1
Hätte Martin Falk, Zeitungsfotograf in der großen Stadt, gewusst, was da auf ihn zukommt, wäre er sofort auf die nächste Brücke gerannt, um seine komplette
Kameraausrüstung in den Fluss zu werfen, der sich durch die Stadt schlängelte.
Es war eine besondere Stadt, gespalten durch eine Mauer in einen Ost- und einen Westteil. Seine Wohnung in einem fünfstöckigen Mietshaus mit zwei Seitenflügeln und
Gartenhaus westlich und nicht weit von der Mauer befand sich im Vorderhaus, dritter Stock, hatte zwei Zimmer, eine Küche und ein Fotolabor im "Kabuff", wie man die Kammer nannte, in der man
früher seinen Vorrat an Lebensmittel unterbrachte. Die Erlaubnis dazu gab ihm Jutta Manzoni, die Hausbesitzerin. Ein fremdländischer Name für eine deutsche Frau. Um es kurz zu machen: Ihr
Mann, Gaetano Manzoni, war ein Sizilianer, ehemals Pizzabäcker in Palermo. Er kam 1958 als Gastarbeiter nach Deutschland, arbeitete im Westteil der Stadt bei Osram und lernte Jutta Berg
während eines Haarschnitts kennen, ihr gehörte der Frisiersalon wie das Mieshaus, in dem sich der Laden befand und der durch eine Wendeltreppe mit ihrer Wohnung im ersten Stock verbunden war. Ein
Jahr nach ihrer Bekanntschaft heirateten sie, acht Monate später bekamen sie eine Tochter, sie nannten sie Katja.
Das Haus mit dem Friseursalon hatte Frau Manzoni von ihren Eltern geerbt. 28 Jahre lang habe sie hier geackert, sagte sie eines Tages im Jahre 1989 mit gespitzem
Schmollmund, das sei mehr als genug, ihre Tochter solle den Laden möglichst bald übernehmen, die sei immerhin schon 22 und ausgebildete Friseurin. Bevor Gaetano aus dem Mund, der weit geöffnet
war, einen Laut stoßen konnte, fügte sie hinzu, er solle sich da raushalten, die Sache sei entschieden, basta.
Als dieses einseitige Gespräch stattfand, sprach der Nachrichtensprecher im Radio gerade von einer Wirtschaftskrise in Deutschland.
Es war Anfang November. In der engen Richardstraße war es schon dunkel, dier Laternen gaben nur eien schwache Belöeuchtung,
dafür strahlten die kleinen Läden in den vier- bis fünfstöckigen Mietsäusern wie aufgeklappte Schmuckkästchen.
Auf der drübenschen Seite, direkt gegenüber dem Friseursalon, drang durch das eine mit einer Gardine gänzlich verhüllte Schaufenster das spärliche Licht einer
Bürolampe. Im an deren Schaufenster neben der Eingangstür schimmerte die Illusion eines Luxusgeschäftes - das Spiegelbild von „Juttas Frisiersalon“.
Dahinter gab es weder eine Gardine noch Licht. Wozu auch. Die tellerförmige Deckenlampe hinten reichte völlig aus, um Briketts von Brennholz zu unterscheiden. Und
die sollten tagsüber ruhig gesehen werden, sie standen ja zum Verkauf.
In der Büroecke, hinter der Gardine wie ein Schatten sichtbar, saß die Kohlenhändlerin Erna Kaminzki, im Kiez . „Kohlen-Erna“ genannt. Beim Schein einer Tischlampe, gehüllt in in eine graue abgetragene Strickjacke, vor sich das Ungetüm
einer Rechenmaschine und angestrahlt von einer elektrischen Heizsonne auf dem schwarzfleckigen PVC-Boden, prüfte sie die Tageseinnahmen..
Noch in den 70er Jahren florierte das Geschäft mit vier Kohleschleppern und zwei Kleinlastern. Sie belieferten das ganze Viertel mit allen Sorten von Kohle. Nach
dem plötzlichen Tod ihres Mannes übernahm Erna das Geschäft.
Die Zeiten hatten sich zu ändern begonnen, Ölheizungen ersetzten die Kohlenheizungen. Bis auf einen musste Kohlen-Erna alle Arbeiter entlassen. Notfalls
schleppte sie die Brikettsbündel selbst zu den Mietern in den obersten Stock. Das tat den Knien nicht gut. Die Leute hatten gut reden, sie musste für die Zukunft ihres Sohnes Klaus
sorgen.
Mittlerweile war er erwachsen und genauso ein Kleiderschrank wie sein Vater. Jetzt lieferte er die Kohlen aus, sie selbst verließ Laden und Wohnung nur noch selten
der Schmerzen in den Kniegelenken wegen.
