Die letzten Tage des Kommissars
Erzählungen
140 S. Softcover, 18 x 11,5 cm, 9,50 €
Ein gerade pensionierter Kommissar wird von einem Genetiker in ein teuflisches Spiel verwickelt.
Ein Dorf schrumpft, weil ein Wissenschaftler mit Gott eine Rechnung hat.
Ein Mann erkämpft sich die Herrschaft über das Universum.
Eine Birke treibt einen Dramaturgen in den Wahnsinn.
Ein Mann, süchtig nach der virtuellen Welt, findet durch den Sex zurück in die Wirklichkeit.
Zu bestellen im Onlineshop. Auch als eBook lieferbar
Dieter Lenz
Der Geschichtenerzähler
Alle Geschichten dieser Welt sind in ein blaues Buch geschrieben, und sie handeln vom kleinsten Lebewesen bis hinauf zum größten, vom dümmsten bis zum klügsten.
Wir Menschen können sie nicht lesen, aber wir können dafür etwas viel besseres: wir erleben sie.
Wenn der große Erzähler seine Feder auf eine leere Seite setzt, beginnt unsere Geschichte, wir schlagen die Augen auf, rühren die Glieder und langsam entwickelt sich mit jedem unserer Atemzüge die Geschichte eines Tages, eines Monats, eines Jahres, eines Lebens.
Sie haben den Erzähler noch nie gesehen? Ich verrate Ihnen was: Am Morgen zückt er seine Feder und taucht sie in rote Tinte und schreibt behutsam die Überschrift ihrer Geschichte in das blaue Buch. Dann nimmt er eine andere Feder, taucht sie in eine goldene Tinte, und jetzt, jetzt berührt er Sie mit der feinen Spitze an der Stirn. Sie öffnen die Augen, Ihr Blick wandert dem Sonnenstrahl nach, ja, wenn Sie es schafften bis zum Ursprung des Strahles zu kommen und dann noch ein Stückchen darüber hinaus, da wäre dann der Erzähler zu finden.
Und abends, wenn er der Meinung ist, jetzt sollte die Geschichte wegen Ihrer Müdigkeit ein Ende finden, denn er ist ein gutmütiger und anteilnehmender Erzähler, dann nimmt er wieder die erste Feder, taucht sie in rote Tinte und macht einen Punkt. Vielleicht auch mal ein Ausrufungszeichen, manchmal sogar ein Fragezeichen, und nur einmal, am Schluss Ihres Lebens, schreibt er ein großes Wort: „Ende“. Und das heißt, dass Sie jetzt keine Geschichte mehr machen, dass Sie selber Geschichte sind.
Und vielleicht ist es dann so weit, dass Sie Ihre und alle anderen Geschichten lesen können, immer und immer wieder, aber vielleicht lässt das die riesige Anzahl von Geschichten nicht zu.
Am liebsten liest man ohnehin seine eigene Geschichte.
Der ewige Junggeselle
Henrik B. war Bootsbauer, lebte im vorigen Jahrhundert in der Nähe von Växjö in Småland/Schweden. Von ihm erzählte man sich folgende Geschichte:
Immer, wenn er eine Frau gut kannte, setzte er sich mit ihr zusammen und zu ihrer stillen Freude lobte er ihre Eigenschaften, und weil sie ahnte, was da kam, lobte sie seine, und er hatte ja auch gute Eigenschaften. Und so steigerten sie sich beide in einen feurigen Eifer, der dem Verliebtsein nicht nachstand, bis B. plötzlich ausrief: „Ja, dann ist es wohl das Beste, wir heiraten!“
Die Frau schwieg und lächelte und sagte dann: „Eine bessere findest du nicht.“ Da sprang B. auf, von Begeisterung überwältigt, lief hin und her, blieb plötzlich vor der Frau stehen und fragte: „Aber zum Teufel, wirst du mich auch ernähren können?“
B. starb, 86 Jahre alt, als glücklicher Junggeselle.
Das Jahr der Birke
Der Schnee ist getaut und die Birke erwacht. Mit vom warmen Blut rot gefärbten Fingerspitzen greift sie zur gelben Puderdose und bepudert sich. Der Strahl des Scheinwerfers erfasst ihren Kopf, sie muss sich beeilen, schlüpft rasch in ein kurzes, fast durchsichtiges Kleid, und so, im Stehen, beginnt sie einen kleinen mädchenhaften Tanz, ihre Bewegungen sind anfangs vorsichtig und keusch, doch dann lüpft sie mutig den Saum, ihr weißer Körper leuchtet auf, und man hört ein Seufzen der Entzückung. Es ist der Wind.
Er nähert sich, doch bevor er ihr zu nahe kommt, wechselt sie das Kleid. Zusammengesetzt aus vielen an- und übereinander liegenden, blaugrünen Blättern umhüllt er dicht ihren Körper, wäre da nicht der bittere Duft, der den Wind erregt. Er dringt auf die Birke ein, aber sobald er eine Lücke findet, schließt sich das Kleid. Verärgert zieht er sich zurück, sie wispert lockend, und er macht kehrt, freudig bestürmt er sie, aber sie biegt sich zurück und er gleitet ab. Gekränkt und zornig verschwindet er.
