten Häuser wieder aufbauen können, sammelt man sie in Lagern und macht sie damit hilflos. „So gibt es in Herat, wohin ich im Mai 2003 gekommen bin, mehrere Flüchtlingslager, obwohl die Dörfer mit ihren Ruinen auf den Wiederaufbau warten und das Lager kostet organisationstechnisch sicher mehr als der Wiederaufbau der kleinen Lehmhäuser in den Dörfern um Herat kosten würde“ (123).
21 Goethe Faust, Vers 860-867
Sicherheitsillusionen
22 Werlhof 2009, 148-149
23 Im Kapitel VI sind viele Stufen der friedlichen Beilegung aufgeführt (Artikel 33-38). Im Artikel 37, Absatz 2 wird die Entscheidung, welche Maßnahmen zu ergreifen sind, also auch der Einsatz militärischer Mittel nach Kapitel VII, Artikel 42, dem Sicherheitsrat anheim gestellt: „(2) Könnte nach Auffassung des Sicherheitsrats die Fortdauer der Streitigkeit tatsächlich die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit gefährden, so beschließt er, ob er nach Artikel 36 tätig werden oder die ihm angemessen erscheinenden Empfehlungen für eine Beilegung abgeben will.“ Dieses tat der Sicherheitsrat in der Resolution 1368 vom 12. September 2001. Er berief sich darauf, dass der Terrorismus eine Gefahr für den Weltfrieden ist und legitimierte damit die Anwendung von militärischen Mitteln nach Kapitel VII. (Einsatz von Luft-, See- oder Landstreitkräften, die der UNO von den Mitgliedsstaaten zur Verfügung gestellt werden) gegen Afghanistan.
24 Ein Beispiel für dieses Problem ist die sogenannte Kundus-Affäre. Am 4. September 2009 gab der Oberst Klein in Kundus den Befehl zur Bombardierung von zwei Tanklastern. Dabei kamen über 100 afghanische Zivilisten um. Bis heute ist es strittig, ob der Freispruch für den Oberst gerechtfertigt war. (http://www.n-tv. de/politik/dossier/Die-Kundus-Affaere-article837486.html 4.11.2017; https://www. stern.de/investigativ/projekte/ruestungundmilitaer/oberst-klein-und-sein-toedlicher-befehl-die-akte-kundus-3524588.html 4.11.2017)
25 Graduated and reciprocated initiatives in tension reduction (GRIT) ist ein Modell, wonach durch einseitige Initiativen (z.B. durch einseitige Abrüstung bei gleichzeitiger Aufforderung an den Gegner, Gleiche zu tun) Schritt für Schritt eine Atmosphäre gegenseitgen Vertrauens zwischen den Gegnern geschaffen wird (Osgood 1962).
26 Die Gleichsetzung von NATO und UNO bezieht sich auf Artikel 1 des Nordatlantikvertrages vom 4. April 1949: „Die vertragschließenden Staaten verpflichten sich, gemäß den Bestimmungen der Charta der Vereinten Nationen jeden internationalen Streitfall, an dem sie beteiligt sein mögen, durch friedliche Mittel in der Weise zu regeln, dass Frieden, Sicherheit und Gerechtigkeit unter den Völkern nicht gefährdet werden, und sich in ihren internationalen Beziehungen jeglicher Drohung oder Gewaltanwendung zu enthalten, die in irgendeiner Weise mit den Zielen der Vereinten Nationen nicht vereinbar ist.“ Auch wenn die NATO während des Kalten Krieges keine Kriege geführt hat, war ihre Struktur von Anfang an die eines Militärbündnisses und nicht die eines kollektiven Sicherheitssystems. Wie jede militärische Institution ist sie nicht demokratisch sondern hierarchisch strukturiert. In einem Konflikt ist sie nicht neutral sondern Partei, weil es ihre Aufgabe ist, die Interessen ihrer Mitglieder notfalls mit militärischen Mitteln zu verteidigen. Der Einfluss der USA ist dadurch gewährleistet, dass der Supreme Allied Commander Europe, der alle militärischen Einsätze der NATO leitet, bis heute immer ein US-amerikanischer General ist. Auch die UNO ist nur bedingt ein kollektives Sicherheitssystem, unter anderem wegen dem Vetorecht der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates, dem individuellen und kollektiven Selbstverteidigungsrecht der einzelnen Staaten oder Staatengruppen und der fehlenden rechtlichen Kontrolle des UN-Sicherheitsrates (Deiseroth 2010, 37-39)
27 Lakoff 2004, XIII. Psychologisch gesehen sind Frames oder Schemata früh gebildete Denkstrukturen, die die spätere Wahrnehmung beeinflussen. Sie verweisen mithilfe des von ihnen konstituierten Begriffssystems auf die gemeinsam geteilte Realität. Sie ermöglichen damit konsistentes, für die Umwelt nachvollziehbares Handeln. Die damit gebildeten Wissenssysteme sind stabil und erlauben das Übertragen von Erkenntnissen und Handlungsstrategien auf immer neue Situationen (Müller-Brettel 2017).
