Zugegeben, sein Leben war ein Desaster. Aber das war nicht schlimm, denn dafür besaß er etwas, was die meisten nicht hatten: Zeit, viel Zeit. Und die nutzte er für Träumereien. Ja, man kann sogar
sagen, er hatte ein besonderes Talent zum Träumen. Das war schon fast Routine. Auf dem Sofa liegend, erinnerte sich an etwas aus seiner Vergangenheit, irgendein Erlebnis, ein angenehmes
natürlich, und schon begann der Film zu laufen, mit einem Inhalt ganz nach seinem Wunsch.
Als er wieder einmal so auf dem Sofa lag, dachte er an eine Szene aus seiner Kindheit. Es war ein Sommertag, er badete mit anderen Dorfjungen, nackt wie sie, in einem Baggerloch. Da spürte er
etwas, er spürte es auf seinen Schultern, und tatsächlich, als er den Blick auf die hohe Sandwand richtete, entdeckte er ein Mädchen in einem blauen Badeanzug. Von der Nachmittagssonne
beschienen, kauerte es in einer Wandnische und starrte herab. Das war ziemlich weit oben, er staunte über ihren Mut, dort zu hocken. Und wie mag sie da hoch gekommen sein? Sie rührte sich nicht,
den Blick hatte sie auf ihn gerichtet. Erst kümmerte es ihn nicht, aber dann musste er wieder hinauf sehen und dann immer wieder, bis er überzeugt war, sie beobachtete tatsächlich nur ihn. Aber
damals interessierten ihn Mädchen noch nicht. Er geriet in eine Schlammschlacht, und als er wieder hinauf sah, war das Mädchen verschwunden.
Was wäre geschehen, wenn er sie damals angesprochen hätte? Sie müsste jetzt über 20 sein. Es wäre doch interessant, das nachzuholen, natürlich in ihrem jetzigen Alter als Frau.
Und sofort blendete die erste Szene des Filmes auf.
Da steht steht, oben am Rand des Baggerlochs. Er steigt die Wiese zu ihr hinauf. Sie wartet auf ihn. Eine schlanke Gestalt in einem schwarz gepunkteten weißen Kleid, der Wind bewegt den Saum, der
Himmel ist wolkenlos, und
Mit den Augen vor 20 Jahren sieht sie ihn an, und wie damals spürt er ihre Kraft. Sie lächelt und reicht ihm die Hand. Sie setzen sich an den Rand der Steilwand. Von unten kommt der Geruch
feuchten Sandes, gegenüber leuchtet die Wand gelb in der Nachmittagssonne.
Er beginnt das nackte Bein der Frau zu streicheln. Eine angenehme Erregung erfasst ihn, aber es bleibt bei der Berührung, er will den Traum später fortsetzen. Die Vorfreude darauf würde ihm
helfen, die nächsten Stunden zu überbrücken.
Er wollte die Augen öffnen, aber die Lider reagierten nicht. Erschrocken setzte er sich aufrecht. Noch immer sah er nichts. Da hörte er eine Frauenstimme.
„Himmel noch mal, bleib sitzen!“
Er roch Benzin, im Mund hatte er den Geschmack von Weinbrand. Endlich öffneten sich die Augen. In der Hand hielt er eine fast leere Flasche. Er saß in einem Auto und auf dem Fahrersitz eine Frau
um die zwanzig.
„Na, endlich.. Bist du wieder da? Ich dachte schon, du hast dir das Genick gebrochen.“
„Ich träum doch?“ murmelte er.
Die junge Frau am Steuer schüttelte den Kopf. „Menschenskind.. Es war wie im Film. Pure Action! Die Bullen haben uns gerammt. Aber dann sauste sie in den Graben. Und du bist beim Bremsen mit dem
Kopf gegen die Scheibe geflogen.. Noch Kopfschmerzen?“
Er sah sie an. Wer war das? Das halblange Haar hatte sie hinter die Ohren gestrichen. Die Brauen über den grauen Augen waren lang und schmal.
„Wir müssen uns eine andere Karre besorgen.“
„Das ist ein Traum, verdammt, es ist mein Traum und ich werde jetzt aufwachen“, sagte er.
Sie lachte. „Ja, wie im Traum oder im Kino. Die in der Bank lagen am Boden und zitterten vor dir. Weißt du, wie viel wir haben?“
Irgendwie kam sie ihm bekannt vor. Wer zum Teufel war das?
