Die Dorfkirche soll für die Touristen eine Sehenswürdigkeit werden. Darum beschließt im Rathaus die Dorfversammlung, den Heiligen Martin zu reparieren. Es ist eine mittelalterliche Holzfigur in
der Dorfkirche. Ihr fehlt der rechte Fuß.
Da erhebt sich ein junges Mädchen und spricht: Ob man das Geld für die Reparatur nicht den Flüchtlingen schenken könne? Deren Asylantrag sei abgelehnt worden.
Das gehöre nicht zur Sache, war die Antwort, dafür sei das Sozialamt zuständig.
St. Martin im Himmel sieht das und ist nicht einverstanden. Gott erlaubt ihm, auf der Erde Gestalt anzunehmen – allerdings mit einem anderen Gesicht, doch ohne den rechten Fuß.
Und so geschieht es. Der Heilige Martin humpelt auf einer Krücke zum Pfarrer und trägt ihm seinen Wunsch vor. Man möge doch lieber den Asylanten helfen als einer alten Holzfigur!
Der Kirchenmann zeigt Verständnis, verweist aber auf das Sozialamt und dass die Asylanten ohnehin bald das Land verlassen müssen.
„Ja“, sagt der Mann, „aber wenn die Gemeinde den Flüchtlingen das Geld spendet statt für meinen Fuß, werden die Touristen kommen, ich verspreche es Ihnen."
„Sie versprechen das?“ Der Pfarrer lächelt.
„Ich bin der Heilige Martin“, sagt der Mann.
Der Pfarrer lächelt noch mehr.
„Bis auf den fehlenden Fuß haben Sie keine Ähnlichkeiten mit der Statue. Ist Ihnen das bewusst?“
„Gewiss“, sagt der Mann. „Aber ist nicht der fehlende Fuß das Entscheidende? Füße haben alle Menschen!“
„Was wollen Sie damit sagen?“ Mit halb geschlossenen Augen lauscht der Pfarrer seinen Worten nach. Dann blickt er den Mann müde an. „Ja, ich verstehe. Wir Menschen sind alle gleich. Das meinen
Sie. Aber wissen Sie, was meine Gemeinde denkt? Da ist ein dunkles Gesicht mit schwarzen Augen, und es gehört nicht zu uns, es gehört nach Afghanistan. Ich kann da nichts machen, entschuldigen
Sie.“
„Nein, ich entschuldige das nicht“, sagt der Mann und humpelt davon.
Man lässt den Fuß von einem Restaurateur anbringen. Am Tag vor der feierlichen Enthüllung erscheint der Mann erneut beim Pfarrer, diesmal ohne Krücke und er humpelt auch nicht. Der Pfarrer freut
sich für ihn, dass er eine Prothese bekommen hat. Der Mann zieht den Schuh aus. Es ist keine Prothese, sondern ein richtiger Fuß.
Der Pfarrer lächelt gutmütig und sagt: "Jaja.. Wirklich erstaunlich, was die Medizintechnik heute vermag."
Mit den Worten, ab jetzt würde man ihn nicht mehr sehen, geht der Mann davon.
Am nächsten Tag um 11 Uhr beginnt die feierliche Enthüllung der Statue. Als das Tuch fällt, ist das Podest leer: die Statue ist verschwunden.
Es heißt, ein Asylant habe die Figur gestohlen, um die Gemeinde vor aller Welt lächerlich zu machen. Sofort machen sich alle auf den Weg zum Asylantenheim.
Der Pfarrer bleibt zurück, er versteht das nicht, dann fällt er auf die Knie und bereut. Als er aufblickt, ist die Statue wieder da, aber ohne Fuß.
Da hört er Lärm im Rathaus. Er eilt in den Gemeindesaal, gerade als das Mädchen vorschlägt, auf die Reparatur zu verzichten und das Geld den Asylanten zur Verfügung zu stellen. Mit eindringlichen
Worten unterstützt er ihren Vorschlag. Man stimmt ab und es zeigt sich, der Vorschlag wurde angenommen. Das Geld bekommen die Flüchtlinge.
In den nächsten Tagen berichteten die Medien darüber unter der Titelzeile „Das Wunder des Heiligen ohne Fuß“ . Seitdem kommen von überall Menschen, um den Heiligen ohne Fuß zu besichtigen. Und
die Asylanten erhielten eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis.