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Ausriss aus "883" Nr. 35 v. 9.10.69

Letzte Ausgabe


Dieter Lenz

Der APO-Buchladen

In der Tür Sigi Hirsch, am Schaufenster Dieter Lenz
In der Tür Sigi Hirsch, am Schaufenster Dieter Lenz

1

Wir kamen aus Bremen, der Stadt der Pfeffer­säcke, nach Westberlin. Sigi Hirsch brachte "total", die Literari­sche Il­lustrierte mit. Er war schon eine kleine Berühmtheit: die Post hatte die Beförderung seiner Zeitschrift wegen Porno­graphie verweigert, die Presse bezeichnete ihn als Deutsch­lands jüngsten Verleger. Dabei sei die Ab­bildung reine Kunst gewesen, versi­cherte er mir und blick­te treuherzig durch seine Brille.

In Berlin-Friedenau mietete ich in der Bennigsen­straße, dicht an der Haupt­straße, eine La­denwohnung – der Laden war eine Leihbü­cherei mit einem Schau­fenster und ei­ner angeschlos­sener 2-Zimmerw­ohnung, ziemlich dun­kel und nur mit Kohle be­heizbar. Weil Sigi sei­nen „total-hirsch-ver­lag“ mit ein­bringen wollte, nannten wir den Bücherladen „to­tal-büchershop“.Innen über der Ladentür hatte ich eine Kuhglocke angebracht, beim Öffnen der Tür stieß sie gegen die Glocke, und so konnte ich keinen Kunden verpassen, sollte ich mich in der Wohnung aufhalten..

Die Umgestaltung des Verkaufsraumes ging rasch und problemlos. Wir überklebten die Flecken an den Ta­peten mit Poster. Als erstes ein großformatiges: „Die erogenen Zo­nen der Frau“. Kleine rote Pfeile wiesen bei einer nackten Frau auf auf die ent­sprechenden Stel­len. Gleich daneben klebte ich – in der Meinung, wir dürften das Erotische nicht das Politische überwie­gen lassen – ein Plakat mit den Gren­zumrissen der DDR, auf dem stand in fetter Schrift: „Die erogene Zone“.

Es blieb nicht das einzige Plakat dieser Art. Weil die Sprin­ger-Zeitungen die DDR mit Ausführungs­zeichen aus der Wirk­lichkeit wi­schen wollten und die Altberli­ner noch immer von der Zone spra­chen, wenn sie die DDR mein­ten, tauchten in kurzer Zeit weitere solche Plakate auf. Eines war aus Kar­ton, 2 m lang und zusa­menklappbar. Klappte man es ausein­ander, zeigte es zwei nur mit Stul­penstiefeln be­kleidete junge Frau­en, Rücken an Rü­cken ste­hend. Auf der rech­ten kurz­haarigen, stramm­brüstigen Frau waren die Buch­staben „DDR“ zu le­sen, und auf der linken Brust, die über den Kartonrand ragte, stand „Ber­lin“. Die andere Frau war die BRD-Frau, und über bei­den Frauen­köpfen standen zwei Sprechblasen, die DDR-Frau sagte: „Wills­te?“ Und die BRD-Frau antwor­tete: „Dei­netwegen werd ich doch nicht pervers werden!“

Der Text stammte von Wolfgang Neuß und war, wie der Klappentext bemerkte, Berlins Beitrag zur Wieder­vereinigung: den zänkischen Schwes­tern auf den Leib ge­schrieben.

Und dazu die Poster der Haschrebellen: farben­prächtige Visionen, kauernde Gestalten vor der fernen unter­gehenden Sonne, Blüten­dschungel und dar­in wandelnde Beat­nikpoeten wie Allen Ginsberg, manchmal waren es auch bloß Sprüche, auf den ersten Blick sinnlos oder ko­misch, blieben aber oft im Ge­dächtnis haften: sie hatten eine empfindliche Stelle bei dir ge­troffen oder in dir einen schlafen­den Hund ge­weckt.