Jetzt ist nur noch der Schweinwerfer da, seine Wärme überrascht sie, es ist eine andere Art der Zuneigung und genau diese scheint sie zu bedürfen. Sie drängt sich mit ihrem ganzen Körper der Beleuchtung entgegen. Nach einiger Zeit bemerkt sie, diese Zärtlichkeit verspricht ihr viel und gibt es ihr nicht, und da verlangt sie nach dem Wind, ihr Flüstern ist jetzt ein Seufzen, und da kommt er auch, aber es ist nicht mehr der Wind von früher. Er bohrt die Nase in sie, nein, der Geruch ist weg, und er geht, ohne sie weiter zu berühren, und sie bemerkt erschrocken das Nachlassen ihrer Attraktivität. Mit einem verzweifelten und gleichzeitig großartigen Aufbegehren wirft sie sich ein goldenes Kleid über. Als wäre es mit dem Beleuchter abgesprochen, bestrahlt er sie schräg von der Seite, so dass der Strahl sie in ganzer Pracht ausleuchtet. Wie eine Diva steht sie da, eine Diva auf dem Höhepunkt ihrer Show, und das ist der Moment, auf den der Wind gewartet hat. Er hat nicht vergessen, wie sie mit ihm spielte, jetzt rächt er sich, voller Hass reißt er ihr das Kleid vom Leib. Merkwürdig, sie wehrt sich nicht, ja, es scheint ihr zu gefallen. Doch es ist keine Lust dabei. Als das letzte Goldblatt fällt, steht sie nackt da, und verächtlich schnaubend lässt der Wind von ihr ab. Gnädig dimmt der Beleuchter das Licht herunter, Dunkelheit breitet sich aus, ein weißes Glimmen bleibt, bis es im Schneetreiben untergeht.
Kreuzspinnen
Dies ist ein Jahr der Kreuzspinnen. Allein im Garten fand ich zwölf davon. Sie sind dunkel- oder hellbraun, manchmal auch grau. Ihr Körper ist geformt wie eine Tiara und trägt passend dazu ein Kreuz. Am liebsten knüpfen sie ihre Netze in die Büsche, aber auch unter das Treppendach und sogar direkt in den Winkel unserer Eingangstür.
Das Kreuz steht so weiß auf ihren Rücken, dass ich mich wundere, warum die katholische Kirche das Insekt noch nicht heiliggesprochen hat.
Eine Spinne hatte ihr Netz zwischen zwei Kiefernstämme gespannt, Abstand der Bäume etwa drei Meter. An einem Faden links und an zwei Faden rechts hing es etwa anderthalb Meter über dem Waldboden. Während die Spinne genau im Netzzentrum saß und sich nicht rührte, stand ich davor und fragte mich, wie sie es geschafft hatte, die Entfernung zwischen den Stämmen zu überbrücken.
Ich zog innerlich meinen Hut und versprach ihr, einen Bogen um die Stämme zu machen, damit ich dem Netz nicht zu nahe käme.
Übrigens baumelte handbreit über dem Boden ein kleines Stück Rinde, es hing am Netz und drehte sich im Wind wie ein Kreisel, mal links, mal rechts herum. War das ein Zufall oder gehörte das zur statischen Absicherung des Netzes im Wind?
Und dann flog von oben eine Kiefernadel ins Netz, und schon krabbelte die Spinne hin und befingerte sie, nein, es war kein Fressen, aber als ich nachher noch einmal nachsah, war die Kiefernadel verschwunden und die Spinne werkelte am Loch.
Und es stürmte so heftig, dass die Kieferwipfel hin und her schwankten, aber das Netz hing fast still.
Und dann passierte es doch: Als ich später mit der Schubkarre arbeitete, kutschierte ich zwischen den Stämmen durch, nicht in der Mitte, sondern mehr seitlich, ich spürte nichts, aber ich wusste sofort, was ich angestellt hatte. Ich suchte das Netz, ich suchte die Spinne. Nichts mehr zu sehen. Futsch.
Zwei Tage später. Ein sonniger Tag. Zwischen den beiden Kiefernstämmen blitzt handbreit über meinem Kopf ein Faden. Wie zum Kuckuck wurde der über eine Breite von drei Metern gespannt? Und warum? Ich sehe kein Spinnennetz. Dann entdecke ich es nahe beim linken Stamm.
Wieder ziehe ich den Hut und verbeuge mich. Erstens hat die Kreuzspinne offenbar meine Größe errechnet und den Faden, an dem das Netz hängt, höher gelegt. Und dann nicht wie vorher in der Mitte platziert, sondern seitlich am Stamm.
Ich kann darunter hin- und hergehen, ohne ihr Netz zu zerreißen.
Grüß dich, Spinne. Auf weiteres gutes Zusammenleben.
Sommer
An einem langen Sommertag ruderte er hinaus, mit dem Rücken zum See, mit Blick auf das schwarzhaarige Mädchen im dunkelblauen Bikini im Bootsheck. Erst sprang sie ins Wasser, dann er, sie balgten sich in den Wellen, erst als sie vor Erschöpfung nicht mehr schwimmen konnten, kletterte er ins Boot und half ihr hinein.
