Jürgen Mahrt
8.7.1941 – 25.11.2023
Ein guter Freund, ein guter Autor und guter Nachbar.
Er wird uns fehlen.
Ein Trost:
Seine Stimme, sein Witz und sein Wissen
bleiben bestehenin seinen Geschichten.
.
Die Berliner Singuhr
Tausende versammelten sich im Oktober 2016, einem milden Herbsttag, vor der Parochialkirche in Berlin. Heute bekam die Stadt etwas zurück, was Jahrhunderte zu ihrem Bild gehörte – das
Glockenspiel im Turm der Kirche – von den Berlinern einst Singuhr genannt.
Der Turm wurde 1944 von einer amerikanischen Brandbombe getroffen und legte auch das Glockenspiel in Schutt und Asche. Der Verein „Denk mal an Berlin“ setzte sich für den Wiederaufbau ein und
sein Vorsitzender Hans Wall stiftete 420 000 Euro für die 52 Glocken. Auf der D1, der größten Glocke mit dem tiefsten Ton ist sein Name verewigt.
Das ursprüngliche Glockenspiel oder wie man damals sagte - Carillon - schenkte der erste Preußenkönig Friedrich I. der Kirche 1713. Es war eigentlich für den Münzturm vor dem
Stadtschloss vorgesehen, aber der konnte im sumpfigen Untergrund der Spree keinen Halt finden und stürzte ein. Berlins Probleme mit dem Bauen gibt es also schon seit Jahrhunderten.
Jetzt standen die Menschen dicht gedrängt zwischen Klosterstraße, Waisenstraße und Parochialstraße zur Andacht und dem anschließenden Konzert. Und als Erstes erklang „Der Mond ist aufgegangen“,
das Abendlied von Matthias Claudius, sehr zur Verwunderung der Hörer. Dieses Lied spielte am Abend des 23. Mai 1944 Christian Friedrich Rosendahl als letztes, wenige Stunden
später gab es den Turm nicht mehr. Und der junge Pilot der Wehrmacht verlor sein Leben drei Monate später an der Front, er wurde auf dem Kirchhof beigesetzt.
Jetzt hörten die begeisterten Zuhörer Kirchenlieder, aber auch die Titelmelodie der „Lovestory“ und „Yesterday“ von den Beatles.
Seitdem ist das Glockenspiel viermal täglich zu hören. An besonderen Tagen steigt ein Carilloneur in die über 100 Stufen hoch gelegene Spielstube und gibt ein Konzert.
Wasserstadt
Berlin
Da kommt Besuch aus der Provinz und der will bespaßt werden. Für den Berliner ist das der blanke Stress. Da muss er mit den Gästen losziehen ins Zentrum, auf die
Museumsinsel, in die Nationalgalerie, die Linden hoch zum Brandenburger Tor, auf die Reichstagskuppel; alles Orte, zu denen wir Berliner freiwillig nie hingehen.
Deshalb ein Tipp, wie sich diese Herausforderung für einen Berliner mit seinen Gästen ertragen lässt.
Am Märkischen Ufer – das liegt schräg gegenüber vom Bahnhof Jannowitzbrücke – legen mehrmals am Tag Schiffe ab zur Brückenfahrt. Es geht die Spree aufwärts, durch
den Landwehrkanal und über die Spree zurück. Allein der Kanal hat 37 Brücken, dazu kommen drei Schleusen und das Schiff hat auch eine funktionierende Gastronomie. Die Fahrt dauert drei Stunden,
Sie können sich von Ihrem Besuch erholen oder Sie fahren einfach mit. Denn Reisen bildet ja und seine eigene Stadt vom Wasser aus zu sehen, hat durchaus seinen Reiz.
Der Bau des Landwehrkanals begann 1845 und durchquert die heutigen Bezirke Kreuzberg, Neukölln, Tiergarten und Charlottenburg. Im Revolutionsjahr 1848 stellte der
Magistrat Männer ein, denn „bezahlte Arbeit sollte befriedigend wirken“.
Und schon was gelernt: nicht der Minister Norbert Blüm hat ABM für die von Arbeit freigestellten Ossis erfunden, es waren die Preußen.
Die Eröffnung des Kanals 1850 interessierte den Berliner kaum, er lag ja damals jwd (janz weit draußen).
Heute hat der Wasserweg keine wirtschaftliche Bedeutung mehr außer für die Fahrgastschiffe. Ursprünglich sollte er die Spree entlasten, denn damals wurde Berlin aus
dem Kahn gebaut. Ziegelsteine, andere Baumaterialien, alles kam auf dem Wasserweg in die Stadt. Auf halben Weg gab es sogar einen Hafen – den Urbanhafen, hier mündete der Luisenstädtische Kanal.
Der verband ab 1852 die Spree von der Schillingbrücke mit dem Landwehrkanal und wurde aber 1926 wieder zugeschüttet im Rahmen – Sie werden es erraten – einer ABM.
Am Urbanhafen steht heute ein riesiger Betonklotz, das Urban-Krankenhaus. Das sollten wir uns merken, sonst können wir nicht verstehen, was ein Jugendlicher meint,
wenn er dir mitteilt: „Ich mach dich Urban“.
Aber wir passieren auch Stellen, die von deutscher Geschichte erzählen. Am 15.Januar 1919 wurde die Revolutionärin Rosa Luxemburg ermordet und ihre Leiche in den
Landwehrkanal geworfen.
Fremd in Berlin
Die Berliner müssen der Wahrheit ins Auge blicken – wir werden zur geduldeten Minderheit in unserer Stadt. Das haben wir nun davon, da wollen wir Weltstadt sein und
blicken verächtlich auf die Provinz. Was passiert? Immer mehr Leute kommen nach Berlin und
drängen uns an den Rand.
Wir schauen zu, wie sich die neuen – Mitbürger fällt uns schwer, zu sagen – breit machen.
Es bleibt nur die Schadenfreude für uns, wenn die Dörfler an den Berliner Besonderheiten scheitern. Wer zum Beispiel eine Straße sucht, weil dort eine Wohnung
angeboten wird, hat es nicht so leicht.
Das dürfte in der digitalen Zeit eigentlich kein Problem sein, jeder hat eine passende App auf dem Smartphone und schon ist das Problem gelöst.
Nicht so in Berlin. 1920 wurde aus Berlin Groß Berlin. Es wurden unter anderem die Städte Charlottenburg, Spandau, Köpenick, viele Dörfer und Gemeinden zu
Berliner Bezirken gemacht. Begeistert waren die wenigsten und deshalb war keiner bereit, jetzt mehrfach vorhandene Straßennamen aufzugeben. Und so gibt es die Berliner Straße achtmal, die
Birkenstraße fünfmal, selbst die Kaiserstraße findet sich viermal, obwohl es seit 100 Jahren keinen Kaiser mehr gibt.