Aber auf einmal kamen Schüler und wollten die Post­er kaufen. Aufs angenehmste über­rascht, spannten wir im Ladenraum Schnüre kreuz und quer, klemmten daran Plaka­te und Foto­drucke, und schließlich war es sogar für uns sichtbar: Lenin, Marx, Che Guevarra und Albert Ein­stein (der mit der herausgestreckten Zunge) verbrei­teten in Friedenau die Revoluti­on. Und so ver­kauften wir zu­erst mehr Poster als Bücher.

,,Ihr seid ganz schön mutig", sagte eine Friede­nauer Stu­dentin, die mal kurz herein blickte. Wir waren er­staunt. Davon wussten wir nichts. Bis ich eines Mor­gens wie im­mer die Ladentür auf­schloss. In der Schau­fensterauslage lagen auf den Bü­chern Glasscherben und ein Pflasters­tein. Das Schaufens­ter hatte ein präch­tiges Loch.

„Ein zusätzliches Guckloch“, sagte Sigi, „und eine tol­le Werbung!“ und griff zum Telefon, um es den Ber­liner Zeitun­gen mitzuteilen.

Wenige Straßen weiter wohnte Gün­ter Grass. Wir erfuhren das zufällig und dachten, er würde be­stimmt mal in unserer Buchhand­lung auf­kreuzen. Tat er aber nicht. Und das mag an Sigis Zeit­schrift gele­gen ha­ben, deren Redakteur Klaus M. Ra­risch den Dichter der Blechtrommel mit Texten und Karikaturen pole­misch an­griff. Ich sah Grass nur ein­mal. Das war auf dem Wo­chenmarkt vorm Friedenauer Rathaus. Et­was verlo­ren und, wie mir schien, schlecht gelaunt stand er in ei­nem grauen Wintermantel neben seiner Frau bei einem Ge­müsestand. In der rechten Hand hielt er ein Ein­kaufsnetz mit zwei Lauchstan­gen.

Sigi war sicher, mit ihm kollegial verkehren zu kön­nen und bezog ganz in der Nähe der Grass-Wohnung eine Einzimmer­wohnung in einem Hinterhof. Und be­hauptete danach, er brauche nur auf die Mülltonne zu steigen, dann könne er über die Mauer in die Woh­nung von Gün­ter Grass sehen.

Wir führten die Leihbücherei fort, das hatten wir dem Vormieter versprechen müssen. Die Kunden wa­ren meist ältere Frauen. Tapfer liefen sie an den Plaka­ten vorbei, starr den Blick auf die Ecke mit den Leih­büchern gerich­tet, wir liehen ihnen das Buch für 50 Pfen­nig die Wo­che. Beim Hinausgehen tasteten sie sich fast blind an der Tischreihe entlang zur Ladentür. Auf dem Tisch lagen die Raubdrucke, manchmal fiel einer zu Bo­den, ein verwirr­tes „Oh!“ und sie ho­ben das Buch auf, sie sa­hen den Titel „Die Funktion des Orgasmus“, legten das Buch hastig zurück und ret­teten sich zur Tür.

Bald ka­men immer weniger und mit Genugtuung kün­digte Sigi eines Tages den Vertrag beim Leihbü­chergrossisten. In die leeren Regale stellten wir unsere Bü­cher mit dem „Gesicht“ nach vorn, das sah schön bunt aus und half uns über die Verlegenheit hinweg, dass wir in der ersten Zeit so wenig Titel auf Lager hatten. Au­ßerdem konnten wir auf diese Weise sofort feststellen, wenn mal wieder ein Buch geklaut worden war.

 

2

Der Tabak- und Zeitungsladen zwei Häuser weiter, im Eckhaus zur Hauptstraße, gehörte einem jü­dischen Ehepaar. Sie re­deten nur gedämpft miteinander und ließen sich bei aller Ge­schäftigkeit nicht aus den Augen, selbst wenn ihr Laden – noch kleiner als unserer – von Kunden über­quoll. Als einziger sprach mich der Inhaber wegen des Stein­wurfes an. Ob wir schon wüssten, wer das ge­wesen sei? Nein, sagte ich, und die gerufenen Polizisten hätten nur mit den Schultern gezuckt. Darauf schwieg er. Sei­nen Blick wer­de ich nicht vergessen.