In der Nacht konnte er nicht schlafen, noch immer stand die Tageswärme in dem kleinen Zimmer, er lag mit nacktem Oberkörper, um Mitternacht ging er hinunter ins Webzimmer, in das das Mädchen einquartiert war, auch sie war noch wach und las ein Buch. Doch als er eintrat, zog sie erschrocken die Decke ans Kinn und flüsterte, was er wolle. Er stammelte dummes Zeug, ihre Furcht wuchs, er sah es in ihren Augen, das verwirrte ihn noch mehr. Sich der peinlichen Situation bewusst werdend, zog er sich linkisch zurück und verkroch sich in sein Zimmer im Oberstock. Jetzt konnte er erst recht nicht einschlafen, das entsetzte Gesicht verfolgte ihn, er musste sich entschuldigen, er musste sich erklären, es war schon weit über Mitternacht, er musste sie beruhigen, und wieder schlich er hinunter, aber ihr Bett war zerwühlt und leer. Jetzt kam zu seinem schlechten Gewissen ein Grauen dazu. Ist sie vor Angst in den See gegangen? Er stolperte barfuß und bekleidet nur von der Pyjamahose nach draußen, da geriet er in einen feuchten, klammen Rauch, keinen Meter weit konnte er sehen, ein Nebel war das, so einen hatte er noch nie erlebt. nichts war zu sehen, aber er musste das Mädchen retten, er war schuldig. Er stolperte um die Hausecke, die Hand an der Hauswand, geriet in den Fliederbusch, tastete sich an den Zweigen entlang, stand mitten auf der Wiese, sie musste es sein, obwohl er nicht einmal seine Füße sehen konnte. Er lauschte. Stille. Kein Wind. Keine Vogelstimme. Kein Geräusch. Rufen wollte er nicht, er fürchtete, seine Stimme nicht zu hören Der See war irgendwo da unten, dort hinzugehen, war unmöglich: er hatte schon jetzt kein Wissen mehr um die Richtung, wusste nicht einmal mehr, wo das Haus stand. Er drehte sich, streckte die Arme aus, tief in den Dampf hinein, suchte.. Spürte unter sich den ansteigende Boden, in dieser Richtung musst er weiter, stieß mit den Händen gegen die Hecke, Gott sei Dank, links davon war ein Eisengeländer, Stufen... die Tür.. Mit zitternden Knien kam er ins Haus, alles war sichtbar, die Treppe hinauf und ins Bett, er schlief sofort ein.
Als er zum Frühstückstisch kam, saß sie schon dort, sie schmierte sich Honig auf ein Brot, sie biss hinein und sah ihn an. Sie sagte kein Wort, er war erleichtert und schwieg ebenfalls.
Nie erfuhr er, wohin sie in der Nacht verschwunden war.
Der Alte und das Universum
Der Alte spricht zu den Leuten, die an seinem Trödelstand vorbei laufen:
„Vergesst, was ihr wisst! Es ist alles anders! Die Welt ist zusammengekauftes Zeug! Irgendeiner kauft dauernd im außerirdischen Internet ein und hängt jede Minute einen neuen Stern an den Himmel.. Manchmal geht ja auch eine Birne kaputt.. Und dann schleppt er immer die neusten Erfindungen auf die Planeten, auch auf unseren, der Mensch ist so eine Erfindung, aber eine Alte. Doch daran wird schon gearbeitet! In nächster Zeit kauft er sich bestimmt die neusten Entwicklungen.. Dann kommen Roboter oder geklonte Albert Einsteins am laufenden Mann. Wartet nur ab! Den hat ein richtiger Konsumrausch entwischt, ihr werdet sehen, die Welt platzt noch mal vor Überfüllung.. es sei denn der große Käufer im jenseits geht vorher pleite und kann nicht mehr zahlen. Denn zahlen muss er! Nichts geschieht kostenlos auf der Welt! Auch bei mir nicht! Kauft Napoleons Badefliesen! Original echt nur bei mir!“
Der Junge und der Zauberer
Und der Junge schreibt in sein Tagebuch:
In der Welt ist ein Zauber. Man muss aufpassen. Heute in der Kneipe, abends, Josef spielt mit zwei Männern Karten, ich sitze und habe mein Messer und schnitze einen kleinen hassen. Da seh ich das Fenster ganz blau, so blau, wie noch niemals. Auch die anderen Fenster: Blau und voller Leuchten. Ich sehe mich um, niemand sieht es.. Alle reden, spielen Karten, lachen.. Da guckt Josef zu mir und ich zeige mit dem Kopf heimlich zum Fenster. Er lacht. Ich sehe wieder hin: Das Blau ist verschwunden, jetzt ist es nur noch Nacht am Fenster.
Was hat Josef gemacht? Er weiß es.
Und vor ein paar Tagen das Glas mit dem roten Wein auf dem Tisch, die Wirtin saß bei Josef und sie tranken Wein und die Sonne kam durchs Fenster auf den Tisch und da leuchtete im Schatten vom Glasstiel eine rote Flamme, von unten ganz dunkelrot hinauf immer heller, bis oben daraus zwei weiße Fühler wurden, die auf dem Tisch lagen .. Und wie die Frau das Glas austrank und wieder hinstellte, war es nicht mehr da.
Ist Josef vielleicht ein Zauberer?
Das Gesicht seiner Frau
Er ist seit einiger Zeit geschieden, da entdeckt er bei einem Stadtbummel in einem Schaufenster das Gesicht seiner Ex-Frau. Es ist das Gesicht einer Schaufensterpuppe. Und dann sieht er das Gesicht überall in den Schaufenstern von Modebutiken. Das versteht er nicht. Seine Ex-Frau ist Buchhalterin. Seit wann steht sie Modell für Schaufensterpuppen? Er sucht die Wohnung seiner geschiedenen Frau auf, doch er findet dort eine fremde Frau, die mit ihm nichts zu tun haben will. Offenbar eine neue Mieterin. Er geht zur Polizei, meldet seine Ex-Frau als vermisst.
Einen Tag später teilt ihm die Polizei telefonisch mit, sie lebe noch und zwar unter der ihm bekannten Adresse und wolle mit ihm nichts zu tun haben. Er geht noch einmal zu ihrer Wohnung, wieder ist es die fremde Frau, sie schreit ihn an und schlägt die Tür zu. Merkwürdigerweise hat sie die Stimme seiner Ex-Frau. Und er denkt: Wenn sie es ist, trägt sie jetzt eine Maske. Aber warum? Und warum haben alle weiblichen Schaufensterpuppen ihr Gesicht?
