Hartmut Heinze
Nachwort aus "Aphorismen von A - Z"
Der Aphorismus hat eine lange Tradition in der abendländischen Literatur. Es handelt sich dabei um eine dichterische Kurzform in Prosa, die mit möglichster Prägnanz eine Wertung, eine gewonnene
Lebenserkenntnis zum Ausdruck bringt. Diese Wertung oder Weisheit gründet viel auf Lebenserfahrung, auf subjektiver Erfahrung, die mit bewusst subjektiven Formulierungen zugleich nach begründeter
allgemeiner Anerkennung tendiert. Meister dieser besonderen Kunst sind
Larochefoucauld, Gracian und Goethe, Lichtenberg, Schlegel und Novalis, Marie v. Ebner-Eschenbach, Nietzsche und
Kafka. Auch Hofmannsthals ,,Buch der Freunde" wäre zu nennen, wenngleich hier die Tendenz zum Abgehobenen vorherrscht, wie sie auch in etlichen aphoristischen Beispielen der
deutschen Romantik zu finden ist.
Realer erscheint die Umsetzung von Erfahrung in die Kunstprosa aphoristischer Reflexion bei dem Franzosen Larochefoucauld und dem Spanier Gracian etwa, was auch
gesellschaftliche Gründe hat. Realer auch erscheint durchaus die Umsetzung analoger Erfahrungen von Harald Schmid durch Harald Schmid: der Arbeiter, der sich als Teil der
deutschen Umwelt der 70er und 80erJahre in allen ihren sozialen und menschlichen Widersprüchen erlebt und erfährt und durch seine Formulierungen auf den Punkt zu bringen sucht, dass aus den
widersprüchlichen Erfahrungen zum produktiven Widerspruch, aber auch zum einverständigen Nachsinnen reizende Maximen und Wegmarken des menschlichen Herzens werden. - Auch an die Wegmarken der
Reflexion eines Martin Kessel, besonders aber an die ,,unfrisierten Gedanken" eines Stanislav Lec, stellvertretend für weitere bedeutende polnische Aphoristiker, ist man hierbei
erinnert.
Wenn auch der Gipfel der natürlichen Einung der Deutschen von Aachen bis Zittau erstürmt ist, nun öffnet sich der Weg in die Ebene des mit Widersprüchen und Problemen gepflasterten Alltags der
schwierigen deutschen Nation; und es sind die Tiere der belehrenden Fabel, die wirklichen Tiere des Geistes - die Bären vom Köllnischen Park, vom Zoo und von Friedrichsfelde, von Torgau, Dessau,
von Bernburg, von Sondershausens Possenturm, aber auch die Raben in Dessau, vor allem der Zauberrabe von Merseburg - es sind die Gestalten dieses natürlichen Geistes, die uns zurufen: „Bewahrt
die Inseln des Geistes und der Reflexion über den Tag hinaus, wandert nach Lindstedt und Lauchstädt, nach Weimar und Wörlitz, filtert aus der wirren Fülle widersprüchlicher Erfahrungen die
bewusst subjektiv gewonnenen Formulierungen, die wir Aphorismen nennen, Gedichte in Prosa, moralische Maximen des Herzens! Harald Schmid ist einer von denen, die es können: auf ihn zu
hören ist sinnvoll und produktiv für den weiteren Weg unseres Geistes in der
Spirale von Zeit und Ewigkeit!“
Dieser Text wurde mit freundlicher Geneltmigung des Autors dem Band ,,Goethes letzter Wanderer, Studien zur deutschen Literatur von Gottfried bis Kafka“
entnommen.