28 Longerich (2006) nennt die „Endlösung“ ein offenes Geheimnis. In seiner Analyse von Zeitungen und Dokumenten aus der Zeit des Nationalsozialismus kommt er zu dem Schluss, dass die nationalsozialistische Führung die Existenz von KZs ebenso wie die Judenvernichtung zwar nicht besonders propagierte, aber auch nicht geheim hielt. Informationen darüber waren also für jeden deutschen Bürger und jede Bürgerin zugänglich gewesen.
29 Müller-Brettel 1995, 167-174
30 Der Physiker und Philosoph Friedrich von Weizsäcker (1912-2007), der während des Zweiten Weltkrieges gemeinsam mit Heisenberg atomare Forschung betrieben hat, gesteht am Ende seines Lebens: „Es war der träumerische Wunsch, wenn ich einer der wenigen Menschen bin, die verstehen, wie man eine Bombe {Atombombe, Anm. MM-B} macht, dann werden die obersten Autoritäten mit mir reden müssen“ (Hoffmann 1993, 338)
31 Zivile Friedensstrategien versuchen, ohne militärische Gewalt Frieden zu sichern. Dabei müssen Friedenssicherung (Kontrolle der Akteure, um weitere Gewalt zu verhindern), Friedensstiftung (Suche nach einer Verhandlungslösung) und Friedenskonsolidierung (Versöhnung, Wirtschaftliche Entwicklung und politische Maßnahmen wie Wahlen, freie Presse, Menschenrechte) gemeinsam und gleichzeitig angewendet werden (Schweitzer 2004, 518). Ansätze sind aus konkreten Widerstandsbewegungen entstanden wie der indischen Befreiungsbewegung unter Gandhi (Gütekraft), der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung Martin Luther Kings (Nonviolence) und der gewaltfreien Proteste der 68er Bewegung (Gewaltfreie Aktion). Analysen und Fallstudien zu Bedingungen, Formen und Grenzen ziviler Konfliktbearbeitung siehe Ebert 2011; Müller 1995; Vüllers/Destrade 2015; Barash/Webe 2014, 617-646. Für die politische Praxis entwickelte das Monitoring-Projekt für Zivile Konfliktbearbeitung, Gewalt- und Kriegsprävention Alternativen zu militärischen Interventionen in Afghanistan, Syrien, Mali, der Ukraine, im Irankonflikt, in den Konflikten zwischen der Türkei und den Kurden und zwischen Israel und Palästina. (http://www. koop-frieden.de/sub/das-monitoring-projekt.html 4.11.2017)
Das 1996 gegründete Forum Ziviler Friedensdienst in Köln bildet Friedensfachkräfte aus und führt Projekte in Nahost, auf dem westlichen Balkan und in Südostasien durch. (http://www.forumzfd.de 4.11.2017)
32 Forschungen der ABC-group am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung wiesen nach, dass einfache Faustregeln, sogenannte simplen Heuristiken, oft zu besseren Ergebnissen führen als aufwändige Analysen. Die Konzentration auf nur einen Reiz (one cue heuristic), das Wählen von Dingen, die man kennt (recognition heuristic) oder die einem ins Auge springen (take the best), das Lernen von Anderen (learning from others) und das Befolgen von Regeln (default heuristic) ermöglichen schnelle Entscheidungen, ersparen langes Suchen, bewahren vor Fehlern und führen meist zu hinreichend befriedigenden Ergebnissen. Sie ermöglichen effiziente und rasche Entscheidungen unabhängig von ihrer Komplexität (Gigerenzer 2015). Simple