Zwar war der zweite Weltkrieg längst vorbei, aber es herrschte der kalte Krieg und das kleine Schweden sah sich von Russland bedroht. Darum pflegte es sein Heer und veranstaltete regelmäßig
Militärmanöver, eines davon fand in Småland statt. Der Auftrag lautete: Ein besetztes Gebiet sollte vom Feind befreit werden. Und das ging so:
Die alarmierte Kampfeinheit aus Halmstad sammelte sich in einem Waldversteck am südlichen Zipfel des Sees Bolmen zum Angriff.
Als erster bekam Leutnant Ekblad, Kommandeur von fünf Panzern, über Funk den Befehl, gegen das von feindlichen Truppen besetzte Unnaryd vorzurücken und diese aus dem Ort zu treiben. Unnaryd lag
nördlich, etwa 20 km entfernt, am See Unnen. Ein direktes Anschleichen nach Norden war unmöglich, das verhinderte ein lang gestrecktes Hochmoor. Er befahl daher, ostwärts vorzustoßen und dann in
Richtung Odensjö einzuschwenken.
Vor Röshult musste er eine neueEntscheidung treffen. Eine Sperre wegen Straßenbauarbeiten ließ die Panzer stoppen. Ein Umleitungsschild wies nach links in einen Waldweg. Eingedenk des
eindringlichen Hinweises seines Generals, den Manöverschaden möglichst gering zu halten, wagte er nicht, die Baustelle einfach nieder zu walzen. Daher gab er den Befehl, in den Waldpfad
einzuschwenken. Nach wenigen Metern empfand er tiefe Genugtuung: Wenn das kein Schleichweg ist, dachte er, dann soll mir der General mal einen zeigen!
Ein wenig besorgt war er schon, denn manchmal musste sein Panzer links oder rechts einen Baum beiseite drücken, andererseits war der Schleichweg optimal. Es sollte ja möglichst realistisch
zugehen, hatte der Oberst erklärt, und, bitte, dachte der Leutnant, jetzt haben wir’s: Plötzlich saß sein Führungspanzer fest.
„An alle: 20 Meter zurücksetzen!“ befahl er über Funk. Während es den Panzern hinter ihm ohne Schwierigkeit gelang, wühlte sich seiner nur noch tiefer in den Sumpf. Schließlich bewegten sich
nicht einmal mehr seine Ketten.
Der nächst stehende Panzer wurde zu Hilfe gerufen. Mit einer Stahltrosse sollte er den stecken gebliebenen Panzer herausziehen, was aber nicht gelang. Nun war der Ernstfall da. Nicht der
russische Feind hatte einen Panzer lahmgelegt und drei weitere zum Stillstand gebracht, sondern der småländische Sumpf.
Das war der Moment, wo Oskar mir einen Eidechsenblick aus seinen Augenwülsten zuwarf. Er stand ganz auf Seiten Smålands. Wie übrigens das ganze Dorf. Wann immer das Militär hier aufkreuzte,
hofften die Dörfler auf einen Abwehrschlag der dunklen Wälder.
Und dieses Manöver war offensichtlich der Beginn einer harten Auseinandersetzung zwischen der Halmstader Garnison und dem Odensjöer Wald.
Davon ahnte der Leutnant nichts. Über Funk informierte er seinen General. Danach hatte der junge Offizier rote Ohren und fluchte mörderisch auf seinen Fahrer, worauf auch dieser zu fluchen
begann: Auf die Russen, auf die Politik, auf die Mücken und auf Småland. Auf Letzteres besonders.
Biwakieren und den Bergungspanzer abwarten, lautete der Befehl. Er sollte am nächsten Morgen aus der entgegengesetzten Richtung zu ihnen stoßen, seltsamerweise war er auch am Nachmittag noch
nicht am Bergungsort. Als sich der Leutnant erkundigte, hörte er erst einen ellenlangen Fluch und dann Folgendes: Der Bergungspanzer sei ebenfalls eingesunken, etwa 2 km von ihnen entfernt.
In der Zwischenzeit stellte man fest, dass es auf dem Weg nach Röshult überhaupt keine Baustelle gab, auch von einer Absperrung war nichts zu sehen.
Der General, ein großer Mann mit Halbglatze und einem Schnauzbart, ohnehin schon stark erregt, empörte sich. Zornig lief er vor den zum Rapport bestellten Offizieren auf und ab. „Arbeiten die
Russen schon mit solchen Tricks?“
Man machte ihn darauf aufmerksam, dass es sich vorläufig nur um ein Manöver handelte. Und witzelnd fügte einer hinzu: Man befände sich keinesfalls im Krieg, sondern bloß in Småland.
Das erheiterte die Männer, auch den General fand seine Laune wieder und sagte: „Jaso! Dann waren das die Trolle!“
Sekunden später wünschte er sich, es wäre richtiger Krieg und die Russen wären schuld. Ihm dämmerte nämlich, um was es sich wirklich handelte: um Sabotage. Unvorstellbar! In keinem Manöverplänen
war das je vorgekommen. Konnte auch nicht. So eine Handlung war einfach nicht schwedisch. Der General wischte sich die feuchte Stirn. Er musste den Vorfall nach oben melden.
Damit bekam die Sache eine hochpolitische Dimension. Der Verteidigungsminister beriet sich mit dem Ministerpräsidenten, dem Außenminister sowie dem Innenminister. Gemeinsam kamen sie zu dem
Ergebnis, die peinliche Sache wie ein Staatsgeheimnis zu behandeln, schließlich wolle man weiteren Saboteuren keine Aufmunterung geben. Eine Sabotage hatte daher offiziell nicht stattgefunden. Es
war ein schlichter Unfall. Die Panzer seien sofort aus ihrer Lage zu befreien und ihrem Standort zuzuführen.
