In der Wendezeit hatten wir unsere Westberliner Wohnung aufgegeben und ein Häuschen im Brandenburgischen gekauft. Schon in der ersten Woche bekamen wir Besuch. Der Mann trug einen
etwas zu großen Anzug, seine blassen Augen blickten vorwurfsvoll, und die lederne Aktentasche war prall gefüllt: mit Prospekten und Broschüren.
Ich wollte mich als freundlichen Wessi zeigen, bat ihn Platz zu nehmen und ließ ihn reden. Er empfahl mir, meine Ersparnisse bei einem Schweizer Fonds anzulegen, dessen Vertreter er sei. Ich
bekäme einen Zins von 12 %. Die Banken dagegen böten nur 3 %.
„Leider haben wir nichts Erspartes“, sagte ich.
„Das macht nichts“, meinte er. „Nehmen Sie doch eine Hypothek auf das Haus.“
„Das haben wir schon“, sagte ich.
„Na, dann eben noch eine zweite“, sagte er.
Es kam zu keinem Abschluss und als er beim Einpacken der Broschüren war, sagte er leise, aber so, dass ich es gut hören konnte: „Wissen Sie, wie die Vereinigung wirklich war? Man hat Honecker
gesehen, wie er in die amerikanische Botschaft ging und mit einem Aluminiumkoffer herauskam. Er hat die DDR an die Amerikaner verkauft.“
Und dann verließ er mich mit dem Gesichtsausdruck eines Mannes, der die Last eines weltpolitischen Geheimnisses auf den Schultern trägt.
Heute Vormittag bekam ich am vom Eiswagen-Fahrer die bestellte Tiefkühlware. Als ich die Verteuerung der Ware kritisierte, sagte er: „Ja, alles wird teurer, das liegt an den Kriegstreibern, den
Amerikanern.“
Ich sagte: „Fakt ist doch, einmarschiert sind die Russen.“
Worauf er sagte: „Das sind keine Russen, sondern als Russen verkleidete Amerikaner.“
Und ich, ziemlich von oben herab: „Soso. Dann kämpfen also die Ukrainer gegen die Amerikaner?“
Sein Gesicht kam meinem so nahe, dass ich seinen Atem spürte.
„Mann! Ukrainer gibt es doch gar nicht!“ sagte er. „Das sind Russen!“
Das musste ich sofort meiner Frau erzählen. Die war gar nicht überrascht.
„Du glaubst ja nie was.“ Sagte sie. „Aber ich weiß schon lange, was wirklich passiert. Die Erde steigt in eine höhere Dimension, darum das ganze Durcheinander, aber keine Angst, bald sind wir in
einer besseren Welt!“
Bei Gott, jetzt glaube ich wirklich was, und das tut richtig weh: mit mir stimmt was nicht. Wieso wissen alle, was wirklich passiert, bloß ich nicht? Ich bin doch nicht blind, oder?
Ich muss viel genauer hinsehen, denk ich. Zum Beispiel die Nacht da draußen. Die seh ich mir jetzt mal richtig an. Zur Stärkung zwischendurch einen Schnaps. So.. Noch ein Gläschen.. Ha! Ich
hab’s! Hat nicht mal zehn Minuten gedauert. Geht gleich ins Internet: Leute! Die Nacht ist gar keine Nacht. Sie ist ein Tag als Nacht verkleidet!