Heuristiken versagen allerdings in Situationen, in denen neue Lösungen gefunden werden müssen, die ein Umdenken, ja das von Gorbatschow geforderte Neue Denken erfordern. Alternativen zu militärischen Konfliktlösungen benötigen viel Zeit, Geduld und das Abwägen möglichst vieler Faktoren. Rasche einfache Lösungen wie das Zerschlagen des gordischen Knotens schaffen keinen stabilen Frieden. Diplomatische Entscheidungen können nicht aufgrund nur eines Kriteriums wie bei der one cue Heuristik gefällt werden. Ähnlich hemmend für nichtmilitärische Lösungen internationaler Konflikte erweist sich die Recognition Heuristik: In der zehntausendjährigen Zivilisationsgeschichte war das Führen von Kriegen eine bekannte Lösung für äußere und innere Konflikte. Die Heuristik take the best wiederum ist wenig hilfreich bei der Vermeidung eines Krieges, wenn in einer Gesellschaft das Militär dem Zivilen gegenüber als moralisch überlegen gilt, Stärke und Macht belohnt und Schwäche und Abhängigkeit gering geschätzt, sowie Heldentum und Opferbereitschaft glorifiziert werden. Ähnlich dysfunktional ist die Heuristik learning from others. Wenn starke Imperien wie das Römische und das Reich Karls des Großen als Vorbilder gelten, bedeutet von anderen lernen, Krieg führen lernen. Auch die default Heuristik steht der Ächtung von Kriegen entgegen, so lange Krieg als ein legitimes Mittel der Politik gilt.
33 Leukefeld 2015
Soldatenberuf
34 Berichte und Aufzeichnungen von Soldaten zeigen, wie sich im Krieg Wahrnehmung, soziales Verhalten, moralische Werte und Motivationen verändern, unabhängig davon, ob sie aus den Weltkriegen oder heutigen Kriegen stammen. Sie dokumentieren, wie der Krieg die Art und Weise der Befriedigung grundlegender Bedürfnisse wie Essen, Sexualität, zwischenmenschliche Bindungen und das Bedürfnis nach Spiel und Spaß ändert, ja pervertiert.
Wahrnehmung: Für Soldaten werden Felder und Wälder ebenso wie Dörfer zu reinen Gefechtsdingen: „ihre wesentlichen Eigenschaften sind die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, sie vom Feinde aus einzusehen, der Schutz, den sie gegen Infanterie- und Artilleriewirkung geben, ihre Eigenschaften als Schussfeld, die Anzahl und Verteilung besonders geschützter und besonders gefährdeter Stellen“ (Lewin 1982, 320).
Körperliche Strapazen: „Über Müdigkeit, Fluchtgedanken und Verlangen nach Schlaf, über Hunger und Kälte reichte mein Leben und Denken nicht mehr hinaus“ (Reese 2004, 63). Märsche und Übungen dienen dazu, den körperlichen Erschöpfungszustand nicht mehr als individuelles körperliches Signal zu empfinden, man darf sie nicht mehr spüren, denn man marschiert nicht für sich, sondern für die Truppe. „Er darf hier nicht schlappmachen. .. Dazu hat er nicht das Recht. ... Gute Führer wissen, dass Erschöpfung zum Teil ein Geisteszustand ist und dass die Männer, die ihr nachgeben, auf einer bestimmten Ebene die Entscheidung getroffen haben, sich über alle andern zu stellen. Wer nicht bereit ist, für andere zu marschieren, ist ganz sicher nicht bereit, für sie zu sterben ...“ (Junger 2010, 98).