Manchmal lief ihre Tochter, schlank und aufrecht, aufrechter geht's nicht, an un­serem Schaufens­ter vorbei. Jedesmal hatte ich das Gefühl, durch das Glas auf eine andere Welt zu sehn, fremd und verlockend schön. So stolz und leicht gehen zu können! Berührte sie überhaupt den Boden mit den Füßen? Ich stand still und sah ­noch nach draußen, selbst als sie längst verschwunden war. Ich hoffte, sie würde eines Tages in den Laden kom­men und ein Buch bestel­len. Vergeb­ens. Sie war TU-Stu­dentin, sie brauchte wohl keine Bücher der Art, wie wir sie hatten. Es ging das Gerücht, sie wolle nach dem Studium nach Is­rael auswandern.

Wenn sie im Zeitungs­laden ihrer Eltern aus­half, stand sie ker­zengerade hinter dem Tre­sen und während sie mir die Zeitung gab, sah sie über mich hinweg. In ihren Au­gen muss ich sehr klein gewesen sein. Als sie mir einmal wortlos die Zeitung reichte, noch bevor ich darum bitten konnte, kehrte ich verärgert in unseren Laden zurück, und dann brach es aus mir her­aus.

„Das Biest lässt mich spüren, dass ich was andres bin. Ja, was? Natürlich ein Deutscher. Aber doch kein Nazi! Ganz im Gegenteil. War­um gehen wir auf die Straße? Warum haben wir hier die Bücher? Damit sich 33 nicht wie­derholt.“

Sigi war mit dem Layout der nächsten Num­mer sei­ner Zeitschrift beschäftigt.

„Wie einen Wurm sah sie mich an!“

,,Red doch keinen Blödsinn.“ Verär­gert blick­te er auf. „Für sie sind die Nazis doch nur Geschichte. Sie war damals noch gar nicht geboren. Sie weiß alles nur aus Büchern genau wie du!“

Er schob die Blätter zusammen und verstaute sie in die Schublade.

„Mann, du machst mich krank! Das ist nicht lustig. Hör mal. Du bist Mitglied der Apo und die ist lustig! Du hast den Ernst der Lage noch nicht begriffen: Es wird auf dieser Welt zu wenig gelacht. Übrigens, wie viel ist in der Kas­se? Nichts? Gut. Ich werde dem Dru­cker sa­gen, dass ich ihn nach der Revolution bezahle.. Jetzt hab ich Lust auf ein Bier, dafür dank ich dir.“ Ent­zückt hielt er inne, hob bedeutungsvoll die Hand, flüs­terte: „Ich hab gedich­tet! Mein Gott! Ich bin ein Dich­ter.“ Und er wiederholte den Reim mit wechseln­der Betonung, bis ihm was Neues ein­fiel. „Ein Happe­ning! Wir müssen unbedingt ein Hap­pening machen. Wolln wir uns auf den Kudamm le­gen? Mitten im Ver­kehr? Dann kom­men wir in die Zei­tung... Kos­tenlose Wer­bung, mein Lieber!“

Er lachte, verschluckte sich.

Die Jacken­taschen vollgestopft mit Papieren, Fin­ger schnippend und durch die Zähne pfeifend, verließ er den Laden zu einem Treffen mit dem Lyriker Arno Reinfra­nk.

Es ging um dessen neues Buch für den Verlag: „Deutsch­landlieder zum Leierkasten“  mit Karikaturen von Uwe Witt.

*

3

Neben Büchern verkauften wir Schallplatten vom Plä­ne-Verlag und vom Wagenbach-Verlag, wir nah­men sie auf Kas­setten auf und brachten die Lieder über Laut­sprecher in der Woh­nung und im La­den gleichzeitig zum klingen. Noch heu­te tanzt das chilenische ,,Venceremos“ in mei­nen Oh­ren. und ich sitze wieder im Wohnzimmer hin­ter dem Laden im aus­gebeulten Plüsch­sessel. Das einzige Fenster ging zum Hinter­hof, der zwischen zwei Seitenflügeln offen war, dort lagerte ein Berg Kohlen.