Er glaubt einer Verschwörung auf der Spur zu sein, forscht nach, findet den Modellierer der Schaufensterpuppe. Der sagt, er hätte die Puppe nach einem Computerbild modelliert. Übrigens gäbe es die Schaufensterpuppe mit diesem Gesicht schon seit vielen Jahren.
Der Mann glaubt es nicht, geht wieder zur Wohnung seiner Ex-Frau, die ruft schließlich die Polizei. Mit den Polizisten gerät er in Streit, hält sie für falsche Polizisten und landet schließlich in einer Nervenklinik.
Dort stellt sich heraus, dass er seine Frau nie richtig gesehen hatte, sondern immer als Schaufensterpuppe. Erst nach der Scheidung sah er ihr wirkliches Gesicht.
Gehirnleben
Und wieder einmal dachte er über sich nach, das war gefährlich, sollte man lieber nicht tun, es musste ein Genfehler an ihm sein, aber vorläufig wollte er nicht zu einem Arzt.
Und es war ja auch eine Art Lust, über sich nachzudenken, es konnte entzücken bis zur Raserei, bis zur Bewusstlosigkeit …
Also gut, wir haben den Höhepunkt der menschlichen Kommunikation erreicht! Du kannst treffen, was und wen du willst, kannst mit ihm reden, spielen, spazieren gehen, du kannst sogar mit ihm essen und schlafen, dafür hast du den Brainer, das großartige Ding am Schädel. Du kannst dich überall einloggen, in jede Szene, jedes Gespräch, jedes sexuelles Erlebnis.
Die ganze Welt im Kopf! Kostet nicht viel, einen Monatslohn etwa eines Durchschnittsarbeiters. Alles geschieht im Gehirn – war ja schon immer so, doch jetzt sind die Grenzen zwischen Einbildung und Wirklichkeit aufgehoben, das eine ist wie das andere, und doch, und doch..
Du bist einsam, gerade deswegen, na, schlimmer: du bist dir gar nicht mehr vorhanden. Du lebst wie eine Pfütze, die sich im Regen immer weiter ausbreitet, sie findet keine Grenzen, aber sie spürt sich nicht, sie ist formlos.
Ich bin eine Pfütze, dachte er. Eine blöde, lächerliche, anwachsende Pfütze..
Und dann dachte er, dass man ihm den Kopf abnehmen solle, und wenn das nicht geht, denn alles in dieser Welt dreht sich um den Kopf, genau genommen in ihm, so will er selbst etwas tun:
Die Wirklichkeit im Kopf ist unreal, ein Gepixel von Elektronen, aber die Wirklichkeit, die er mit den Händen ertasten, mit der Nase riechen, mit den Lippen fühlen, mit der Zunge lecken kann, die will er sich erobern, vielleicht ist es auch bloß ein Zurückerobern.. Was seine Ahnen hatten, ist im Laufe des verdammten Fortschritts verloren gegangen, und mit leisem, heimlichen Entzücken montierte er den Brainer von seinem Schädel und ließ seine rechte Hand über den Rücken der linken gleiten, dann über das Gelenk, dort wo die Schlagader pulst, ein feines Kitzeln überraschte ihn, es verstärkte sich, als er mit den Fingerspitzen am Unterarm hinauf strich.
Von dort ging es dann unaufhaltsam über den ganzen Körper, er genoss seinen Körper, zum ersten Mal spürte er sich und wollte nicht mehr damit aufhören.
Bestellen per Internet
Sie waren Rentner auf dem Land und da sie kein Auto hatten, bestellten sie alles Nötige per Internet. Weil sie erblindet war, sagte er ihr, was er auf dem Monitor sah, und dann genügte ein Nicken von ihr und er drückte den Kaufbutton. Später befühlte sie mit den Händen die gelieferte Ware: gehäkelte Zierdeckchen, Vasen in vielerlei Formen, Mokkatassen, Kaffeekocher, Schuhe, Blusen, Handtücher, diverse Gürtel und Broschen, Nippsachen und vieles mehr.
Eines Tages sagte sie, sie sei es müde, die Dinge zu berühren. Schließlich fragte er sie, ob er überhaupt noch etwas bestellen solle, sie hätten doch schon alles. Sie widersprach, und so las er weiter aus dem Internet vor, doch wenn sie jetzt nickte, schien es ihm, als würde sie nach Gutdünken nicken, ohne viel nachzudenken. Das war ihm rätselhaft, aber weil sie darauf bestand, tat er ihr die Freude.
Ja, wäre ein anderer als er hinaus zum Auto gegangen, um die Pakete entgegen zu nehmen, dann hätte er sehen können, warum dies alles geschehen musste.
Denn wenn sie durch das offene Fenster hörte, wie ihr Mann mit dem dem Paketboten plauderte und wie freundlich dieser sich für das Trinkgeld bedankte, dann lächelte sie.
Es waren Klänge aus der großen, fernen Welt, und sie konnte vor ihren Augen das Gewimmel der Menschen sehen.
Das Atom und ich
Von der Hitze ermattet, lag ich auf der Couch – so fern, so fern die Fußspitzen –, als etwas in meiner rechten Hand zu sprechen begann:
„Wie komisch, ich bin ein Atom und bestehe nur aus Energie, du bestehst nur aus Atomen und hast kein bisschen Energie!“
Ich murmelte: „Bedenk! Ich brauche dich nur zu spalten, schon hab ich Energie für eine ganze Welt. Lass also das Spötteln, ich warne dich.“
Doch der Winzling in meiner Hand konnte den Schnabel nicht halten: „Du armer Teufel! Dass du zerstören musst, um Energie zu bekommen.“
Der Unsterbliche erinnert sich.