Soziale Bindungen: „Über Sinn und Unsinn des deutschen Afghanistan-Einsatzes wird in der Truppe in aller Regel nicht mehr gesprochen. Wenn die eigene Einheit in das Land am Hindukusch verlegt wird, will man dabei sein und die anderen nicht im Stich lassen. ... Würden wir uns jetzt zurückziehen und Afghanistan sich selbst und damit den Taliban überlassen, wären alle bisher gebrachten Opfer umsonst gewesen. Es ist eben nicht das Sterben an sich, was falsch ist. Es ist das sinnlose Sterben!“ (Lindemann 2010, 18). „Ich war Teil einer Einheit – ich war Teil von etwas, dem viele Menschen gerne angehören würden“ (Gourevitch/Morris 2009, 141). Verführerisch am bewaffneten Kampf und anderen ‚Deep Games’ ist unter anderem dass sie so komplex sind und es sich beim besten Willen nicht voraussagen lässt, wie sie ausgehen. ... aus dieser Ungewissheit erwächst die extreme Verbindung zwischen den Männern. ... die gemeinsame Verpflichtung, das Leben des anderen zu schützen, ist unverbrüchlich und wird mit der Zeit nur noch verlässlicher. ... Loyalität gegenüber der Gruppe trieb die Männer in den bewaffneten Kampf – und gelegentlich auch in den Tod - , aber die Gruppe bot auch die einzige psychologische Rückzugsmöglichkeit aus dem Horror dessen, was sich abspielte“ (Junger 201, 285). Es lässt sich eine tiefe Genugtuung aus der gegenseitigen Übereinkunft schöpfen, zum Schutz einer anderen Person das eigene Leben einzusetzen. Der bewaffnete Kampf ist so gut wie die einzige Situation, in der dies regelmäßig geschieht. „Im Kampf fühlen sich Männer zwar nicht lebendig wie nie – das können sie beim Fallschirmspringen intensiver haben – aber von Nutzen wie nie. Hier können sie ihr Leben für andere einsetzen.“ (Junger 2010, 279). „Könnte der Mensch einen Zustand finden, in dem er müßigginge und doch dabei das Gefühl hätte, ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu sein und seine Schuldigkeit zu tun, dann hätte er damit ein Stück der ursprünglichen Glückseligkeit wiedergefunden. Und eines solchen Zustandes, in welchem der Müßiggang pflichtmäßig ist und keinem Tadel unterliegt, erfreut sich ein ganzer Stand: der Militärstand“ (Tolstoi 1984, 129).
Spiel und Spaß: „Wir trieben unseren Spott mit Tod und Gefahr, verzerrten die Dinge und jagten alle Gedanken ins Groteske hinein. Wie Knabenstreiche machten wir unsere Spähtrupps zum Brunnen und wollten die Russen ärgern, indem wir Stahlhelme über den Grabenrand spazieren trugen” (Reese, 182). „Fast nichts von dem, was das Leben daheim lebenswert macht, ist in Restrepo (Einsatzort im afghanischen Korrengal-Tal, Anm. MM-B) vorhanden, und daher muss sich die gesamte Bandbreite des Selbstwertgefühls eines jungen Mannes in der ruppigen Choreografie eines Feuergefechts spiegeln. ... Es ist der ultimative Test, und manche Männer sorgen sich, dass sie sich nach den vielen bewaffneten Kämpfen, an denen sie teilgenommen hatten, nie wieder mit dem‚normalen Leben’ – was auch immer das ist – zufrieden geben können. ’Ich mag die Feuergefechte’, gestand mir O’Byrne einmal” (Junger 2010, 188). „Die Langeweile ist so brutal, dass die Männer unverhohlen auf einen Angriff hoffen. (Junger 2010, 265).