Die Dunkelheit des Zimmers konnte aufs Gemüt fallen, aber ich wusste ja, vorn ist ein Laden voll leuchtender Zukunft, jedes Buch, jedes Poster brannte von Revolution, und so saß ich, von Träumen eingesponnen, im ausgebeulten Plüschsessel, den wir vor dem Sperrmüll gerettet hatten,  ein Suhrkamp-Taschenb­uch von Marcuse in der Hand, den ich zwar kaum begriff, aber um so mehr verstand, es war das Einver­ständnis zwischen Jünger und Pro­phet. Beim rhythmischen Klang des Venceremos-Songs entflammte das Dunkel um mich in Chile-Rot und Chile-Blau  und das dun­kelhaarige Volk näherte sich mir, ich sah, wie es tanzte, es tanzte mit blit­zenden Augen.

"Venceremos!"

Plötzlich ein Schatten am Fenster. Laut­los war unser Hauswart aufgetaucht. Er arbeitete als Fahrer bei ei­ner Molkerei,  hauste mit Frau und vier Töchtern im rechten Seitenflügel in einer 2-Zimmer-Wohnung. Nach Feierabend  machte er, manchmal angetütert, im Hin­terhof einen Kontrollgang.

Wir wussten nicht, was wir von ihm halten sollten. Wenn er einen sitzen hatte, lehnte er sich ins offene Fens­ter, lä­chelte zum Zeichen seiner Friedfertigkeit, wir grins­ten zurück – Revolutionär und Arbeiter, sich am Fenster treffend, beide im Misstrauen befangen, so könn­te man das Bild nennen – und er murmel­te, wo­bei sein unruhiger Blick un­serem auswich: „Lest wohl wieder? Mann, so viele Bü­cher .. Ver­steht ihr denn alles?“ Und mit ei­nem Aufblit­zen der Au­gen knurrte er: ,,Ist doch alles Quatsch! Anga­be und Ge­tue das alles! Kein einzi­ger dieser Schreiberlin­ge schuf­tet so wie ich!“

Er schien sich dauernd verteidigen zu wollen. Doch als wir ihm zu­stimmten,  gefiel ihm das gar nicht, er ereiferte sich, fast wurde er wütend.

„Jeden Tag kriegen meine Gören Milch, so viel sie wol­len! Kostenlos! Bring ich von der Ar­beit mit! Und die Miete ist kostenlos! Und wir kriegen Geld für die Kinder vom Staat! Uns geht's gut! Verdammt gut! Nur Idioten wollen das ändern!“

Er hob die Faust, die dicken schwarzen Brauen schnürten sein Gesicht zusammen.

„Ich bin ein Arbeiter und mir geht's verdammt gut! Ver­dammt gut geht's mir! Ich lass mir nichts kaputtma­chen, von den langhaarigen Pennern schon gar nicht!“

Wie aufgedreht lief er vorm Fenster hin und her, knurrend und brab­belnd. Und dann ging im Seitenflügel die Tür auf, seine Frau kam her­aus, sie hatte leuchten­de, blaue Augen, sagte leise ein paar Worte, und er folgte ihr stumm und mit ge­senktem Kopf ins Haus.

Und ich fragte mich beunruhigt, ob er es nicht war, der den Stein in unser Schau­fenster geworfen hatte.

Am nächsten Tag stellte er hastig einen Karton mit Jo­ghurtbechern und Milchtüten in die La­dentür. Schon im Weggehen dreh­te sich noch ein­mal um und rief : ,,Nicht ste­hen las­sen! Gleich essen und trinken... Ist ge­sund!“ Mit ei­nem seltsamen kläglichen Lacher rief er: „Könnt noch mehr davon haben...“

Und mar­schierte Richtung Eck­kneipe.