„Über 20.000 Euro. Nicht schlecht für den Anfang. Jetzt geht es los, das neue Leben. Unser Leben! Unser eigenes Leben!…“
„Unser eigenes Leben...“ Jetzt erkannte er sie. Es war Chris! Die kleine, unscheinbare Chris mit dem erstklassigem Sex im Bett. Und, ja, jetzt erinnerte er sich, sie hatten davon gesprochen, sehr
oft sogar. Eine gemeinsame Zukunft. Raus aus dem grauen Alltag, dem Einerlei im Hinterhof. Er hatte ihr nicht widersprochen. Andererseits.. Das war doch nur Gerede! Aber dann sie hatten sie es
doch getan … oder?
Sie bremste. „Da, den Audi dort, den krallen wir uns!“
Während sie die Wagentür aufbrach, stand er stumm daneben. Sie musste ihn hereinziehen. Dann fuhren sie über eine Landstraße, mehrmals sah sie ihn besorgt von der Seite an.
„Was ist los? Immer noch nicht ganz da?.. Wie heiß ich?“
„Chris.“
„Na bitte.. Kein bleibender Schaden.“
Und da bemerkt er, wie seltsam er gekleidet war. Das war nicht sein Stil. Von der Jacke bis zu den Stiefeln: alles aus Leder. Andererseits hatte er sich das oft gewünscht. Ein echter Kerl zu
sein, so machomäßig. Er betrachtete seine Hände, ballte sie zur Faust, öffnete sie, ballte sie wieder, dann streckte er die Beine so heftig aus, dass die Stiefel gegen das Autoblech
knallten.
„Na, alles wieder in Ordnung?“
„Ja... Toll!“
In einem ländlichen Hotel übernachteten sie. Als sie einmal das Zimmer verließ, griff er zum Telefon und wählte seine Telefonnummer. Niemand meldete sich. Dann wählte er die Nummer seines
Wohnungsnachbarn, und als Chris mit einem beladenen Tablett zurückkam, saß er auf der Bettkante, den Telefonhörer in der Hand. Er hatte gerade erfahren, dass er gestorben war.
„Verdammt!“ Sie stellte das Tablett ab und riss ihm den Hörer aus der Hand. „Du spinnst wohl!“ Sie legte den Hörer auf. „Mach jetzt keine Dummheiten. Hier.. Ich hab was zu essen geholt.“
„Das hast du fein gemacht..“ Er sah sie verärgert an. „Du hast mich bei den Nachbarn für tot erklärt..“
Sie lachte auf.
„Freu dich doch.. Dich sucht keiner mehr. Übrigens bin auch ich verschwunden.. Sie glauben, ich mach Ferien.“
Als sie die Sektflasche entkorkte und die Kleider von sich warf, kam ihm alles wieder vertraut vor. Auch, dass sie gleich darauf im Bett lagen. Ja, so ist sie, die Chris. Und es war großartig wie
immer.
Am nächsten Morgen hatte er schon wieder Lust, er zog sie an sich, sie biss ihn in die Schulter.
„Schluss jetzt.. Wir müssen abhauen.“
„Ich hab gar nicht gewusst, wie glücklich ich bin“, dachte er. Und er bewunderte Chris, die alles so klasse gemanagt hatte.
Es gab weitere Banküberfälle, irre Autofahrten, Übernachtungen in luxuriösen Zimmern und Nächte mit erstklassigem Sex.
Aber dann änderte sich etwas. Das heißt: es änderte sich eben nichts, und das war das, was ihn zu nerven begann. Die Wiederholungen! Ein Tag war wie der andere. Bankraub, Fluchten, heiße Nächte.
Hatten sie nicht geplant, das Land zu verlassen und unter Palmen an einem sonnigen Strand zu leben wie im Paradies?
Warum machte sie keine Anstalten, die Tickets für den Flug zu besorgen? Und dann änderte sich sogar der Sex, er wurde strapaziös. Und schließlich der Geruch. Sie hatte Zigarillos zu rauchen
begonnen, auch im Bett. Bald roch sogar ihr Körper nach den Zigarillos, aber sie ließ nicht davon ab. Einmal fragte er sie direkt, wie das denn nun sei mit Indien oder der Südsee, das sei doch
schließlich ihr gemeinsamer Plan, sie winkte ab. Sie hätten noch nicht genug Geld. Er begriff: sie würde nie genug Geld haben und so beschloss er, sie zu verlassen.
In der nächsten Nacht wartete er, bis sie eingeschlafen war. Im Dunkeln stand er leise auf, zog sich an und verließ das Zimmer.