Jedenfalls konnte ich kürzlich mich selber sehen, wie ich vor mehr als 120 Jahren in einem Zimmer saß, über eine Arbeit gebeugt - ich musste zur Strafe für etwas Unerlaubtes Quadrate farbig auszumalen, ich weiß nicht, warum, aber es war wirklich quälend und stumpfsinnig - und ich hörte durch das offene Fenster helle Stimmen, Jungenstimmen, ich spürte, wie ein frischer Luftzug durch das Fenster kam und dann hörte ich die Aufschläge eines Balles, unregelmäßig, aber deutlich, und Rufe, fröhliche Rufe, Geschrei, Gelächter.. und ich begann zu weinen.
Nur ein Beispiel, es gibt viele davon. Aber dieses Bild kehrt immer wieder.
Ja, wahrhaftig, als Kind weinte ich, als Kind konnte ich weinen.
Dann kam es abhanden wie alle anderen körperlichen Regungen, mein Körper wurde unnütz durch den elektronischen Fortschritt, wir tragen ihn seitdem nur noch wie einen Schatten bei uns. Unser Geist verzehrt die Welt Tag für Tag. So lebe ich. So leben wir alle.
Kann es sein, dass ich satt bin? Mein Geist ist müde geworden.
Oder ist es so, dass ich genug habe von dem digitalen Futter?
Manchmal möchte ich ganz von vorn beginnen und ich würde mit dem Biss in eine Hähnchenkeule beginnen.
Ich würde gern in meinen Schatten zurückkehren.
Er und das Cyberlife
Die Realität, dachte er, ist nur eine Wand und dahinter ist etwas, das viel größer, viel bedeutender ist, aber niemand sieht es. Und es will doch gesehen werden, es will erfasst werden, es will anerkannt sein!
Das waren seine Gedanken und sie kamen immer wieder.
Als er zum ersten Mal den Brainwalker aufsetzte und sich in das Cyberlife einloggte, erlebte er eine Erschütterung. Alles kam ihm so vertraut vor, dass er sich hätte niederknien und den Cyberboden hätte küssen mögen. Er war überzeugt, schon hier gelebt zu haben, vor seiner Geburt. Sofort buchte er ein unbefristetes Abonnement.
Er setzte sich den Brainwalker auf, so oft er konnte. Elektronische Signale fluteten von einem Großcomputer in sein Gehirn und weiteten ihn über die Grenzen seiner Existenz hinaus. Nachts behielt er den Brainwalker an und bestellte sich Träume. Anders als die Träume in der Wirklichkeit, denen er ausgeliefert war, lenkte er diese von einem Entzücken zum andern. Natürlich musste er sie zeitlich begrenzen, es war eine Frage des Geldes, denn Träume waren besonders teuer, aber auch die Gesundheit erforderte es. Schließlich hatte er einen Körper, und der brauchte seinen Schlaf.
Aus diesem und ähnlichen Gründen begann er seinen Körper kritisch zu betrachten, schließlich lehnte er sich gegen ihn auf. Er war, so sah er es jetzt, der Untertan seines Körpers. Dieser zwang ihn zu Handlungen, die nur für den Körper von Nutzen waren. Es war demütigend. Er war doch viel größer, viel bedeutender, viel wertvoller als dieses Bündel aus Fleisch und Knochen. Er war die Musik in einem Klavier, in einer Geige. Wenn er doch endlich aus diesem Instrument heraus könnte!
Es war etwas Wildes in der Art, wie er sich dem Cyberlife hingab. Wie einer, der aus der Hitze kommt, sich in einen See stürzt und plötzlich seinen Körper nicht mehr spürt, sondern nur Kühle und die tragende Kraft die Wassers.
Zwar hatte er auch im Cyberlife einen Körper, aber diesen spürte er nicht. Aber es ärgerte ihn, dass alle, die ihm dort begegneten, ihn nur als Körper sahen. Doch das wird eines Tages vorbei sein.
Als reiner Geist wird er leben im Reich der Elektronen, allmächtig und ewig.
Das Ende eines Werbemannes
Ich bin erschöpft. Nicht körperlich. Geistig. Lege Texte beiseite, wenn die Sätze über mehrere Zeilen laufen. Kapiere sie nicht. Jeder Satz ein Irrgarten. Ich verliere den Faden und sitze dann da
wie ein Trottel. Bin verstört. Fühle mich ausgelaugt. Besser gesagt: ausgesaugt, als wäre kein Blut, keine Kraft mehr in mir.
Vor ein paar Tagen verlor ich meinen besten Kunden mit einem Werbeetat von über 300.000 Euro.
Mit ihm hatte es vor 18 Jahren begonnen. Ich war geradezu euphorisch, als ich diesen Großindustriellen einer anderen Agentur abspenstig gemacht hatte. Er zeigte uns seine Fischkonserven – mein
gesamtes Team war versammelt – und sagte: „Ihr müsst meine Konserven nicht nur lieben, ihr müsst sie vergöttern.“ Und dann gab er uns einige zu kosten. Na, wir probierten sie – nicht in seiner
Gegenwart – und fanden nichts Besonderes daran.
Dennoch: wir konzipierten ein aufregend neues Konservenbild. Aus jeder Fischkonserve machten wir ein Gefäß mit fürstlichem Inhalt. Heringsteile in Tomatensoße, das war die Spitze: der Verpackung
nach ein Göttergericht. War ein sensationeller Verkaufserfolg.