Noch ein Beispiel, im Süden und Südwesten von Berlin gab es den Kreis Teltow. Ende des 19.Jahrhunderts war Prinz Handjery der Landrat des Kreises. Er
machte seine Sache offensichtlich gut, so wurden noch zu seinen Lebzeiten mehrere Straßen nach ihm benannt. So sagen sie dem Taxifahrer ihr Ziel. Er bringt sie in die Handjerystraße nach
Adlershof oder nach Friedenau. Sie wissen genau, das ist falsch, ihre Straße liegt in einer ruhigen Villengegend in Zehlendorf. Die gibt dort, aber dann hätten sie die Prinz Handjery Straße als
Ziel angeben müssen.
Um ehrlich zu sein, auch die Berliner haben mit Namen und Ortsbezeichnungen manchmal so ihre Schwierigkeiten. Nach dem Mauerfall gab es das zu beobachten. Am Gendarmenmarkt – der Name hat nichts mit der
Polizei zu tun, aber das ist eine andere Geschichte – steht das von Schinkel gebaute Schauspielhaus. Es wurde im Krieg schwer zerstört, die DDR ließ es wieder aufbauen und als Spielstätte
des Berliner Sinfonieorchesters 1984 eröffnen. Die Mauer war weg, die Westberliner kamen in den Osten, kauften sich Karten für das Schauspielhaus, was hörten sie - Sinfonien und waren
empört. Damit keiner mehr in die Irre geführt wird, heißt das Gebäude jetzt Konzerthaus.
In dieser Zeit wurden die Ostberliner auch des öfteren überrascht, weil ihnen bekannte Straßennamen abhanden kamen. In den Bezirksparlamenten wurde heftig über die nach Kommunisten benannten Straßen gestritten. Aus der Wilhelm Pieck Straße wurde wieder die Torstraße und aus der Dimitroffstraße die Danziger Straße, was den polnischen Mitbürgern nicht so richtig gefiel. Als die Karl-Marx-Allee in Friedrichshain ihren Namen verlieren sollte wurde das gleiche für die Karl-Marx-Straße in Neukölln verlangt. Da war dann Ruhe.
Der Potsdamer Platz
Der Potsdamer Platz ist gar kein Platz, sondern nur eine Straßenkreuzung. Aber die hatte es schon früher in sich. Hier trafen sich
fünf Straßen und machten den Platz zu einem der größten Verkehrsknoten Europas.
Als der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. ab 1732 seine Residenz Berlin erweiterte, legte er drei Plätze fest, das Quarree (Viereck), das Rondell (Kreis) und das
Oktogon (Achteck). Wir kennen sie heute als Pariser Platz, Mehringplatz und Leipziger Platz. Von einem Potsdamer Platz war da keine Rede, er war eine Sandwüste vor den Toren Berlins. Das sollte
sich in den kommenden Jahrhunderten ändern.
Mit der Motorisierung Berlins wuchs sich hier der Verkehr zum Problem aus. Um ihn einigermaßen zu beherrschen, wurden an den einmündenden Straßen auf Holzpodesten
Polizisten stationiert, um mit Handzeichen ein geregeltes Autofahren zu ermöglichen. Der Magistrat erfuhr von neumodischen Verkehrsampeln in New York und schickte eine Delegation zum Studium
derselben in die USA. Er hätte auch ein paar Leute nach Hamburg reisen lassen können, dort gab es auch schon eine Verkehrsampel, aber das war Provinz und von der ließ sich Berlin noch nie etwas
sagen. Als Ergebnis der Reise wurde 1924 am Potsdamer Platz einer der ersten Verkehrstürme in Europa errichtet. Die Farben Rot, Gelb und Grün wurden zwar waagerecht angeordnet, aber ansonsten
funktionierte das ganze wie heute unsere Verkehrsampeln. Auf dem Turm stand ein Polizist, drückte die Knöpfe. Es war ein zugiger und nicht sehr beliebter Arbeitsplatz, später wurde er verglast
und so etwas angenehmer.
Allerdings nahmen die Berliner die Sache nicht so ernst, der Verkehr blieb chaotisch und die Polizisten an den Einmündungen mussten weiter ihren Dienst versehen.
1937 wurde der Turm entfernt. Heute erinnert eine Nachbildung am Rand an diese Zeit.
Auch rings um den Platz tobte das Leben der Stadt. Viele Hotels, Kaufhäuser und Vergnügungstempel wie das legendäre Haus Vaterland entstanden. Aber auch die Politik
hinterließ hier ihre Spuren. Am 1. Mai 1916 riefen Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zu einer Demonstration gegen den Krieg auf. Nach dem Ruf „Nieder mit dem Krieg“ wurde Liebknecht verhaftet
und eingesperrt. Zum 80. Geburtstag von Karl Liebknecht am 13. August 1951 wurde der Sockel für ein Denkmal an der Stelle des Platzes eingeweiht, an der er verhaftet wurde. Das Denkmal
wurde nie vollendet. 10 Jahre nach dem Grundstein lag es im Schatten der Mauer und war nur für Grenzsoldaten der DDR zugänglich. Heute steht der Sockel wieder am Platz.
1945 mit dem Status der Viermächtestadt bekam der Platz eine besondere Rolle. Hier war die einzige Stelle Berlins an der drei Sektoren der Alliierten
zusammentrafen. Der amerikanische, britische und sowjetische (der sich „demokratischer“ nannte) Sektor machte den Platz für die pfiffigen Berliner bedeutsam, hier war bis zur Währungsreform 1948
der größte Schwarzmarkt der Stadt. Denn wenn die Amerikaner eine Razzia machten, war jeder mit einem Schritt im britischen Sektor in Sicherheit. Die Alliierten entschlossen sich nie zu einer
gemeinsamen Aktion – sie waren viel zu sehr an den Geschäften beteiligt.
So gibt es viele Geschichten über den Platz in der heutigen Mitte von Berlin und es kommen neue hinzu. Selbst in der Malerei hat er seine Spuren hinterlassen.
Lesser Ury und Ernst Ludwig Kirchner haben uns Bilder vom Potsdamer Platz hinterlassen. Ury malte 1889 und Kirchner 1914 Szenen des Platzes mit schwarzgekleideten Damen.
Die waren in der Stadt als die Witwen vom Potsdamer Platz bekannt. Der Grund für dieses große Aufkommen trauernder Damen: Im kaiserlichen Berlin war Straßenprostitution strengstens verboten.
