Als er ins Haus trat in einem grauen Pullover und einer grauen verbeulten Leinenhose, machte er auf mich den Eindruck eines scheuen Mannes mit nervösem Blick. Auf unseren Gruß gab er keine
Antwort. Erst als wir ihn fragten, ob er einen Kaffee haben wollte, wir säßen gerade bei Kaffee und Kuchen, sagte er: Nein, danke, er wolle lieber auf sein Zimmer. Er nahm seinen kleinen Koffer
und ich ging ihm voraus die Treppe hoch. Er bekam das Zimmer zur Straßenseite mit der großen Birke vor dem Fenster.
Er hieß Lasse, war 3l Jahre alt und aus Stockholm. Nachts hatte er Tankstellen angeklingelt. War eine Frau am Telefon, überschüttete er sie mit obszönen Worten. Er kam in die Psychiatrie. Danach
suchte man für ihn einen Wohnplatz auf dem Land, wo er in ein neues Leben finden sollte. Gunnars Familie hatte schon früher ähnliche Patienten bei sich aufgenommen und so kam er zu
uns.
Man hatte uns gesagt, er sei ein guter Klavierspieler, darum zeigte ich ihm schon am nächsten Tag das Bibliothekszimmer mit dem Flügel.
Er öffnete sofort die Klaviatur. Mit zusammengesunkenen Schultern, geschlossenen Augen, leicht schnaufend spielte er Mozarts Rondo alla turca, das ich aus der Musikstunde in der Schule kannte,
und dann improvisierte er eine Art Jazz. Plötzlich brach er ab.
Er stöhnte auf. „Ich kann keine Noten lesen! Ich kann es nicht!"
„Unmöglich", sagte ich.
Er schüttelte den Kopf. Sein dünnes Haar flog.
„Seit zehn Jahren will ich an die Musikakademie. Ich will Dirigent werden. Ich hör eine Melodie und dann spiel ich sie nach Aber ich kann keine Noten lesen, darum lehnen sie mich immer wieder
ab."
Er flüsterte mit unterdrücktem Schluchzen.
„Du wirst es schon lernen, Lasse, hier bei uns. Spiel nur weiter. Ich nehm mir ein Buch und lese und du spielst“
Er schlug ein paar Tasten an und ließ die Hände fallen.
„Gott, ist der Junge schwierig“, dachte ich.
„Hör zu, Lasse.“ sagte ich. „Du machst Musik. Wozu Noten lesen? Geht doch ohne. Und nicht jeder kann Dirigent werden"
„Ich kann! Ich kann! Wenn ich nur Noten lesen könnte." Er krampfte die Hände. ,,Nein.. „Es hat keinen Sinn.“ Er sprang auf und lief hinauf in sein Zimmer.
Gunnar wollte ihn in den Wald mitnehmen. Er weigerte sich. Bäume fällen? Mit diesen Händen?
Die nächsten Tage stand er am Fenster, die Stirn an die Scheibe gelehnt und sah auf die leere Sandstraße. Und so leer sah er vermutlich alles um sich herum. Die ganze Welt war Luft für ihn,
bestenfalls ein Klang, ein Ton.
Nach einer Woche sagte er, er wolle zurück nach Stockholm.
Wir baten ihn, noch zu bleiben, wenigstens ein paar Tage. Aber er wollte nicht.
Gunnar telefonierte mit dem Psychiater Er stimmte sofort zu.
Ich stand vor einem Rätsel. Ich fand, Lasses Klavierspiel war fantastisch. Wozu wollte er noch Dirigent werden? Und er wollte zurück nach Stockholm. Was ist schon Stockholm? Nachts zogen hier
Sterne auf, Sterne, wie es sie nur über Odensjö gibt. Und da war der See, der Wald, die Familie im Strandhem mit ihrem Lachen und Streiten. Da war ein ganzes Universum! Aber er starrte auf die
Noten, als gäbe es nur sie.
Als er sich verabschiedete, sahen mich seine Augen schon nicht mehr. Ich wünschte ihm alles Gute, bedankte mich für die Zeit mit ihm und lobte noch einmal ausdrücklich sein Klavierspiel. Ich
hoffte, so würde er sich meiner immer erinnern können.
Wir haben nie wieder etwas von ihm gehört.