Und der Spruch meines ersten Großkunden „Nicht nur lieben, vergöttern!“ wurde unser Motto. Wir blieben erfolgreich, jedenfalls bis heute.
Doch jetzt frage ich mich, ob nicht wir, sondern die Produkte, für die wir warben, erfolgreich waren. Ja, ich frage mich: Haben wir sie an die Konsumenten gebracht oder haben sie uns benutzt, um
an die Menschen zu kommen?
Wir versprechen den Menschen, dass die Waren ihr Leben angenehmer und schöner machen. Aber was, wenn wir Werber Dealer sind und die Menschen nach ihnen süchtig machen?
Wir liefern die Ware den Menschen, denken wir, aber wir liefern die Menschen den Waren aus!
Und kaum ausgepackt, beginnen diese mit ihrer Herrschaft: „Lernt unsere Gebrauchsanweisung auswendig! Behandelt uns vorsichtig! Pflegt uns! Berührt uns, fühlt, wie herrlich wir sind. Wir sind
unentbehrlich! Ohne uns könnt ihr nicht leben! So betet uns an und vergöttert uns!“
Stop. Die Waren sind Götter? Konsum in Wirklichkeit ein Gottesdienst? Wir wollen nicht übertreiben. Aber ich warne: Wartet nicht auf die Außerirdischen. Öffnet die Augen! Sie sind schon da!
Meine Agentur steht zum Verkauf. Sind Sie interessiert?
Stille in der Nacht
Dieser Lärm in der ersten Nacht, als er am offenen Fenster stand, dumpfe, gestöhnte Schreie.... Ein Rudel Wölfe? Nein, sagte ihm ein Bauer am nächsten Tag, die
Schreie kamen von einer kalbende Kuh und andere Kühe hätten geantwortet.
Aber heute Nacht hörte er gar nichts. Die Stille war mittlerweile schlimmer als die Schreie der letzten Nacht. Die Stille schien die Luft im Zimmer einzusaugen, das
Atmen fiel ihm schwer. Er öffnete das Fenster und beugte sich hinaus, obwohl er wusste, dass dies ein Fehler war, denn je mehr er sich anstrengte, um etwas zu hören, umso deutlicher wurde die
Stille. Nicht mal die Bäume rauschten. Einmal knackte es, das war das Haus, dessen Holz sich in der Nachtkühle dehnte. Er setzte sich wieder aufs Sofa.
Und dann, direkt hinter ihm, ein leise, schnelles Ticken. Eine Uhr! Wie kommt eine tickende Uhr hierher... Hatte jemand seine Armbanduhr verloren - er besaß ja
keine - und lag sie zwischen Wand und Sofa? Und sie ging! Das Haus hatte er für ein paar Wochen gemietet. Er zog das Sofa nach vorn, nichts, der Linoleumboden darunter war leer. Im Sofa
vielleicht? Er griff in die Spalten. Nichts. Er lauschte. Kein Ticken mehr. Er schob das Sofa zurück, setzte sich. Stille. Und plötzlich erneut das zarte Ticken, und dann erinnerte er sich an die
Sommerferien in einer Hütte am Waldrand: Eine Grille. Eine Grille zirpte in der Hauswand.
Das beruhigte ihn, er hatte Gesellschaft von einem Wesen, das ebenso ruhelos war wie er.
Die neunmonatige Reise
Seit vielen Jahren war der König verheiratet, aber es wollte sich keine Nachkommenschaft einstellen.
Eines Tages ging der König auf Reisen, in der Nacht vor der Abreise schlief er mit seiner Frau. Nach neun Monaten kehrte er zurück, und siehe: seine Frau brachte
ein Kind zur Welt. Freilich nur ein Mädchen. Weil es beim ersten Mal so gut geklappt hatte, ging er, nachdem er seiner Frau beigelegen hatte, wieder für neun Monate auf Reisen, denn er wünschte
sich einen Sohn, und siehe: nach seiner Heimkehr gebar seine Frau ein zweites Kind, wieder ein Mädchen.
Es musste aber einen Sohn sein und so machte er eine dritte Reise. Wie immer schlief er in der Nacht davor mit seiner Frau. Als er nach genau neun Monaten
heimkehrte, fand er in den Armen seiner Frau endlich einen neugeborenen Sohn.
Es wäre alles gut gegangen, wenn die Königin eines Tages nicht ein Kind bekommen hätte, obwohl der König nicht neun Monate auf Reisen gewesen war.
Sofort ließ der König im ganzen Land forschen, wer am Tage der Geburt des Kindes von einer neunmonatigen Reise heimgekehrt sei. Man fand einen Bäckergehilfen. Zwar
schwor die Königin, dass der König der Vater sei. Doch der König hatte seine Erfahrungen, er bestand auf der Hinrichtung des Bäckergehilfen, und die Königin musste erleben, dass man ihr das Kind
wegnahm.
In der nächsten Nacht schlief er mit der Königin und ging auf eine neunmonatige Reise. Als er heimkehrte, hatte die Königin kein Kind in den Armen, aber eine ihrer
Hofdamen.
Worauf sich die Königin von ihm trennte und das Volk sich von ihm.
Die Fliege an der Wand
Die Zeit arbeitet für das Leben. Ich bin ihr Werkzeug. Doch manchmal gelingt es mir, dass sie mich aus der Hand legt. Dann bin ich ganz bei mir – und weiß meinen
Namen nicht mehr, weiß mein Geschlecht nicht mehr, nicht mein Alter, nicht meine Nationalität. Nichts weiß ich von mir. Ein äußerst glücklicher Zustand.