Damals gab es in der Nähe des Platzes noch einen Friedhof. Und so waren Damen des ältesten Gewerbes der Welt in ihren Trauerkleidern nicht zu erkennen.
Das hat sich heute natürlich grundlegend geändert, ich meine den Dresscode.
Bei der Polizei
In Berlin gibt es Museen für alle Gelegenheiten. Ich kenne niemand, der sie alle besucht hat, obwohl es jedes Jahr eine ganze Nacht der Museen gibt. Aber daran beteiligen sich auch nicht alle.
Sogar die Polizei besitzt ihre Polizeihistorische Sammlung. Am Sitz des Polizeipräsidenten am Platz der Luftbrücke ist es zu finden. Die Geschichte der Polizei wird seit 1848 mit Uniformen und vielen weiteren Exponaten erläutert. Das kann richtig spannend sein. So werden auch spektakuläre Fälle der Berliner Kriminalgeschichte dargestellt. Die Brüder Sass aus Moabit öffneten in der Zeit der Weimarer Republik mit Schneidbrennern die Tresore von Banken, das waren damals die modernsten Methoden der Einbruchtechnik. 1929 räumten sie die Schließfächer der Diskontobank am Witttenbergplatz aus, dem damals sichersten Tresor in Deutschland.
Auch in der jüngeren Vergangenheit gab es Fälle, die weltweit in die Schlagzeilen kamen und im Museum anschaulich dokumentiert sind. Im Juni 1995 wurde die Filiale der Commerzbank in Berlin-Zehlendorf überfallen und der Tresor ausgeraubt. Als die Polizei die Bank stürmte, waren die Täter durch einen Tunnel längst geflohen. Für dessen Bau hatten sie über ein Jahr gebraucht. Die Anstrengungen wurden mit über 16 Millionen DM belohnt. Die Täter wurden gefasst, von der Beute aber nur ein kleiner Teil.
Für ein weiteres Beispiel Berliner Kriminalgeschichte musste das Museum aber nicht in die Ferne gehen. Im September 2017 wurden die Fenstergitter abgesägt und in aller Ruhe Teile der Sammlung gestohlen. Die Täter sind bis heute flüchtig. Die Polizei hat nichts bemerkt. Aber sie ist schuldlos.
Das Gebäude wird von einem privaten Wachdienst geschützt.
Safari in Berlin
Berlin ist ein Safaripark – aber ohne trennende Zäune zwischen Mensch und Tier. Ich hatte zu diesem Thema schon einmal Bemerkungen gemacht, aber es gibt ja immer wieder Neues zu beobachten.
Vor meinem Fenster steht eine große Pappel, ein Krähenpärchen baut emsig an seinem Nest. Völlig normal für die Jahreszeit, aber wenige Äste weiter ist ein verlassenes Nest einer anderen Krähenfamilie, die weggezogen ist – Stadtluft ist nicht für jeden etwas. Nun hätte ich mir dieses vor der Nase liegende Baumaterial unter den Nagel gerissen. Nicht so die Krähen, die stehen auf Neubau und suchen sich mühsam das Nistmaterial in der Gegend zusammen. Juristisch sehr lobenswert, es gibt doch eine Menge Unterschiede zwischen Mensch und Tier.
Der Fuchs streift immer noch jede Nacht um die Häuser, inspiziert die Papierkörbe und Mülltonnen nach verwertbarer Nahrung. Er sieht gut genährt aus, findet demnach genügend für seinen Lebensunterhalt. Inzwischen sammeln Forscher der Universität die Beobachtungen der Berliner über die Füchse und werden sich wissenschaftlich zu diesem Thema äußern.
Die ältere Dame geht immer noch mit ihrem Kater an der Leine täglich spazieren. Sie ist nicht mehr so gut zu Fuß und würde die Ausflüge gern einschränken, aber das Tier sitzt jeden Tag vor der Wohnungstür und will raus.
Das Verhältnis der Berliner zur Tierwelt ist also unverändert, aber wohl noch verbesserungswürdig. Denn kürzlich las ich einen Aufkleber an einem Auto: „Schützt den Wald! Esst mehr Spechte!“
Gastronomische Spezialitäten
Vor einigen Jahren öffnete in unserer Straße ein Türke seinen Imbiss. Es gab das Übliche. Um sein Geschäft anzukurbeln, lockte er mit dem Sonderangebot: "Döner für eine Mark plus Getränk.“
Mich interessierte das nicht. Beim Vorbeigehen sah ich nur einen leeren Laden, das Geschäft lief wohl schlecht.
Nach ein paar Monaten war es ein italienisches Spezialitätenrestaurant mit Pasta und Pizza, ging wohl auch nicht so gut.
Im Herbst wurde es arabisch, es gab Mujaddara, ein leckeres Linsen-Reis Gericht, gefüllte Artischocken. Stand jedenfalls auf der ausgehängten Speisekarte. Daneben ein Poster mit der Einladung zum arabischen Bauchtanz, der am Sonnabend im Lokal gezeigt wird. Das wollte ich schon immer mal sehen. Ich fand mich am Sonnabend im Lokal ein, bestellte einen Tee und wartete. Mit mir hatten sich noch drei Männer aus der Nachbarschaft eingefunden. Endlich tauchte der Geschäftsführer auf und verkündete, die Tänzerinnen treten erst auf, wenn mindestens zehn Leute anwesend sind. Ich bezahlte und ging.
Jetzt ist es ein japanisches Sushi Lokal. Läuft auch nicht so gut. Das einzige, was über die Jahre gleich geblieben ist sind der türkische Geschäftsführer und sein Koch.
Keiner braucht mich
Vor Jahren waren sie täglich, besonders im Sommer, in der Berliner Innenstadt zu sehen – die Touristen mit dem Blick in ihre Reiseführer und Stadtpläne. Verzweifelt drehten sie sich um die eigene Achse, um dann völlig orientierungslos in die falsche Richtung zu laufen. Mich hat das nicht amüsiert, denn beim Besuch anderer Städte ging es mir ja ebenso. Also versuchte ich zu helfen und sprach die Touristen an.
„Kann ich helfen, wo soll's denn hingehen?“
Daraus entstanden oft schöne Plaudereien, ich konnte mit meinen Kenntnissen prahlen und zugleich erfuhr ich etwas über die Herkunft der Gäste. Manchmal ergab sich ein gemeinsamer Spaziergang, bei dem ich auch etwas Neues entdeckte. Das ist vorbei, das ist Geschichte.