Die Glocke über der Eingangstür bimmelte, Martin, der Fotograf, trat ein und sprach in Richtung der Tischlampe, er brauche mal wieder Briketts.
„Freut mich, Falkchen.“
Kohlen-Erna hatte eine brüchige, aber kräftige Stimme, manchmal unterbrochen von einem kurzen, trockenen Husten.
„Aber nu mal vernünftig! Lassen Sie sich die Dinger von meinem Jung hochtragen, der hat die Knochen dazu.“
„Nee“, antwortete Martin schon aus dem Lagerraum. „Nehmen Sie mir bloß nicht meinen Sport.“
Als er sich zu den Brikettbündel bückte, berührte ihn etwas am Po. Er drehte sich um. Wie ein schwarzes Ungeheuer ragte Klaus bis zur Brust aus dem Boden. Mit der
linken Hand hielt er die Falltür über dem Kopf, mit der anderen machte er ein Pst-Zeichen und reichte Martin einen Zettel. Lautlos verschwand er wieder.
Martin steckte den Zettel in seine abgewetzte braune Lederjacke, ging nach vorn an den Tisch mit der Bürolampe. Die füllige Kohlenfrau kurbelte an der
Rechenmaschine, die einen Krach machte wie ein Güterzug. Nachdem er bezahlt hatte, schleppte er die Brikettbündel über die Straße ins Haus und stieg, auf jedem Treppenpodest verschnaufend, in den
dritten Stock hinauf in seine Wohnung.
Beim Anheizen des Kachelofens fiel ihm der Zettel ein. Krakelig geschrieben stand da: „Kommen Sie heut Nacht Punkt 12 mich abholen. Tolle Sache. Keinem verraten.
Können Sie fotografieren für die Zeitung.“
Eigentlich wollte er früh ins Bett gehen und ein Taschenbuch mit Science-Fiction-Geschichten lesen, bis ihm das Buch aus der Hand rutscht. Aber ein selbständiger
Fotoreporter muss jede Gelegenheit zu einem Zeitungsfoto nutzen. Außerdem hatte ihm Klaus beim Einrichten seines Fotolabors geholfen, wobei er durch seine Chemiekenntnisse überraschte. Und wenn
nicht mal seine Mutter von der tollen Sache was erfahren durfte, musste an der Sache was dran sein.
Martin zog unter dem Bett zwei Karton mit Fotos hervor. Er wollte sie nach Themen sortieren, geplant hatte er es schon seit Wochen. In den Radiorecorder schob er
eine Countrykassette.
Sicherheitshalber stellte er den Wecker auf 23.50.
2
Klaus, stumm infolge einer Gehirnhautentzündung im Alter von zwei Jahren, hatte in den letzten Abenden wie die meisten im Westteil der Stadt nur vor dem Fernseher
gesessen. Er sah, wie im Osten der Stadt die Menschen schweigend, aber mit Kerzenlichtern durch die Straßen zogen. Sie wollten die Grenzmauer geöffnet haben, dafür ließen sie sich sogar von der
Polizei einsperren. Das gefiel ihm.
Und was machten sie hier im Westen der Stadt? Sie redeten. In den Büros, in den Kneipen, bei der Arbeit. Das ewegen der Stimmbänder schien ihnen zu genügen. Die
ohne Stimme waren (und es hieß ja im Westen, die im Osten hätten keine Stimme), die mussten mit den Händen reden wie er. Sie mussten handeln. Er, stumm wie sie, gehörte zu ihnen und darum wollte
er jetzt was tun, genau wie sie: mit den Händen. Und in der Zeitung sollten sie darüber berichten. Wer lesen konnte, sollte es lesen. Katja konnte lesen.
Katja, Katja von der drübenschen Seite aus dem Frisiersalon, Katja Manzoni.
Früher hatte sie dunkelbraunes und langes Haar, seit zwei Wochen war es streichholzkurz und blond gefärbt.
Beide kannten sich sozusagen von Geburt an, sie waren derselbe Jahrgang. Bis zur Vorschule wuchsen sie gemeinsam auf. Fast täglich trieben sie sich auf dem
Abenteuerspielplatz herum. Anfangs spielten sie Mann und Frau, ihre Wohnung war der kleine überdachte Ausguck auf dem Klettergerüst.
Eines Tages sagte sie, er solle sie verteidigen, denn da kämen Indianer, ob er sie denn nicht sähe? Klar sah er sie und wedelte furchterregend mit einem Zweig durch
sämtliche Löcher des Ausgucks. Aber bald begann Katja am Sinn seiner Aktion zu zweifeln. Da fielen ja nirgendwo irgendwelche Indianer um. Und so sagte sie zu ihm, er möge lieber Angreifer
spielen, sie würde sich schon selber verteidigen.