Klappern des Briefkastens. Das Signal, das mich sofort in Bewegung setzt. Ich bin wie der potemkinsche Hund. Wieder bloß Werbung. Wenn du einen hast, der dich
nie vergisst, dann ist es der, der dich zu seiner Ware lockt.
Und hast du dann sein Ding gekauft, heißt es aufpassen, dass es nicht kaputt geht, du musst es pflegen, damit es funktioniert, es steht dir im Weg und du musst um
es herumgehen. Es nimmt einen Platz in deiner Welt ein, die mit jedem neuen Gegenstand etwas enger wird.
Gehorchen die Dinge mir oder ich ihnen?
Ich bin doch einer von den Typen, die dabei sind, den Weltraum zu erobern. Was rede ich von mir. Das Einzige, was zählt, ist das Leben. Es sucht sich seine
Formen aus – vom Menschen bis zur Amöbe.
Ich küsse die kleine Fliege an der Wand.
Zetteltext aus Die letzten Tage des Kommissars
Der Meister und sein Schüler
Es war mal wieder so ein Tag. Lauter Grübelei und kein Ende. Er fand die Antwort nicht. Und so ging er zu seinem Meister und fragte: „Warum haben wir das Paradies
verlassen?“
Und der Meister sah ihn an, schwieg eine Weile und sagte dann: „Wir haben es nicht verlassen.“
Schon oft hatte der Meister seinen Schüler mit einem Witz erhellt, und so wollte er auch diesmal in ein verständnisvolles Gelächter ausbrechen, aber der Meister
fuhr fort:
„Es stimmt, der Mensch aß vom verbotenen Apfel, aber als er den ersten Biss schmeckte, wunderte er sich: Der Apfel schmeckte nicht anders als die gewöhnlichen
Äpfel. Wieso sollte an diesem etwas Besonderes sein? Und das war der Augenblick, mit dem das Paradies für ihn zu Verschwinden begann. Er hatte eine Frage gestellt! Und die nächste war auch schon
da: Warum habe ich überhaupt den verbotenen Apfel haben wollen? Und so reihte sich eine Frage an die andere, der Mensch begann die Antworten zu suchen, dabei untersucht er alles, was um ihn herum
ist, er sieht unter die Steine, er zerschneidet das Blatt vom Baum, er löst die Dinge in ihre Bestandteile auf. Und mit der Suche nach einer Antwort sieht er weniger vom Paradies und sein Fragen
findet kein Ende."
Darauf schwieg der Meister und als der Schüler genau hinsah, sah er, wie der Meister schlief. Und während er davon ging, dachte er: „Er ist eingepennt. Warum nicht
auch ich?“ Und schon kam die nächste Frage, darauf die nächste und so weiter. Der Schüler versank ins Grübeln, rannte gegen einen Baum und schon fragte er sich, was das wohl zu bedeuten
hätte.
Der Meister, der sich nur schlafend gestellt hatte, hatte das gesehen. "Der Kerl kapiert doch nie..", seufzte er, schloss die Augen und schlief jetzt wirklich ein.
Das Ende des Diktators
Nachdem er alle seine Gegner in Arbeitslager verbannt oder hatte hinrichten lassen, war der Diktator auf der Höhe seiner Macht.
Und doch fühlte er sich mehr denn je bedroht.
Abends standen Wachposten vor seiner Wohnung. Von Schlaflosigkeit gequält ging er auf und ab, bis er sich erschöpft auf das Bett setzte, den Kopf senkte und die
Arme zwischen den Knie baumeln ließ. Nach einer Weile, als verlöre er die Herrschaft über seinen massigen Körper, neigte er sich zur Seite und schlief ein.
Eines Nachts, als er wieder einmal unruhig hin und her ging, geriet er vor den großen Wandspiegel im Flur, erschrocken blieb er stehen, da stand ein fremder Mann,
er griff nach der Pistole und in dem Moment als er schoss, schoss auch der andere. Der Spiegel splitterte, die Wachposten stürmten herein.
Er stand verwirrt vor dem zerbrochenen Spiegel, die Pistole in der Hand.
Nachdem er sich beruhigt hatte, befahl er, die Spiegel in der Wohnung zu entfernen.
Eines Tages bekam er von einer Delegation einen glänzenden Samowar geschenkt. Als er ihn ergriff, sah er das verzerrte Gesicht des Mannes, auf den er nachts
geschossen hatte, er schleuderte den Samowar von sich. Den Überbringer des Samowars ließ er verhaften.
Alles, was metallen glänzte, musste anschließend aus seiner Umgebung entfernt werden.
Wochen später - es war nach Mitternacht - ging er wieder hin und her. Sein Körper schien ihm schwerer als sonst. Und es war zu viel Stille im
Zimmer. Auch sie war eine Last, die er zu tragen hatte. Als ihm das Atmen schwer fiel, wollte er ein Fenster öffnen
Er schob den Brokatvorhang beiseite, eine dunkle Gestalt stand vor ihm. Mit der Hand, die den Fenstergriff fassen wollte, schlug er zu. Er sah noch die Faust des
anderen auf sich zukommen, dann stürzte er zu Boden.
Nachdem am Morgen um 9.30 Uhr noch immer keine Bewegung in der Wohnung zu bemerken war, schaute sein persönlicher Adjutant durch einen Türspalt, er sah ihn vor dem
Fenster auf dem Parkettboden liegen. Man beriet sich. Jeder wusste, der Diktator würde keinem verzeihen, ihn so liegen gesehen zu haben, darum blieb Hilfe aus.
Um die Mittagszeit verstummte das Stöhnen. Man befahl einem Militärarzt, nachzusehen. Nach einer kurzen Untersuchung bestätigte er den Tod des
Diktators.