Heute laufen die Besucher mit starrem Blick auf ihr Smartphone durch die Straßen und Plätze, kurz unterbrochen vom Blick auf ein Gebäude oder ein Straßenschild; sie wissen Bescheid, haben alles im Griff und marschieren weiter.
Keiner braucht mich mehr, keiner stellt Fragen, denn alle Antworten haben sie ja auf ihrer App. Aber manchmal kann ich es nicht lassen.
Ein Pärchen auf dem Alexanderplatz schaut nach oben, im Vorbeigehen sage ich: „Das ist der Fernsehturm“.
„Nein das ist der Eiffelturm“, kommt die Antwort.
Sie haben wohl die App von ihrem Besuch in Paris noch nicht gelöscht.
Ich bin kein Berliner mehr.
Und das kam so.
Das Kennzeichen meines neuen Autos fängt nicht mehr mit "B" an, sondern kommt aus einem Provinznest.
Und plötzlich bin ich ein Fremder in der Stadt. Will ich die Fahrspur wechseln, gibt es Schwierigkeiten.
Offensichtlich ist der Einheimische der Meinung, der Besucher sollte sich langfristig auf den Hauptstadtbesuch vorbereiten und sich rechtzeitig – am besten hinter Wuppertal – einordnen.
Als mir das bewusst wurde, wollte ich auch meinen Spaß haben und begann mich auffällig zu benehmen. Die vorgeschriebenen Geschwindigkeiten hielt ich mit preußischer Disziplin ein. Jetzt ging es richtig los, dem Verkehrshindernis vom Dorf wurde gezeigt, wie in der Metropole gefahren wird. Von rechts und links wurde in den Sicherheitsabstand gefahren; dazu bekam ich Zeichen – alle gerichtsfest als Straftatbestand geführt –, die mir mein unmögliches Verhalten vor Augen führen sollten.
(Übrigens: Blinker müssen von Autofahrern nicht mehr gesetzt werden. Aus Datenschutzgründen dürfen die anderen Verkehrsteilnehmer nicht wissen, wohin ich fahre. Es ist von Vorteil, wenn mir aber das Fahrtziel bekannt ist.)
Ab und an setze ich mich zur Wehr. Nachdem ich rüde überholt werde, biege ich an der nächsten Kreuzung auf einen Schleichweg ab. An der übernächsten Ampel stehe ich vor dem Überholer. Seinen Gesichtsausdruck genieße ich.
Dabei sind wir Berliner, wenn ich aus der Schule plaudern darf, keine besonders guten Autofahrer. Das schreibe ich im Vertrauen auf Ihre Verschwiegenheit und für alle Gäste, die mit Minderwertigkeitsgefühlen unsere Straßen bevölkern.
An jeder Kreuzung zeigt eine Ampel, was wir tun müssen, bei Grün wird gefahren bis auf Radfahrer und Taxis, die können auch bei Rot.
Fällt die Ampel aus, wird es schwierig, wie erkennt man eine Hauptstraße? Und wer hat jetzt Vorfahrt? Der von rechts oder doch der von links?
Fährt der Berliner in die Republik, was er ungern tut, merkt er doch, wie Gäste behandelt werden. Die kleinen Verkehrssünden werden ihm verziehen, freundlich wird Platz gemacht.
Es hat mich immer ein bisschen geärgert, wenn wir ob unseres Kennzeichens als Buletten bezeichnet werden, aber irgendwie verstehe ich die Leute jetzt besser.
Als Berlin am schönsten war
Am Abend umkreisten die Besucher den Reichstag und liefen dann über die Wiese, um einen Blick aus der Totale zu finden. Aber sie gingen nicht weg, weil mit der untergehenden Sonne die Schatten einen anderen Blick auf das Kunstwerk zuließen. Wenn alles gesehen war, lagerten sich Gruppen auf der Wiese, aber auch direkt am Haus, es wurde musiziert, gesungen in vielen Sprachen.
Jeanne- Claude, die mit ihren roten ungebändigten Haaren wirkte, als ob sie in Flammen steht, und Christo, wie der Zwillingsbruder von Woody Allen aussehend, die beiden lehnten jeden Kommerz ab. Es gab keine Verkäufer, keine sonst in Berlin üblichen Händler. Jeder durfte so viel fotografieren, wie er wollte, aber nur für private Zwecke.
Vor 20 Jahren, am 17.Juni 1995 begann etwas Einmaliges, Wunderschönes in Berlin. Aber 21 Tage später war alles vorbei. Ich schreibe von der Verhüllung des Reichstages des Künstlerpaares Jeanne-Claude und Christo. Vorher und nachher habe ich niemals wieder eine solche Stimmung erlebt. Der meckernde, durch nichts zu beeindruckende Berliner war für drei Wochen ausgestorben.
Bereits am ersten Abend kamen hunderte zum Reichstag und wollten nun endlich sehen, was die Verpackungskünstler da anstellten nach dem Motto: „Det soll Kunst sin?“ Und was sahen wir? Nichts.
„Da hat der Kohl das doch noch verboten“, denn die CDU war bis auf Rita Süßmuth ein glühender Gegner des Projekts, sie hatte es über Jahre verschleppt. Aber damit schuf sie schlussendlich etwas Gutes, denn jetzt konnten es alle Berliner aus der Nähe und von allen Seiten bewundern.
Die Christos arbeiteten seit 1971 an dem Werk. Die Kletterer (es sollten keine Kräne oder anderes technisches Gerät beteiligt sein) brachten die ersten Stoffbahnen in den Innenhöfen an. Obwohl die niemand sehen konnte, die Christos sind Perfektionisten. Das war später auch am komplett verhüllten Gebäude zu erkennen; jede Falte, die Christo vorher gezeichnet hatte, war zu sehen.
Warum ich das alles weiß?
Ich war dabei. Die Künstler hatten ein Monitoring eingerichtet. Freiwillige gingen unter die Leute und sollten ihre Fragen beantworten und auch ein wenig verhindern, das einige sich mit Messern und Scheren aus den Stoffbahnen ein Souvenir schneiden. Dafür hatten wir fünfmal fünf Zentimeter große Muster der Stoffbahnen in unseren Taschen, die wir verteilten (nicht verkauften). Wir waren so was von beliebt bei den Besuchern.
Und es hat geklappt, es musste fast nichts repariert werden. Es waren wirklich wunderschöne Tage in Berlin, auch das Wetter spielte mit, es war fast immer blauer Himmel. Ich habe Menschen getroffen, die täglich vorbei kamen und sich nicht sattsehen konnten an diesem silbern glänzenden, ja was sollte es sein, ein Bauwerk? Das war ja verhüllt. Manche schrieben, es sieht aus wie ein gelandetes Ufo. Etwas Überirdisches hatte das Ganze schon.