Moral: “Ich habe soviel Großes, Schönes, Grässliches, Gemeines, Brutales, Entsetzliches und Grausames gesehen, dass ich wie alle ganz abgestumpft bin. Menschen sterben zu sehen, stört einem kaum noch den Genuss eines Kaffees ...“ (Messer 1915, Fn 229). Ich „sah den russischen Kriegs-gefangenen bei ihrer Arbeit zu. ... Jede Bewegung geschah träge, widerwillig, und die Wächter fluchten, schlugen sie mit Stöcken und den Kolben ihrer Gewehre. Ich fühlte keinen Zorn über die Misshandlung der Wehrlosen und kein Mitleid mit ihnen. Ich sah nur ihre Faulheit und ihren Trotz ... mein eigenes Schicksal füllte mich vollständig aus ... (Reese 2004, 48). „Die moralische Grundlage des Krieges scheint Soldaten nicht sonderlich zu interessieren, und ob sich auf lange Sicht Erfolg oder Verlust einstellen, hat fast keine Relevanz. Soldaten machen sich über diese Dinge ungefähr so viele Gedanken, wie Landarbeiter sie über die Weltwirtschaft verschwenden ...“ (Junger 2010, 38).
Motivationen: Ein britischer Elitesoldat, schreibt in seiner Biografie, dass für ihn die Einsätze in Afghanistan in den 1980er Jahren nichts anderes waren als ein anspruchsvoller, interessanter Job. Trotz mehrmaliger Verwundung schreibt er im Epilog „... aber mittlerweile ging meine in der Armee verbrachte Zeit zu Ende: 22 vergnügungsreiche Jahre waren vorüber” (Carew 2001, 251). Ein US-Soldat, dessen Einheit unter Dauerbeschuss der Taliban stand, meinte, sie würden sich nach ihrer Militärzeit nicht betrinken, weil sie so viel Schlimmes erlebt hätten, sondern weil sie all die guten Dinge von ihren Kriegseinsätzen im Zivilleben vermissten. (Grazia 2010, 134). „Meine Zeit in der Bundeswehr gehört zu den schönsten Abschnitten meines Lebens. ... Insbesondere danke ich all meinen Kameraden aus den Einsätzen für die gemeinsamen Monate in Afghanistan” (Lindemann 2010, 282).
35 Sozialpsychologische Experimente zeigen, dass „die Macht der Situation“ ganz normale Menschen dazu bringt, sich grausam zu verhalten. Milgram-Experiment: Nur sehr wenige Versuchspersonen weigerten sich, auf Anweisung des Versuchsleiters Probanden schmerzhafte Stromstöße zu versetzten (Milgram 1974). Stanford-Prison-Experment: Studenten wurde per Zufall die Rolle eines Gefangenen oder eines Wärters zugewiesen. Die Gefangenen verbrachten 24 Stunden, die Wärter 8 Stunden am Tag in einer simulierten Gefängnissituation. Die zuvor gesunden und friedlichen Studenten verhielten sich als Wärter aggressiv, zum Teil sadistisch, und als Gefangene pathologisch. Das Experiment musste vorzeitig abgebrochen werden (Haney/Zimbardo 1977).
36 Stiglitz/Bilmes 2008
37 Medien sind ein Bindeglied zwischen der Politik und der Bevölkerung. Um ein Transmissionsriemen zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Politik und Bürgerschaft zu sein, müssen Medien auch soziale und emotionale Bedürfnisse befriedigen (Luostarinen 1998, 147). Das tägliche Zeitungslesen ist ein Ritual, das Gemeinschaft schafft. Journalismus ist eine Form geteilter Erfahrung. Das Lesen der Zeitung wird „in zurückgezogener Privatheit vollzogen, ... aber jedem Leser ist bewusst, dass seine Zeremonie gleichzeitig von Tausenden (oder Millionen) anderer vollzogen wird, von deren Existenz er überzeugt ist, von deren Identität er jedoch keine Ahnung hat” (Anderson 1996, 41). Nachrichten und Tageszeitungen erzeugen durch das Wiederholen von Meldungen in einem bestimmten zeitlichen Rhythmus ein Gefühl des Dazugehörens durch Bescheid Wissen. Zudem bewirken die vielen Wiederholungen, dass, wie Experimente gezeigt haben, Meldungen selbst dann geglaubt werden, wenn sie zuvor als falsch bezeichnet wurden (Mausfeld 2015, 5). Dadurch gewinnt die für alle Massenmedien typische Redundanz ihren Sinn. Massenmedien konstruieren nicht selten ihre eigene Realität: Im Büro der Hezbi-Islami in Peshawar wurde der Gründer von Cap Anamur gefragt: „‚Sollen wir für Sie auch einen kleinen Krieg vorbereiten?’ ... vor allem amerikanische Fernsehteams wünschten sich derlei makabre Inszenierungen” (Neudeck 2003, 12). Ähnlich beschreibt Erös, wie einer seiner afghanischen Mitarbeiter für den Chefreporter einer großen Illustrierten eine Bombenexplosion inszenierte (Erös 2005, 175-182).
