Als ich nach Schweden kam, um dort längere Zeit zu leben, glaubte ich, mit dem allgemeinen Duzen Schwierig-keiten zu bekommen. Aber schon bald merkte ich, wie leicht es ist, auf diese Weise Menschen anzusprechen, egal ob auf einer Behörde, in einem Geschäft, auf der Straße oder in der Nachbarschaft.
Ich lernte das Duzen schnell und verstand, dass dies ein Grund war, warum in Schweden das Leben so entspannt ist und die Menschen so freundlich miteinander umgehen.
Neugierig wollte ich wissen, wie das Duzen begann. Da erzählte man mir eine kleine Anekdote:
Als der König in Stockholm erfuhr, dass in der Landschaft Dalarna sich alle duzten, wollte er das nicht glauben. Er ließ die Kutsche anspannen und fuhr hin. Den ersten Bauern auf dem Feld rief er heran und fragte: „Sag mal, stimmt das, ihr duzt alle?“
„Ja“, antwortete der Bauer, „das stimmt. Wir duzen alle, außer dir und deinem Sohn natürlich.“
Das Du verbreitete sich über ganz Schweden, aber es gab Hartnäckige, die wollten wie bisher einander nur mit der Berufsbezeichnung ansprechen. Das klang dann so: „Könnte der Herr Schornsteinfeger Johansson kommen und den Kamin reinigen?“
Um auch die letzten Du-Verweigerer zum Duzen zu bewegen, gab es in den 50ern des letzten Jahrhunderts eine Bewegung, bei der man sich eine Plakette auf die Brust heftete, darauf stand „Sie können du zu mir sagen.“ Und so setzte sich das Duzen endgültig durch.
Ich lebe wieder in Deutschland und bin irritiert, wie streitlustig und verbiestert wir Deutsche geworden sind. Wie ruhig und leicht war dagegen das Leben in Schweden gewesen.
Könnten wir Deutsche nicht ähnlich entspannt und freundlich miteinander umgehen? Dazu müssten wir uns alle auf gleicher Augenhöhe begegnen und das Vorurteil abbauen, dass es ein oben und unten geben muss. Schließlich leben wir längst in einer Demokratie und nicht mehr zu Kaisers Zeiten.
Also duzen wir uns.
Aber wie soll das gehen, wenn selbst das öffentliche Fernsehen in einem schwedischen Film zu feige dazu ist?
Ich mag die schwedischen Krimis und ich lass mir im Fernsehen keinen davon entgehen. Sie sind gut, oft sogar sehr gut. Plot, Figuren, Landschaft... Alles stimmt.
Und dann fangen die Figuren an zu reden und ich erschrecke: Gott, wo kommen die vielen Deutschen her? Denn in dem schwedischen Krimi wird gesiezt als hätten sich die Schweden in Deutsche verwandelt. Das passt einfach nicht!
So sind die Schweden nicht! Egal ob Minister, Arbeiter, Professor, Polizist, Straßenkehrer, Richter oder Angeklagter, man duzt sich. Einzige Ausnahme: der König und seine Familie. Die duzt man nicht.
Als ich kürzlich in einer Gesprächsrunde vorschlug, bei uns in Deutschland das Duzen einzuführen, gab es heftigen Protest: „Geduzt werden? Einfach so? Und dann noch von einem Fremden? Ich lass mich doch nicht beleidigen!“
„Dann weiß ich ein Land“, war meine Antwort „wo das nicht passieren kann. Versuch mal einen Schweden zu beleidigen, indem du ihn duzt. Er wird dich aufmerksam ansehen und darauf warten, dass du noch was sagst.“
Ja, wie kann man durch das Du beleidigt sein, wenn Duzen zum guten Ton gehört.
Aber offenbar gilt in Deutschland noch immer die Anstandsregel unserer Urgroßeltern: Man siezt sich, wenn man kein Arbeiter ist! Genauer gesagt ist diese Regel also eine Abstandsregel.
Wozu soll die heute noch gut sein? Um auf andere herunter blicken zu können, indem man sie duzt?
Ja, so war das zur Kaiser-Wilhelm-Zeit.
Die ist doch längst vorbei. Also beenden wir das vornehme Gesieze. Es ist, wie gesagt, eine Abstandsregel. Duzen wir uns! So kommen wir einander näher und
verstehen uns besser.
Es müssen ja nicht alle sofort damit anfangen. Wie wär’s, liebes Fernsehen, du gehst voran? Lass die Schweden in ihren Filmen sich so anreden, wie sie’s im Original tun. Nimm ihnen das Duzen nicht, es verfälscht nicht nur den Film, es verfälscht ihren Charakter. Schließlich wollen wir doch Authentisches sehen und nichts Verstümmeltes.
Und keine Angst. Duzen gefährdet weder unsere Sitten, noch beschädigt es das „Deutschtum“. Im Gegenteil. Unser Land wird demokratischer und wir so oft Zerstrittenen werden ruhiger miteinander umgehen.
Ach, könnte ich doch dem Bundeskanzler schreiben: „Lieber Olaf, ich wünsch dir viel Kraft und einen gutenl Erfolg bei deinem Wirken für ein soziales Deutschland! Ich bin ganz auf deiner Seite."
Und er antwortete: „Lieber Dieter! Ich freue mich über deine guten Wünsche! Und Dank dafür, dass du mich unterstützt."
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