Ich habe seitdem Berlin nie wieder so friedlich und so entspannt erlebt.
Inzwischen hatte sogar der Berliner Senat erkannt, welch Juwel in der Stadt entstanden war und Eberhard Diepgen bat die Künstler händeringend um Verlängerung, denn im Gegensatz zu ihnen wurde in Berlin prächtig an diesem Ereignis verdient. Die lehnten ab.
Es heißt, fünf Millionen wären am Reichstag gewesen. Wer soll das gezählt haben? Es waren viel mehr. Nie war der Reichstag so schön und nie wieder wird er so schön sein.
Übrigens hat sich Helmut Kohl strikt geweigert, den verhüllten Reichstag anzusehen. Es hält sich aber das Gerücht, dass er bei einem Berlinbesuch den Hubschrauberpiloten angewiesen hat, eine Runde über den Reichstag zu drehen. Was soll‘s.
Tierpark in Berlin
Es geht hier nicht um den Tierpark in Berlin-Friedrichsfelde. Wer darüber etwas erfahren will, braucht nicht weiter zu lesen. Tiere in Zoo und Tierpark sind eine
Seite, die Liebe der Berliner für die Fauna hat aber noch wesentlich mehr Facetten. Ganz oben stehen die Hunde, die lassen wir heute aber außen vor, darüber habe ich mich schon weiter unten
geäußert.
Vor einigen Tagen berichtete die Berliner Feuerwehr über die erfolgreiche Bekämpfung eines Wohnungsbrandes in einem Mehrgeschosser. Der Mieter war nicht da, aber
seine Katze. Die wurde von einem Feuerwehrmann mit einer Sauerstoffmaske vor der Rauchvergiftung gerettet. Darüber wundern sich Berliner nicht, so etwas erwarten sie. Denn die
Tierliebe ist wesentlicher Zug des Großstädters, das hängt wahrscheinlich daran, weil die tierischen Lebewesen meist nur im Fernsehen vorkommen.
Da wird nachts der streunende Fuchs vom Balkon aus gefüttert. Wenn sich der weniger tierliebende Nachbar darüber aufregt, wird er mit Verachtung gestraft. Alte
Damen kaufen von ihrer kleinen Rente frisches Schabefleisch für die verwilderten Katzen, die an den Müllcontainern schon auf sie warten.
In meiner Nachbarschaft geht jeden Tag eine ältere Frau mit ihrem Tier an der Leine spazieren. Nichts Besonderes? Stimmt, aber das Tier ist ein Kater, dem die Tour
sogar Spaß zu machen scheint. Lediglich die Amseln finden das nicht so lustig und begleiten den Ausflug mit ihren Alarmrufen. Sie halten das Tier – auch mit Leine – für weiterhin
gefährlich.
Die Tierliebe wird nicht immer geteilt. Wenn in den Randbezirken die Wildschweine in die vorbildlich gepflegten Gärten einfallen, dann wird daraus schon mal die
blanke Wut. Aber für so etwas gibt es den Wildtierbeauftragten des Senats. Der wird angerufen und um Rat gefragt. Er wird die Schweine nicht erschießen oder vertreiben können, aber es ist gut,
darüber gesprochen zu haben.
Als Einheimischer fällt einem die vielfältige Tierwelt in der Stadt ja nicht mehr so auf, für Gäste ist das doch etwas anderes. Ich war mit einem Gast aus Georgien
im Tiergarten unterwegs. Er kriegte sich nicht ein über die friedlich mümmelnden Kaninchen. Zu Hause erzählte er seinen ungläubig zuhörenden Landsleuten über die größte Attraktion in Berlin. „Die
Kaninchen laufen einfach rum und keiner jagt sie.“
In Ostberlin gab es keinen Wildtierbeauftragten, da gab es Professor Heinrich Dathe, den Gründer und ersten Direktor des Tierparks Berlin.
Jetzt breche ich doch mein Versprechen, nicht über diese Berliner Institution zu schreiben. Aber Dathe war schon eine besondere Persönlichkeit. Obwohl er
einen breiten sächsischen Dialekt sprach und damit dem Berliner eigentlich suspekt war, wurde er verehrt. Wenn es in der Kneipe spätabends über Fragen, die mit Tieren zu tun hatten, zum Streit
kam, dann wurde er angerufen und um Schlichtung gebeten. So konnten wir uns nicht einigen, wo denn die Schwalben sich versammelt haben, als es noch keine Telegrafendrähte gab. Er wusste
es.
Wir sind in den Ferien.
Jetzt ist es wieder passiert. Die Kinder haben Ferien und Berlin ändert den Rhythmus. Morgens komme ich schneller durch die Stadt. Aber damit wir nicht übermütig werden, richtet die S-Bahn jede Menge Baustellen ein. So wird das Wort Schienenersatzverkehr selbst Chinesen geläufig. Denn die urlaubenden Berliner werden nahtlos von den einströmenden Touristen ersetzt. Wer denkt, jetzt ist die Stadt leer, der irrt sich. Viele Straßen verwandeln sich in Baustellen. Wir werden nach der Rückkehr die Schlaglöcher vermissen, aber keine Angst, im Winter sind sie wieder da.
Aber wohin verreist der Berliner? Viele fliegen in den Süden, unsere türkischen Mitbürger in die Heimat der Väter. Wenn Schönefeld fertig wäre, würden es noch mehr sein. Bis zum Bau der Mauer 1961 trafen sich die Berliner an der Ostsee, in Kühlungsborn, auf dem Darss, auf Rügen, aber vor allem auf der Insel Usedom. Westberliner Studenten tauschten 100 DM in der Wechselstube, bekamen dafür 500 Ostmark und verlebten herrliche Wochen auf den Zeltplätzen am Meer. Das war illegal, den jungen Leuten war das schon damals scheißegal. Heraus kam das am 13. August, jetzt war der Rückweg versperrt, viele bekamen Hilfe von Leuten der Kirche.