Allerdings gibt es auch viele Journalistinnen und Journalisten, die sich für eine objektive Berichterstattung und Aufklärung engagieren. Um Medien für den Friedenserhalt einzusetzen, wurden folgende Kriterien für einen Friedensjournalismus entwickelt: Alle Beteiligte zu Wort kommen lassen und humanisieren; die Interessen und Beweggründe aller Konfliktparteien darstellen; Propaganda, Unwahrheiten ebenso wie Gräueltaten und Leid aller Seiten thematisieren und asymmetrische Kräfteverhältnisse nicht ausblenden; nicht den Gegner, sondern den Krieg als Problem darstellen; versöhnungsbereite politische Eliten und Bevölkerungssegmente zu Wort kommen lassen (Haydt 2015, 12).
38 Lysistrate ist eine Komödie von Aristophanes. Sie spielt während des peloponnesischen Krieges. Die griechischen Frauen besetzen die Akropolis und sind erst bereit, in die Häuser zurückzukehren, wenn zwischen Athen und Sparta Frieden herrscht.
Literatur
Anderson, Benedict 1983: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Frankfurt a.M.: Campus
Barash, David P./Webel, Charles P. 2014: Peace and conflict studies. Los Angeles: Sage
Beard, Charles Austin 1948: President Roosevelt and the Coming of the War, 1941. A Study in Appearances and Realities. New Haven: Yale University Press
Bloch, Jan van 1899: Der Krieg. Der zukünftige Krieg in seiner technischen, volkswirtschaftlichen und politischen Bedeutung. Berlin
Carew, Tom 2001: In den Schluchten der Taliban. Bern: Scherz
Deiseroth, Dieter 2010: Das Friedensgebot des Grundgesetztes und der UN-Charta – aus juristischer Sicht. In Becker, Peter/Braun, Reiner/Deiseroth, Dieter (Hrsg.): Frieden durch Recht? Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag, 35-61
Die 'Erklärung von Sevilla' 1993. In Galtung, Johan (Hrsg.): Gewalt im Alltag und in der Weltpolitik. Münster: agenda, 224-227
Dörner, Dietrich 1995: Die Logik des Misslingens. Strategisches Denken in komplexen Situationen. Reinbek: Rowohlt
Ebert, Theodor 2011: Lexikalisches Stichwort ‚Gewaltfreie Aktion’. In Steinweg, Reiner/Laubenthal, Ulrike (Hrsg.): Gewaltfreie Aktion. Erfahrungen und Analysen. Frankfurt a.M.: Brandes & Apsel, 159-168
Erler, Gernot 2009: Mission Weltfrieden. Deutschlands neue Rolle in der Weltpolitik. Freiburg: Herder
Erös, Reinhard 2005: Tee mit dem Teufel. Als deutscher Militärarzt in Afghanistan. Hamburg: Hoffmann und Campe
Gerlach, Christian 2011: Extrem gewalttätige Gesellschaften. Stuttgart: DVA
Gigerenzer, Gerd 2015: Simply Rational: Decision Making in the Real World. New York: Oxford University Press
Goodhand, Johathan 2006: Aiding Peace? The Role of NGOs in Armed conflict. Bradford: Intermediate Technology Publications
Gourevitch, Philip/Morris, Errol 2009: Die Geschichte von Abu Ghraib. München: Hanser
Grazia, Giuseppe di 2010: Unter Kriegern. In Stern 45/2010, 124-136