Und damit landete alles wieder bei unserem General. Stolz auf seine langen Beine, hatte er sich angewöhnt, schritt er gerne vor einem Publikum auf und ab. Diesmal rannte er von einer Zimmerwand
zur anderen und merkte nicht einmal, dass kein Zuschauer vorhanden war. Er war zu Recht empört. Eine Unterstützung durch moorerfahrene Pioniere hatte man ihm verweigert, um die Geheimhaltung
nicht zu gefährden. Er musste mit den vorhandenen Soldaten auskommen.
Der General quartierte sich in der Wohnung des Odensjöer Dorfhändlers ein, um von dort die Zurückeroberung der Panzer zu leiten.
Zwar befand man sich noch im Manöver, aber für die Soldaten schien tatsächlich der Krieg auszubrechen. Nicht dass sie ihre Schusswaffen einsetzten, sie kämpften mit Sägen und Äxten und zwei
Baggern. Wie viele Bäume dem zum Opfer fielen, lässt nicht sagen. Wer aber den noch immer vorhandenen Schleichweg findet, wird in einer Senke auf eine merkwürdige Fläche von der Größe eines
Fußballplatzes stoßen, die nur von Krüppelgewächs bewachsen ist. Auf der Südseite zieht sich ein tiefer, langer Graben hin, der auch heute noch in der Regenzeit mit schwarzem Moorwasser gefüllt
ist.
Im Manöverplan tauchte plötzlich ein handgeschriebener Eintrag auf: Es versteckten sich feindliche Agenten im Dorf. Darum befahl der General Hausdurchsuchungen, doch es fanden sich weder ein
Umleitungsschild noch ein Saboteur.
Zwei Tage später zog die erschöpfte Einheit mit dem zurückeroberten Panzer ab. Und niemand im Dorf sprach mehr darüber. Die einen, weil sie nicht begreifen konnten, was da passiert war, die
anderen, weil sie sowieso am liebsten schwiegen.
Auch Oskar schwieg jetzt. War die Geschichte etwa zu Ende? Von Anders war kein einziges Mal die Rede gewesen. Noch immer sagte Oskar kein Wort. Ich stand auf und dankte ihm. Mit einem Fuß stand
ich schon auf der Landstraße, da hörte ich seine Stimme: „Die Geschichte ist noch nicht zu Ende!“ Ich drehte mich um. Die Reuse auf den Knien, den Kopf gesenkt, fingerte er an ihr herum.
Weder blickte er auf, noch sagte er ein Wort, obwohl er genau wusste, dass ich zu ihm hinsah. Und das hieß doch wohl: Jetzt nicht. Ein andermal!
Schon am Abend spürte ich, wie es an der Leine zupfte. Ja, ich musste gestehen: der Haken saß! Am nächsten Tag lief ich wie wund herum, immer mit einem verstohlenen Blick auf Oskars Hütte, aber
er zeigt sich nicht. Endlich, am dritten Tag, winkte er mich zu sich. Er hockte auf der Böschung, zwischen Grasbüscheln und Heidekraut, und starrte in Richtung Kirche, wo eine Trauung
stattfand.
„Siehst du? Sie heiraten. Immer wieder heiraten sie dort.. Kannst du mir sagen warum?“ Auf seinem Grundstück befand sich Odins Grab, jedenfalls hieß es so, und er war der Hüter des Grabes. Ich
verstand seinen Groll: Am Grabe Odins hatte sich noch keine Hochzeitsgesellschaft versammelt, und das wäre doch ein Zeichen der Bußfertigkeit für den grausamen Sieg des Kreuzes über Odin gewesen
„Also die Geschichte.. Jaha...“
Ich lasse die Pausen weg und mache es kurz.
Als der Pastor eines Sonntags die Kirchtür aufschloss, stieß er im Halbdunkel des Vorraums gegen ein Stangengerüst mit dem Schild „Umleitung“. Erst war er verblüfft, dann erschrocken, aber dann
verstand er. Rasch verbarg er die Teile in der Sakristei.
Am Montag lud er die Stangen mit dem Schild in sein Auto und fuhr zu einem Bauunternehmen im Nachbardorf. Mit den Worten, er bringe gestohlenes Diebesgut zurück und gegen eine Spende hätte er
nichts einzuwenden, legte er dem Unternehmer Schild und Stellgerüst vors Haus. Dem war sein Eigentum immerhin 50 Kronen wert.
Auf dem Rückweg fuhr der Pastor zu Anders. Er trat in das kleine Haus mit den grauen Fassadenplatten und fand den Alten am Tisch sitzen, wie er aus einem Bügeleisen eine mobile Herdplatte machte.
Wortlos legt der Pastor die 50 Kronen neben das Bügeleisen. Beide blickten sich an, der etwas füllige Pastor und der magere, kleine Greis.
Nachdem sie sich lang genug angeschwiegen hatten, sagte der Pastor: „Der Eigentümer hat es wieder. Und das hier ist dein Finderlohn.“
„Ich hab das Gott spendiert,“ murmelte Anders.
„In diesem Falle,“ antwortete der Pastor, „gibt Gott dir die Spende zurück. Er ist zwar wie du gegen das Militär. Aber er kämpft mit offenem Visier.“
Der Pastor hatte schon die Tür geöffnet, da hörte er Anders piepsige Stimme: „Und, bitteschön, warum gibt es noch immer das Militär?“
Für eine Weile stand der Pastor still an der Tür, dann aber ging er wortlos hinaus.
Manchmal schweigt Gott, selbst wenn ein Pastor um Hilfe ruft.
Siehe auch Schwedisches
Mein Schweden
Tagebuchgeschichten aus Småland
von Dieter Lenz
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