Danach trennten sich die Urlaubswege der Ost- und Westberliner gezwungenermaßen. Die einen fuhren in die Lüneburger Heide, in den Frankenwald, nach Schweden oder begannen mit der Eroberung Mallorcas. Die anderen konnten sich in ihren Betrieben für einen Scheck im Ferienheim an der Ostsee oder im Thüringer Wald bewerben. Ostsee stand am höchsten im Kurs, da kam man nicht jedes Jahr hin. An zweiter Stelle der beliebtesten Urlaubsziele standen Berlin und seine Umgebung. Sicher, Berlin und sein Umland sind wunderschön, aber da waren wir ja zu Hause. Vor allem die Sachsen aus dem „Tal der Ahnungslosen“– so wurden DDR Bürger genannt, die kein Westfernsehen empfangen konnten – saßen oft den ganzen Tag vor dem Fernseher und fuhren in die Hauptstadt der DDR zum Einkaufen, denn im Schaufenster der Republik gab es vieles, was zu Hause nicht zu bekommen war. Aber in den Seen und in den Wäldern waren die Gäste aus dem Süden schon auch zu finden. Da konnten jedoch Gefahren lauern, zum Beispiel beim Pilze suchen. Der hochgiftige Grüne Knollenblätterpilz ähnelt wohl dem heimatlichen Champignon und wurde manchmal gesammelt und verzehrt. Dann hatten die Ärzte in den umliegenden Krankenhäusern einiges zu tun. Bei älteren Berliner Umlandbewohnern heißt der Pilz seitdem Sachsentöter.
Wohnung mit Balkon
Also ohne Balkon geht gar nichts. Wer eine Wohnung in Berlin zu vermieten hatte und einen Makler damit beauftragte, kennt diesen Satz. Und es gab Zeiten in unserer Stadt – noch nicht so lange her – da gab es mehr Wohnungen als Interessenten dafür.
Aber der erste Satz sagt schon viel über das Verhältnis des Berliners zu seiner Wohnung und vor allem zum Balkon. Der ist einfach wichtig und er hebt den Wohnwert ganz ungemein. Vor 10 Jahren hat das endlich einmal ein Filmemacher erkannt und mit „Sommer vorm Balkon“ diesem Platz eine liebevolle Würdigung zukommen lassen. Und jetzt haben wir ja wieder Sommer in Berlin.
Urlaub auf „Balkonien“ - für manche gibt es mangels Geld keine Alternative - aber er kann schöner sein als auf Mallorca.
Im Frühjahr werden die Blumenkästen bepflanzt, in den meisten Kästen sind die obligatorischen Geranien. Dazu kommen die Töpfe mit Rosmarin, Thymian, Basilikum und Salbei. Petersilie und Schnittlauch sind inzwischen zu gewöhnlich. Abends kommen Freunde. Sie glauben nicht, wie viele Personen auf 8 Quadratmetern nicht gerade Platz, aber sich einfinden können. Dann wird gegrillt, natürlich mit Holzkohle, wir spüren ja immer noch den Neandertaler in uns. Aber Vorsicht, es gibt inzwischen viele Spielverderber in unserer Stadt. Es gibt Gerichtsurteile: zweimal im Monat darf gegrillt werden, wenn die Nachbarn einverstanden sind. In intakten Haugemeinschaften funktioniert das immer noch sehr gut, jeder lädt den Nachbarn ein und wer nicht will, der macht seine Fenster zu. Und dann wird gesungen. Wer noch nie einen solchen Gesang auf Berliner Hinterhofbalkonen erlebt hat, besitzt keine Vorstellung von der phantastischen Akustik.
Einmal wurde daraus in Friedrichshain sogar ein Event – wie es jetzt neudeutsch heißt – gemacht. In Gruppen wurde durch den Bezirk gewandert und jeder konnte auf seinem Balkon singen, was ihm gefiel. Vom Opernsänger bis zum Stimmbrüchigen, alle konnten mitmachen. Muss ein Erfolg gewesen sein, die Zeitungen schrieben darüber.
Aber es gab Zeiten, da trug der Balkon sogar zum Überleben der Berliner bei. Nach 1945 wuchsen keine Geranien, sondern Tomaten in alten Eimern, viele hatten Kaninchen. Der Geruch, der durch den Hof zog im Sommer, war schon gewöhnungsbedürftig.
Als unser Nachbar aber ein Schwein auf seinem Balkon aufzog, da war es dann doch vorbei mit der nachbarlichen Toleranz.
Berliner Hunde
Wenn Sie in Berlin richtigen Streit anfangen wollen, dann bringen Sie das Gespräch auf die Hunde in der Stadt. Es gibt zwei Gruppen: Die Hundefreunde und die Hundehasser. Und wenn Sie sich jeweils als Vertreter der anderen Partei outen, dann haben Sie die schönste Auseinandersetzung. Geraten Sie an einen, dem Hunde egal sind (der selten zu finden ist), dann bringen Sie das Gespräch auf Klaus Wowereit, das ist der Politiker, den seine Karriere weit führte - von Lichtenrade bis nach Berlin-Mitte.
Kommen wir zu den Hundefreunden, ich selbst gehöre zu ihnen. Freunde schenkten mir mal eine Plakette mit der Aufschrift „Staatlich geprüfter Hundefreund“, darauf bin ich stolz, und ich komme mit den Vierbeinern auch ganz gut aus. Es gibt die älteren Hundebesitzer, die dreimal am Tag ihren Hund ausführen, weil der Arzt ihnen Bewegung verordnet und zum Kauf eines Hundes geraten hat. Diese Tiere tun mir meistens leid. Wenn Sie in die blauen Augen eines Huskies gesehen haben, der langsam mit seinem betagten Herrn durch die Straßen tackelt, dann wissen Sie warum. Der Hund braucht jeden Tag einen viele Kilometer langen Ausdauerlauf, den wird er nie kennenlernen. Wenn sich zwei Damen im Park mit ihren angeleinten Begleitern treffen und die sich etwas beschnüffeln können, ist das für sie fast wie Weihnachten. Jetzt soll ein Hundeführerschein in Berlin eingeführt werden, die alten Herrschaften sind schon in heller Aufregung, wie sollen sie den schaffen, wo sie schon froh sind, wenn sie den Heimweg ohne Schwierigkeiten finden.
Die meisten dieser Kategorie sind aber friedlich und unkompliziert, sie haben sogar eine Tüte für die Hinterlassenschaften dabei. Viele verpassen ihren Freunden nachts ein rotes Blinklicht am Halsband, damit Radfahrer sie nicht aus Versehen überfahren. Also über diese Zeitgenossen kann man fast nicht meckern.
Eine große Gruppe der Hunde gehört zu den illegalen Berlinern. Ihre Besitzer bezahlen keine Hundesteuer. Es sind immer Mischlinge, die zum Teil aus abenteuerlichen Paarungen entstanden sind. Sie haben ein bunt gemustertes Halstuch, Hundeleinen kennen sie nicht. Und sie sind sehr klug, kennen die rote Ampel und verhalten sich überwiegend friedlich.