Haid, Michael 2011: Die „Responsibility to Protect“. Kriegslegitimation unter Missbrauch der Menschenrechte? In Ausdruck 9,4 http://ww.imi-online.de/2011/08/08/ die- responsibility-t/ 4.11.2017
Haney, Craig/Zimbardo, Philip G. 1977: The Sozialization into Criminality: On Becoming a Prisoner and a Guard. In Tapp, June Louin/Levine, Felice J. (Hrsg.): Law, Justice and the Individual in Society: Psychological and Legal Isssues. New York: Holt, 198-223
Haydt, Claudia 2015: Medien und Konflikteskalation. In Haydt, Claudia/ Kulow, Karin/ Leukefeld, Karin/Sommer, Gert: Feindbilder und Konflikteskalation. Beilage zu Wissenschaft und Frieden, 4-2015
Heraklit 1986: Fragmente. Griechisch und Deutsch, München: Artemis & Winkler
Hirschfeld, Gerhard/Krumeich, Gerd 2013: Deutschland im Ersten Weltkrieg. Frankfurt a.M.: Fischer
Hoffmann, Dieter 1993: Operation Epsilon: Die Farm-Hall-Protokolle oder die Angst der Alliierten vor der deutschen Atombombe. Berlin: Rowohlt
James, William 1910: The moral equivalent of war. In The Popular Science Monthly 77, 400-412
Janis, Irving Lester 1983: Groupthink. Psychological Studies of Policy Decisions and Fiascoes. Boston: Houghton Mifflin
Junger, Sebastian 2010: War. Ein Jahr im Krieg. München: Karl Blessing
Karski, Jan 2011: Mein Bericht an die Welt. Geschichte eines Staates im Untergrund. München: Kunstmann
Lakoff, George 2004: Don’t Think of an Elephant! Know your Valuse and Frame the Debate. The essential guide for progressives. Vermont: Chelsea Green
Leukefeld, Karin 2015: Flächenbrand. Syrien, Irak, die Arabische Welt und der Islamische Staat. Köln: PapyRossa
Lewin, Kurt 1982: Kriegslandschaft. In Graumann, Carl-Friedrich (Hrsg.): Kurt-Lewin-Werkausgabe, Band 4: Feldtheorie. Bern: Huber, 315-325
Lindemann, Marc 2010: Unter Beschuss. Warum Deutschland in Afghanistan scheitert. Berlin: Econ
Longerich, Peter 2006: „Davon haben wir nichts gewusst!“ Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933-1945. München: Siedler
Loquai, Heinz 2000: Der Kosovo-Konflikt – Wege in einen vermeidbaren Krieg. Die Zeit von Ende November 1997 bis März 1999. Baden-Baden: Nomos
Loquai, Heinz 2003: Weichenstellungen für einen Krieg. Internationales Krisenmanagement und die OSZE im Kosovo-Konflikt. Baden-Baden: Nomos
Luostarinen, Heikki 1998: Die Konstruktion nationaler Identitäten in den Medien. Einführung in ein Forschungsprojekt. In Kempf, Wilhelm/Schmidt-Regener, Irena (Hrsg.): Krieg, Nationalismus, Rassismus und die Medien. Münster: LIT, 143-148
Mausfeld, Rainer 2015: Warum schweigen die Lämmer. Demokratie, Psychologie und Techniken des Meinungs- und Empörungsmanagements. https://www. youtube.com/watch?v=Rx5SZrOsb6M 4.11.2017
Messer, August 1915: Zur Psychologie des Krieges. In Preußische Jahrbücher 159, 216-232.