In der Presseverlautbarung hieß es: Gestorben durch Gehirnschlag.
Modische Zeiten
Jeden Tag gibt es etwas Neues, es sind modische Zeiten. Gerade tragen die Leute Nasen aus Plastik, da kommt schon der nächste, der hat einen dritten Arm,
einen aus Plastik. Wie interessant und so originell – darauf läuft jeder mit einem dritten Arm herum. Und da kommt einer, der hüpft auf einem Bein, weil das andere Bein angewinkelt in einer
Schlinge hängt, das ist so auffallend, dass es alle nachmachen. Schulen bilden sich, Übungsstudios, es gibt spezielle Hüpfkleidung, Hüpfschuhe und für die Bequemeren eine Auswahl individuell
geformter Krücken.
Reichere könne sich sogar etwas Besonderes leisten: eine Krücke mit integriertem Klappstuhl.
Nur einer macht das alles nicht mit, er ist einfach zu faul dazu. Seine Familie schämt sich für ihn und sein Chef entlässt ihn: er stört die Gemeinschaft, ja,
schlimmer, er boykottiert den Fortschritt, ohne den die Wirtschaft nicht existieren kann.
Ein Journalist schreibt über den Fall und jetzt wird es interessant. Der Sonderling wird zu Talkshows eingeladen, erst sind alle verwirrt, dann begeistert. Der Mann
ist ja glücklich mit seiner Masche! Und so, mit seiner fleischigen Nase, keinem dritten Arm und dem Gehen auf zwei Beinen, das sieht doch ganz originell aus.
Und sogleich machen sie ihn nach. Das Natürlichsein kommt wieder in Mode.
Als der Sonderling merkt, dass er sich nicht mehr von den anderen unterscheidet, setzt er sich eine Augenklappe auf, aber schon machen sie ihm das nach. Überall
laufen Einäugige herum. Darauf steckt er die Füße in Kartons und schlurft so durch die Straßen. Die Leute tun das gleiche. Ein Geschlurfe ist das! Fast schon lauter als der
Verkehrslärm.
Er ist ihr Idol geworden. Und er denkt: Daraus kann man doch bequem ein Geschäft machen. Er stülpt sich eine Perücke über mit täglich wechselnder Farbe, das wird
ein Schlager, er verkauft die Perücken massenweise, steinreich wird er.. Dann hat er es satt. Es war doch mehr Arbeit dabei, als er gdachte hat. Er will wieder so sein wie früher und ein faules
Leben führen. Aber was tun? Die Leute verfolgen ihn geradezu mit ihrer Aufmerksamkeit. Also muss er verschwinden. Und das schafft er – plötzlich ist er weg, er hat sich versteckt, aber keiner
findet ihn.
Die Leute sind sprachlos. Dann sagt erst einer und dann sagen es alle: Das ist ja das Neuste! Verschwinden! Toll! Aber wie hat er das gemacht?
Und die Wissenschaft erhält den Auftrag, ein Mittel zum Verschwinden zu finden.
Wie’s weitergeht? Keine Ahnung. Die Leute gibt es nicht mehr.
Die Wettbrüder
Man nannte sie „Die Wettbrüder“, weil die beiden Brüder oft und gerne miteinander wetteten.
Einmal wetteten sie um die Anzahl der Blätter des Apfelbaums vor ihrem Haus. Um herauszukriegen, wie viele es waren, wollten sie im Herbst die Blätter zählen. Sie
warfen über den Baum eine Plane und banden sie am Stamm fest. Die abgefallenen Blätter würden sie zählen und so sehen, wer von ihnen mit seiner vorausgesagten Zahl am nächsten kam.
Ende August lagen eines Morgens Äpfel und Blätter verstreut auf der Erde. Sie hatten nicht mit den Äpfeln gerechnet. Die Plane war gerissen.
Sofort wetteten sie, wie viele Äpfel dort lagen. Der jüngere Bruder kam mit seiner geschätzten Zahl am nächsten, da verlangten der andere, auch die restlichen Äpfel
in der Plane müssten gezählt werden. Sie nahmen die Plane ab, dabei purzelten weitere Äpfel vom Baum herunter. Sie beschlossen, alle Äpfel noch einmal zu zählen, aber auf eine präzisere und
zugleich bequemere Art: Sie wollten sie einen nach dem anderen in einer Rinne herunter rollen lassen. Im Schuppen stöberten sie nach einer ausrangierten Dachrinne, fanden aber keine. Als sie
wieder ins Freie traten, sahen sie, wie ein Elch sich an den Äpfeln gütlich tat.
Sie jagten das Tier weg und schlossen eine neue Wette ab: ob der Elch am nächsten Tag wiederkäme. Die Männer lauerten bei Tagesanbruch am Küchenfenster, und
tatsächlich, es kam ein Elche zum Apfelbaum, aber hinter ihm kam ein zweiter und dann ein dritter.
Wieder hatte keiner gewonnen, obwohl der eine Bruder behauptete, unter den Elchen wären die beiden von gestern gewesen und darum hätte er gewonnen. Das aber
akzeptierten der andere nicht.
Um sicher zu gehen, dass die nächste Wette klappt, wetteten sie jetzt, wer die nächste Wette gewinnt. Aber was für eine Wette? Während sie noch diskutierten, begann
es zu regnen. Da hatte der ältere Bruder eine Idee: Einen Blecheimer unter das Abflussrohr der Daches stellen und wetten, wie viel Wasser nach einer Stunde darin wäre. Und das taten sie dann
auch.
Bis sie entdeckten, dass der Eimer ein Loch hatte.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann wetten sie noch heute.