Was die Hundehasser eint, sind die Produkte des Stoffwechselprozesses. Es sollen viele Tonnen sein, die täglich auf den Straßen und vor allem auf den Bürgersteigen landen, und ich kenne niemanden, der nicht schon voll rein getreten ist. Der Berliner kann sich nicht für die Schönheiten seiner Stadt interessieren, er sieht nach unten und umkurvt die Hundehaufen. Besonders kompliziert ist es nach Silvester, weil die Reste der Raketen und Hundekot kaum voneinander zu unterscheiden sind.
Alle bisherigen Versuche, dieses Problem zu lösen, haben sich bisher als untauglich erwiesen. Ich hätte da einen Vorschlag:
Kann man dem Hundefutter nicht Leucht- und Neonfarben beimischen? Dann können wir die Haufen rechtzeitig erkennen. Außerdem bekäme Berlin eine farblich neue Komponente. Und es kommen bestimmt noch mehr Touristen, um auch das zu sehen.
Der zweite Sonntag im Januar
Jedes Jahr am zweiten Sonntag im Januar gehen viele Tausend Berliner und Menschen aus anderen Gegenden Deutschlands zum Zentralfriedhof nach Friedrichsfelde. Das ist der Gedenktag für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die Gründer der KPD. Manche halten das für ein Relikt aus der DDR und betrachten es als eine vorübergehende Erscheinung. Aber dieses Gedenken ist viel älter: seit 1919, als Karl Liebknecht und weitere Opfer der Novemberrevolution 1918 auf diesem Friedhof begraben wurden. Die Leiche von Rosa Luxemburg wurde Monate später im Landwehrkanal gefunden und an der Seite von Karl Liebknecht beigesetzt. Seitdem kommen die Menschen in jedem Januar nach Friedrichsfelde. Unterbrochen nur in den Jahren des Faschismus.
1926 wurde ein vom Architekten Ludwig Mies van der Rohe entworfenes Denkmal für die Opfer der Novemberrevolution von Wilhelm Pieck eröffnet. Pieck war ein Funktionär der KPD und später von 1949 bis zu seinem Tod 1960 Präsident der DDR. Er war es auch, der sich nach 1945 für den Wiederaufbau des Denkmals besonders einsetzte. Die Nazis hatten es 1935 dem Erdboden gleich gemacht.
1951 wurde die Gedenkstätte der Sozialisten am Eingang des Friedhofs eingeweiht. Wilhelm Pieck beteiligte sich intensiv an der Planung und Ausführung der Anlage. Ihm war auch bewusst, dass er hier seine letzte Ruhe finden würde. Seine Frau Christine war während der Emigration in Moskau verstorben. Pieck ließ ihre Urne nach Berlin überführen und hinter der Gedenkstätte in einem Grab beisetzen. So hatte er seine Familie in seiner Nähe.
Wer denkt, auf diesem Friedhof seien nur kommunistische Funktionäre begraben, der sollte einen Besuch einplanen. Er wird die Gräber vieler Persönlichkeiten finden, die Einfluss auf die Geschichte genommen haben.
Und ganz am Ende des Parks ist am Standort des Denkmals für die Opfer der Novemberrevolution eine Nachbildung entstanden.
„Eiserne Weihnachten“
Berlin ist kein Weihnachtsland. Die atheistische Metropole hat anderes zu tun, als sich mit dem Messias zu beschäftigen. Da fährt man ins Erzgebirge, schaut den Schnitzern bei der Arbeit zu und kauft sich einen Schwibbogen.
Aber wenn sich Berliner mit Weihnachten beschäftigen, dann wird es etwas Besonderes. Fahren Sie einen Tag vor dem Heiligen Abend zum Fußballclub Union Berlin an die Alte Försterei in Köpenick. Die "Eisernen"*) haben sich da etwas ausgedacht. Ein Geheimtipp ist das schon seit Jahren nicht mehr. In diesem Jahr waren über 27 000 gekommen. Bei freiem Eintritt, jeder bekommt ein Liederheft, eine Kerze und ein Feuerzeug, werden Weihnachtslieder gesungen. Aber – wir sind ja schließlich in einem Stadion – darunter mischen sich auch die Gesänge, die üblicherweise auf Fußballplätzen zu hören sind.
Es ist ein herrliches Bild, wenn das Flutlicht verlischt, die Ränge nur von den Kerzen beleuchtet sind, auch das Spielfeld ist bis zum letzten Platz gefüllt, der Rasen wird mit einem Kunststoffbelag geschützt.
Inzwischen versuchen andere Vereine, auch ein Weihnachtssingen zu organisieren. Deshalb wird es einst heißen: Wer hat's erfunden? Die "Eisernen" haben es erfunden.
*) Bezieht sich auf den Schlachtruf der Fans "Eisern Union". Den Fußballverein gründeten junge Männer, von denen einige als Schlosser arbeiteten, sie hatten mit Eisen zu tun.
Der 90. Geburtstag
Loriot hat Geburtstag, und da es sein 90. ist, wollen wir ihm die Ehre eines Besuches erweisen.
Von Berlin muss man da nicht weit reisen, denn hier hat sich Bernhard-Viktor Christoph-Carl von Bülow seine letzte Ruhestätte ausgesucht, auf dem Waldfriedhof Heerstraße. Und da fängt Berlin wieder an, seine Eigenheiten zu zeigen. An der Heerstraße ist der Friedhof nicht zu finden, der Eingang ist an der Trakehner Allee, der ist aber leicht zu finden, schräg gegenüber vom Osttor des Olympiastadions.
Das Grab konnten wir aber noch nicht besuchen, die Umgebung wurde gerade hübsch gemacht, die Gärtner waren mit Sägearbeiten an den Bäumen beschäftigt und hatten den Zugang mit rotweißen Flatterbändern gesperrt.
Also die Zeit genutzt für einen Rundgang, der sehr zu empfehlen ist. Die Prominentendichte des Waldfriedhofs kann es locker mit anderen Berliner Friedhöfen aufnehmen. In der Mitte liegt ein kleiner See, der sich umwandern lässt und dabei ist ein Gang durch Geschichte von Kunst und Politik möglich. Wir besuchen den Maler Georg Grosz, die Schauspielerin Tilla Durieux, ihren jüngeren Kollegen Horst Buchholz. Auch Grete Weiser hat hier ihre Ruhe gefunden. Der Stückeschreiber und Schauspieler Curt Goetz und seine Gattin Valerie von Martens sind hier zu finden. In ihrer Nähe liegt der Publizist Melvin Lasky, zu Lebzeiten häufiger Gast in Werner Höfers Internationalen Frühschoppen mit sechs Journalisten aus fünf Ländern.
Am Grab von Joachim Ringelnatz wird ihm zu Ehren ein Gedicht aufgesagt:
In Hamburg lebten zwei Ameisen
die wollten nach Australien reisen.