Milgram, Stanley 1974. Das Milgram-Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität. Reinbek: Rowohlt
Moore, Joan W./Moore, Burton M. 1958: The role of the scientific elite in the decision to use the atomic bomb. In Social Problems 6,1, 78-85
Müller, Barbara 1995: Passiver Widerstand im Ruhrkampf: Eine Fallstudie zur gewaltlosen zwischenstaatlichen Konfliktaustragung und ihren Erfolgsbedingungen. Münster: Lit
Müller, Manfred 2011: Entscheidung in Potsdam. Ein dokumentarischer Bericht über den Einsatz der Atombombe. Potsdam: Universitätsverlag
Müller-Brettel, Marianne 1995: Frieden und Krieg in der psychologischen Forschung. Historische Entwicklungen, Theorien und Ergebnisse. Berlin: Max-Planck-Institut für Bildungsforschung
Müller-Brettel, Marianne 2004: Der Krieg und die Kultur. Eine evolutionspsychologische Perspektive. In Wissenschaft und Frieden 23,2, 52-53
Müller-Brettel, Marianne 2017: Die Bedeutung kognitiver Mechanismen für die Kriegsakzeptanz vor und im Ersten Weltkrieg. Ein systemischer Ansatz. http.//www. mueller-brettel.de/Müller-Brettel%20-%20Kognitionen% 20der%20Kriegsakzeptanz.pdf 4.11.2017
Neudeck, Rupert 2003: Jenseits von Kabul. Unterwegs in Afghanistan. München: C.H. Beck
Osgood, Charles E. 1962: Graduated unilateral initiatives for peace. In Wright, Quincy/Evans, William M./Deutsch Morton (Hrsg.): Preventing World War III: Some proposals. New York: Simon and Schuster, 161-177
Pinker, Steven 2011: Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit. Frankfurt a.M.: S. Fischer
Ploetz, Carl (Hrsg.) 1998: Der große Ploetz. Die Daten-Enzyklopädie der Weltgeschichte. Daten, Fakten, Zusammenhänge. Freiburg: Komet
Pundik, Herbert 1995: Die Flucht der dänischen Juden 1943 nach Schweden. Husum: Husum
Reese, Willy Peter 2004: Mir selber seltsam fremd. Russland 1941-1944. Berlin: List
Schröder, Gerhard 2006: Entscheidungen. Mein Leben in der Politik. Hamburg: Hoffmann und Campe
Schweitzer, Christine 2004: Zivile Intervention. In Sommer, Gerd/Fuchs, Albert (Hrsg.): Krieg und Frieden. Handbuch der Konflikt- und Friedenspsychologie. Weinheim Beltz, 508-522
Selten, Reinhard 2001: What is Bounded Rationality? In Gigerenzer Gerd/Selten, Reinhard (Hrsg.): Bounded Rationality. The Adaptive Toolbox. Cambrige: MIT Press, 13-36
Sémelin, Jacques 2007: Säubern und Vernichten. Die Politik der Massaker und Völkermorde. Hamburg: Hamburger Edition
Staub, Ervin 1989: The roots of evil. The origins of genocide and other group violence. Cambridge: University Press
Steininger, Rolf 1985: Eine Chance zur Wiedervereinigung? Die Stalin-Note vom 10. März 1952. Bonn: Neue Gesellschaft
Stiglitz, Joseph/Bilmes, Linda 2008: Die wahren Kosten des Krieges. Wirtschaftliche und politische Folgen des Irak-Konflikts. München: Pantheon
Tolstoi, Leo N. 1984: Krieg und Frieden. Teil III. Frankfurt a.M.: Insel
Tuchman, Barbara 1996: Die Torheit der Regierenden. Von Troja bis Vietnam. Frankfurt a.M.: Fischer
Vüllers, Johannes/Destrade, Sandra 2015: Gewaltfreie Widerstandsbewegungen und ihre Erfolgsbedingungen – Eine Übersicht der neueren englischsprachigen Forschungsliteratur. In ZeFKO 4,1, 115-146
Weiner, Tim 2008: CIA. Die ganze Geschichte. Frankfurt a.M.: S. Fischer
Welzer, Harald 2005: Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden. Frankfurt a.M: S. Fischer
Werlhof, Claudia von 2009: Auf dem Weg zur post-patriarchalen Zivilisation. Zu einem neuen Paradigma. In Widerspruch 57, 147-152
ZFD 2008: Die Zeit heilt meine Wunden nicht. Kriegstrauma und Versöhnung im ehemaligen Jugoslawien. Bonn: Ziviler Friedensdienst (DVD mit Begleitheft)