Das Spiel spielten sie zweimal, dann wollte er wieder Verteidiger sein. Auf ihre Frage warum, antwortete er sinngemäß in seiner Gebärdensprache: Lieber wolle er
sich mit zehn Katzen in einen Schrank sperren lassen, als sie noch einmal erobern zu müssen.
„So ist das also! Feigling!“
Sie war beleidigt, und obwohl sie sich gegenseitig fast in die Zimmer gucken konnten, blieben sie sich fern. Und dann wuchsen sie heran, zu schnell offenbar, um an
eine Versöhnung zu denken.
Jetzt waren beide erwachsen, und er bewunderte sie mehr denn je. Während er in seiner Welt der Kohlenhandlung blieb, brach sie fast jeden Abend auf zu einer
anderen, von der er nichts wusste. Er sah sie aus der Haustür kommen, in einem sehr kurzen Kleid wie ein Model. Und sich selber sah er im Dunkel der Kohlenhandlung stehen, Hemd und Hose schwarz
von Kohlenstaub, schweißfeucht, und sein Gesicht war bestimmt so schön wie das beim Ungeheuer vom Loch Ness.
Nur manchmal kamen sie sich näher. Alle drei Wochen machte er eine Stunde früher Feierabend, duschte sich, zog die Sonntagsjeans und ein frisches Hemd an (nebenbei
bemerkt: im Sommer ein T-Shirt, da konnte er seine muskulösen Arme zeigen) schritt über die Straße in den Frisiersalon und und ließ sich von ihr die Haare schneiden. Nicht von ihrem Vater, dem
Sizilianer. Mit den Händen erkläre er Katja, zwar habe ihr Vater einiges abgeguckt, aber ein richtiger Friseur sei er noch lange nicht. Als Gaetano Manzoni das hörte, riss er sich das Toupet von
der Halbglatze, schleuderte es auf den Fliesenboden, stampfte darauf herum und schrie, das sei Rassismus, worauf seine Frau ihn zur Seite schubste, das Haarteil aufhob, glättete und ihm auf die
Stirn drückte mit den Worten: „Halt die Klappe, Mann!“ Die Sache endete zwei-zu-eins für Klaus.
Ob Katja wusste, wie gut es ihm tat, wenn sie ihm im Spiegel zulächelte? Und wie leicht ihm alles wurde, wenn er, wie einst in Kindheitstagen, nicht viele Gesten
machen musste, um ihr eine lange Geschichte zu erzählen.
3
Mit einer Ledertasche stand er vor der Haustür, als Martin mit umgehängter Kamera und dem Blitzgerät herauskam. Dunkel und still lag die Straße. Wie glänzende
Kellerasseln standen die Autos unter den Laternen.
Klaus war groß und bärenhaft, Martin eher klein und zierlich. Sie schwiegen. Ein sonderbares stummes Pärchen, das da auf dem Weg war. Wohin? Zur Mauer. Sie
war nicht weit entfernt. Schon nach zehn Minuten waren sie am Ziel.
Drüben, im Ostteil, strahlten die Grenzlichter bis in den schmalen Gang wstlich der Mauer, dass man im Mauerschatten nahezu unsichtbar war.
Zuerst holte Klaus einen Handbohrer aus der Tasche, stemmte ihn in Brusthöhe gegen die Betonwand und kurbelte. Das knirschende Geräusch war lauter als
erwartet.
Dann schob er kleine Glasröhrchen in das Bohrloch.
In diesem Augenblick klapperte es jenseits der Mauer und oben auf der Betonrundung erschien der Kopf eines Grenzsoldaten.
„He! Sie! Was machen Sie da!“
Es blitzte. Martin hatte ein Foto geschossen.
Klaus steckte das Glasröhrchen in das gebohrte Loch, eine Lunte ringelt sich an der Mauerwand herab. Der Kopf verschwand. Ein
Scharren jenseits der Mauer, oben tauchte jetzt ein anderer Kopf auf, einer mit mit Offiziersmütze, das verschattete Gesicht neigte sich zu dem Geschehnis im Dunklen. Ein Feuerzeug flammte
auf.
Sofort verschwand der Kopf. Klaus sauste davon, Martin hinterher, drehte sich aber nach fünfzehn Schritten um und presste die Kamera vors Auge, da knallte es, eine
Staubwolke stieg auf, Betonstücke kollerten über die Straße. In der Mauer war ein großes Loch mit einem Spalt nach oben und unten. Martin machte noch ein
paar Fotos.
„Jetzt aber nischt wie weg!“
Da schob sich die Offiziersmütze durchs Mauerloch und aus dem Dunkel daruntr blaffte es: „Verdammte Idioten! Was soll der
Quatsch! Die Mauer ist längst offen!“
Sie flitzten davon.
Auszug aus Die Stadt, ein Bauhelm und der Atomdoktor
Siehe auch Der Friseursalon