Auch im Flur war es dunkel, er fand den Schalter nicht. Er tastete sich zur Treppe. Plötzlich stieß er mit dem Knie gegen etwas Hartes, es gab einen Bums, das Licht ging an und er hörte einen
Schrei.
Geblendet kniff er die Augen zu. Als er sie öffnete, erblickte er einen Nachttisch mit einer brennenden Leselampe, eine Frauenhand griff in die Schublade nach einer Pistole. Er schlug die Hand
zurück.
Und dann sah er sie: Eine verängstigte Frau im Bett. Sogar ihre Augen duckten sich hinter eine Haarsträhne. Die Bettdecke an die Brust gezogen, saß sie am Kopfende des Bettes und hielt den Atem
an. Veflucht.. War er in ein fremdes Zimmer geraten?
„Wo bin ich?“ fragte er.
„Bitte“, flüsterte sie.
„Ich tu Ihnen nichts“, sagte er. „Aber wie komm ich hierher?“
„Ich muss Sie träumen! Sie sind aus meinem Krimi, den ich grade schreibe.“
Er hielt ihr den Arm hin. „Fassen Sie mich an..“
Sie zog sich die Decke über den Kopf. „Verschwinden Sie!“
Er sah sich um. Ein Sessel und ein Sofa mit ockerfarbenem Bezug, an der Wand ein Farbdruck mit einer indischen Tempeltänzerin. Die Zimmerdecke war sehr hoch und hatte ein Stuckornament an den
Rändern und in der Mitte eine Rosette mit der Deckenlampe. Berliner Altbau, dachte er. Merkwürdig. War das hier nicht ein Hotel?
Er setzte sich in den Sessel.
Ihr ging die Luft aus, sie schob den Kopf über die Bettdecke. Sie sah, wie still er saß und wurde mutiger.
„Nein, Sie sind tatsächlich wirklich. Sie sehen bloß aus wie meine Romanfigur. Ich bin Schriftstellerin, wissen Sie.“ Und als er immer noch nicht reagierte, fragte sie: „Was wollen Sie von mir?
Geld?“
„Davon hatte ich mehr als genug“, sagte er. „Im Gegensatz zu Ihnen habe ich einen echten Krimi erlebt, ich bin ein Bankräuber, bloß im Augenblick weiß ich nicht.. Wieso bin ich hier?“
Wieder sah er sich um.
„Echt? Ein Bankräuber? Toller Zufall. Mein Held ist nämlich auch einer.“
Sie gluckste ein kleines Lachen.
„Sie nehmen mich nicht ernst, was?“ Er wandte sich ihr zu und wurde schroff. „Wenn das hier Ihre Geschichte ist, dann sagen Sie mir, wie sie aus geht.“
„Ich weiß es noch nicht.“ Vor Eifer wollte sie die Hände hervorholen, die Decke glitt herunter, rasch zog sie sie wieder bis ans Kinn. „Ich arbeite noch daran. Der Schluss ist immer das
Schwerste. Es muss der Höhepunkt sein, verstehen Sie, ein richtiger Knaller. Vielleicht lass ich alles in einer Schießerei enden. Aber das ist ein Klischee, stimmt’s?“
„Ja, aber sehr amerikanisch.“ Er sprang auf. „Ich vergesse, wer nebenan liegt. Von der muss ich weg!“
„Ihre Frau?“
„Ich hab genug von ihr.“
Sie sagte belustigt: „Midlifecrisis?“
Er zuckte zusammen.
„Was ist? Hab ich was Falsches gesagt?“
Er riss die Bettdecke weg. Der kleine Leberfleck unter ihrem Bauchnabel war nicht zu übersehen. Er stöhnte auf. „Du bist es! Kannst du mich nicht in Ruhe lassen!“
Sie sagte: „Sie sind ja wahnsinnig!“
„Chris, bitte, lass mich! Lass mich endlich gehen!“
„Dann hau doch ab. Zieh Leine!“
„Ja wie denn?“ Er griff sich an die Stirn. Dann sagte er: „Warte! Ein Alptraum. Das ist ein Alptraum. Erschieß mich! Ja! Es geht nicht anders.. Du hast doch eine Pistole, erschieß mich!“
„Niemals!“
Er holte die Pistole aus der Schublade und drückte sie ihr in die Hand.
„Los! Tu es!“
Sie fuchtelte mit der Pistole in der Luft herum.
„Wie funktioniert die? Ist die überhaupt geladen?“
Er packte ihre Hand mit dem Revolver, drückte den Lauf gegen seine Brust, und obwohl er im selben Augenblick ein Gefühl von Bedauern, ja, sogar Trauer empfand, schrie er: „So schieß doch endlich!