Bei Altona auf der Chaussee
da taten ihnen die Beine weh,
und da verzichteten sie weise
dann auf den letzten Teil der Reise.
Inzwischen haben die fleißigen Arbeiter sich für eine Pause entschieden und wir dürfen zu Loriot. Auf dem Weg zu ihm kommen wir bei Professor Brinkmann aus der Schwarzwaldklinik vorbei, der auch als Klausjürgen Wussow bekannt ist.
Und dann stehen wir vor Victor von Bülow, alle Vornamen passen nicht auf den Stein, obwohl er groß ist, aber dafür das Familienwappen. Er hat sich wirklich einen wunderschönen Platz ausgesucht, mit Blick auf den Sausuhlensee. Der Name hätte wohl auch in einen seiner Sketche gepasst, dann aber gesprochen von Evelyn Hamann mit leichtem S-Fehler.
Loriots Grab ist nicht zu verfehlen, der Rand ist besetzt von vielen gelben Quietschenentchen, genau diese, die Herr Dr. Klöber unbedingt in die Badewanne mit Herrn Müller-Lüdenscheidt mitnehmen wollte. Das sieht die Friedhofsverwaltung bestimmt nicht mit Begeisterung. Ob es Loriot gefallen würde? Sein Enkel findet es schön, wie er in einem Interview mit dem Spiegel sagte.
Wenn Sie Loriot besuchen wollen, dann nehmen Sie nur eine ganz kleine Ente mit, es ist nicht mehr viel Platz.
Die Bernauer Straße
Es war eine ganz normale Straße in Berlin – bis zum 13. August 1961 – die Bernauer Straße. Als Kinder aus Prenzlauer Berg gingen wir sie mehrmals in der Woche entlang auf dem Weg in den Wedding. Denn dort war der Westen, da wurden die spannenden Filme gespielt in zum Teil abenteuerlichen Kinos. Das Geld dafür verdienten wir uns mit Botengängen für Leute aus dem Haus, die nicht nach Westberlin durften. Das waren Staatsangestellte, auch Polizisten, die nicht auf Amizigaretten, Zeitungen und andere Sachen verzichten wollten.
Die Besonderheit der Bernauer erfuhr ich zum ersten Mal im Sportverein. Regelmäßig belehrte uns der Übungsleiter. Er kontrollierte auch unsere Schulnoten, denn Sportler mussten auch in anderen Fächern gut sein und wir sollten nicht nach Westberlin gehen, wobei er leicht grinste. Da meldete sich ein Junge und meinte, auf ihn träfe das nicht zu: „Ich muss doch durch den Westen, wenn ich das Haus verlasse, ich wohne doch in der Bernauer Straße.“ Da hatte er recht. Die Straße gehörte in voller Breite einschließlich der Bürgersteige zum Wedding und damit zum französischen Sektor. Die Häuser auf der südlichen Seite waren aber Bezirk Mitte und der war sowjetischer Sektor.
Die Berliner Verwaltungsgrenzen waren 1920 entstanden mit der Bildung von Groß-Berlin. Es gab 20 Bezirke mit ihren Verwaltungen, die in vielen Fragen selbständig entscheiden konnten ohne die Erlaubnis des Magistrats.
Das alles interessierte keinen Berliner, vor allem keinen im Nordosten der Stadt, wo die Industrieviertel und die Zinskasernen für das Proletariat standen. Es änderte sich am Ende des 2. Weltkrieges mit der deutschen Kapitulation 1945 und dem Untergang des Faschismus. Die künftigen alliierten Stadtkommandanten teilten an Hand der Berliner Verwaltungskarte die Stadt in vier Sektoren. Der Bezirk Mitte kam zum sowjetischen Sektor und der Wedding ging an Frankreich.
Diese Teilung wurde am 13. August 1961 der ganzen Welt dramatisch vor Augen geführt. Die Menschen sahen die Bilder von Verzweifelten, die sich aus den Fenstern der Häuser in den Westen abseilten oder sich in die Sprungtücher der Westberliner Feuerwehr fallen ließen. Bald wurden die Fenster zugemauert, die Bewohner umgesiedelt, die Häuser abgerissen um Platz für die Mauer zu machen.
Aber warum war die Grenze zwischen den Bezirken nicht in der Straßenmitte gezogen, wäre doch irgendwie logisch gewesen? War sie zunächst auch, aber das führte zu
Protesten der Anwohner. Denn die Straßenfeger aus Mitte schoben den Schmutz bis zur Straßenmitte, die aus Wedding machten das gleiche, dann gingen sie nach Hause. Wind und Wetter verteilten alles
wieder. Also wurde beschlossen, die ganze Breite geht an den Bezirk Wedding und es gab keinen Streit mehr zwischen den Leuten vom
Müll.
Kleiner Berliner Stadtführer
Nach der Ankunft in Berlin trifft der Tourist auf einen verwegenen Menschenschlag, so jedenfalls hat es Goethe nach seinem Besuch in Berlin niedergeschrieben und dann muss das ja wohl auch stimmen.
Also, sagt sich der Fremde, Vorsicht ist geboten. Doch sehr schnell merkt er mit einer gewissen Enttäuschung: Der echte Berliner ist rar, vielleicht sogar schon ausgestorben. Denn der Dialekt verrät ihn nicht unbedingt. Den üben viele schnell ein, man will ja so schnell wie möglich als Einheimischer gelten.
Erster Hinweis, woran Sie den Berliner erkennen können, fragen Sie nach dem Weg. Wird er Ihnen wortreich erklärt und ist die Auskunft auch noch richtig, dann war es kein Berliner. Der kennt nur seinen Kiez und den Weg zum Arbeitsplatz und zurück, alles andere interessiert ihn nicht.
Auch Kneipenbesuche bringen kaum Erfolg, wobei die Berliner Eckkneipe nicht mehr so leicht zu finden ist. Meist landen Sie - was so aussieht wie eine Kneipe - in einer türkischen oder anderen südländischen Dorfversammlung. Eine Reise durch Berlin ist die preiswerteste Art einer Weltreise.
Wo stecken die Berliner und wo bleibt ihr sprichwörtlicher Witz? Im Radio und im Lokalfernsehen ist kein einheimischer Zungenschlag zu hören.
Fast schon verzweifelt will der Gast die Heimreise antreten. Er hat noch etwas Zeit, also schnell etwas besichtigen. Der nächstbeste Passant wird gefragt: „Wie komme ich zum Zoo?“ Lautet die Antwort: „Als was denn?“
Das war dann ein Berliner.