Schie
Die Mordkommission fand den Toten um 7.20 vor seinem Computer sitzend, den Kopf auf der Brust. Die Kugel war in die linke Schläfe gedrungen.
Die Spurensicherung hatte ihre Arbeit getan, die Leiche wurde abtransportiert, zurück blieben der in seiner Fülle schwer atmende Kommissar und sein junger Assistent, der sich eifrig in der
Wohnung umsah.
Die Wohnung befand sich im rechten Seitenflügels einer Mietkaserne mit Vorderhaus, Gartenhaus und zwei Seitenflügeln. Man trat vom Hof direkt ins halb dunkle Wohnzimmer. Das Mobiliar war
uralt, nur schlecht verhüllte eine gelbe Decke das abgenutzte Sofa.
„Ein Schriftsteller, denke ich“, sagte der junge Assistent und schob die mit Manuskripten vollgestopfte Schublade der Kommode zu. „Nicht sehr erfolgreich. Alles unveröffentlichtes Zeug.
Übrigens, Chef, Sie wollten doch die Frau sprechen, die den Toten entdeckt hat. Sie sitzt hier und wartet.“
„Gleich.“ Der Kommissar beugte sich über den Computer, zeigte auf den Monitor. „Sieh mal, da blinkt`s. Der Computer ist noch an.“
Er drückte die Entertaste. Der Schirm erhellte sich und ein paar Zeilen wurden sichtbar. Die letzte lautete: So schieß doch endlich! Schi
Der Kommissar ließ sich ächzend in den Stuhl fallen, schob die halbleere Weinbrandflasche beiseite, scrollte den Text nach oben bis zur Überschrift „Auf dem Sofa“ und begann zu lesen. Als er
fertig war, saß er sekundenlang nachdenklich, dann drehte er sich um. Sein Blick fiel auf die junge Frau. Sie hatte es sich auf dem Sofa bequem gemacht, als sei sie zu Besuch. Zierlich war sie,
hatte die Beine übereinander geschlagen und rauchte ein Zigarillo. Er stutzte, dann sagte er freundlich: „Sie haben den Toten gefunden?“
„Ja.“
„Kann ich Sie befragen?“
Sie nickte.
„Sie heißen?“
„Christa Holzmann.“
Der Kommissar rieb sich mit dem Handrücken die rechte Augenbraue.
„Was wollten Sie so früh bei ihm?“
„Mit ihm frühstücken. Wir frühstücken oft zusammen, ich wohne gegenüber.“
„Das erklärt die Tüte mit den Schrippen.“ Er betrachtete sie. Dann sagte er: „Nannte er Sie vielleicht Chris?“
Sie nickte.
Plötzlich drehte er sich zum Computer, druckte den Text aus und gab ihr die Blätter zu lesen.
Sie las. Nichts in ihrem Gesicht rührte sich. Nach einer Weile legte sie das Zigarillo in den Aschenbecher. Als sie zu Ende gelesen hatte, gab sie die Blätter wortlos zurück. Der Kommissar
reichte sie seinem Assistenten.
Die junge Frau nahm das Zigarillo vom Aschenbecher, machte einen Zug, blies den Rauch aus und sagte: „Ich war’s nicht. Sie sehen ja: Er schreibt ja selbst, ich konnte es nicht. Ja, ab und zu
verlangte er es.. im Suff. Ich hätte es nie gekonnt.“ Sie wurde laut. „Da steht es doch! Er wollte erschossen werden udnd ann hat er's selbst getan!"
„Nein, er war’s nicht, sonst hätten wir eine Waffe gefunden“, meinte der Assistent, von den Papieren aufblickend. Er machte einen Schritt auf die Frau zu, als wollte er sie etwas
fragen.
„Moment..!“ Der Kommissar wandte sich an die Frau: „Wo waren Sie heute Nacht?“
„Im Bett natürlich.“
„Die ganze Nacht? Kann das jemand bezeugen? Ihr Mann?“
„Der taugt nicht als Zeuge. Er schläft schlecht und geht dann immer raus.“
„Er geht raus? Wohin?“
„In den Hof, unter der Eiche ist eine Bank, da sitzt er dann.“
„Und wo ist er jetzt?“
„Keine Ahnung. Er ist der Hauswart. Hier ist immer was zu tun.“
Sie fanden ihn im Heizungskeller. Er hatte sich erschossen, mit derselben Waffe, mit der er den Schriftsteller getötet hatte.