Solche Kartons kamen immer öfter. Und ich fragte mich: Gab er sie uns, weil er die Scheibe eingeworfen hatte? Weil er sich schuldig fühlte? Und da fühlte ich mich schuldig, weil er sich schuldig fühlte. Auch Sigi nahm die Opfergaben nur noch widerwillig an. Für ihn war ohnenhin nur Bier ein gesundes Lebensmittel, jedenfalls wenn man es täglich zu sich nahm. Und dann wa­ren wir nicht sicher, ob alles mit rech­ten Dingen zu­ging, und schließlich hatten wir täglich  seine Töch­ter vor Au­gen, die im Hin­terhof spielten, dünn und blass, eine wie die andere mit den un­beschreiblich blauen Augen der Mut­ter.

,,Nee, so was“, sagte Sigi, ,,der macht uns noch zu Schma­rotzern!“ Und rülpste entrüstet.

Unser Dank kam nicht mehr so laut. Eines Tages blieb der Milch-Karton aus und kam nicht wieder.

Dafür wurde der Mann aggressiv. Kaum sah er uns, begann er zu schimpfen – und zeigte je­desmal, dass er ein gut in­formierter BILD-Leser war. Einmal, an einem warmen Sommernachmit­tag, trat er an die offene La­dentür. An sol­chen Tagen hielten wir die Tür immer sperr­angelweit of­fen.

,,Noch kein'n Feierabend? Viel Kundschaft heute?“

Er blieb auf der Türschwelle stehen, jagte einen Blick über die im Sonnenschein leuchtenden Poster.

„Mann, habt ihr irre Bilder.. Dürft ihr denn das? Nack­te Frauen aushängen?“

Seine Stimme war schleppend, er war wieder einmal leicht betrun­ken. Plötzlich gab er sich einen Ruck und sprach  in abgebrochenen Sätzen über die letzte Viet­nam-Demonstration mit den Tomatenwürfen auf die Poli­zisten. Und endete mit anklagend erhobener Stimme: „Das geht gar nicht! Leute, die mit Tomaten schmeißen, gehör­en in den Knast. Jawohl!“

Offenbar taten ihm die Tomaten mehr leid als die Polizisten. Vorsichtig sagte ich:

,,Keine Zeitung würde über den Viet­nam-Krieg be­richten, wenn wir nicht zu Tausenden auf die Straße gin­gen. Alles würde totge­schwiegen, die Gräueltaten der Amis, die Bomben, das ganze Gemetzel an Kin­dern und Frau­en, verstehst du? Und typisch, dass die Springerzei­tungen über Tomaten berichten und nicht über die Toten im Vietnam-Krieg...“

Er scharrte mit den Füßen, schielte mich böse, aber doch neugierig an. Ich bekam Auftrieb.

,,Weißt du denn, wer bei den Zeitungen das Sagen hat? Etwa Arbeiter wie du? Nee, die Unternehmer... Die Jour­nalisten sind bloß Handlanger der kapitalisti­schen Klas­se!“

Er lachte höhnisch.

,,Was geht mich Vietnam an... Auch die Kommunis­ten knallen Men­schen ab... Oder etwa nicht? Und eure Demo... Demo... diese Krawalle... Ist doch bloß ein Hei­denspaß für euch! Aber wir Arbeiter schuf­ten! Wir sit­zen im Laster und kom­men euretwe­gen nicht vom Fleck, und wir kriegen Zoff, weil wir die Milch zu spät ablie­fern. Das schafft ihr! Jawohl! Ihr hockt mit eu­ren ungewaschen­en Är­schen auf der Straße und uns schmei­ßen sie dafür raus...“ Ein­lenkend murmelte er: ,,Na, du bist nicht so einer. Du arbei­test we­nigstens... Hast auch keine lan­gen Haa­re.“

Hoppla! Ein Arbeiter mag mich! Genos­sen, seht her! Ich habe ei­nen Arbeiter schon fast zum Freund, ich bin grade dabei, sein Bewusstsein zu heben und ihn in unse­re Massenbe­wegung einzuglie­dern!

Und so sagte ich, ebenso kumpelhaft wie er: ,,Ja... weil sie mir halt ausfallen, siehst du. Aber dir würden sie ste­hen! Du hast prächtiges schwarzes Haar...“

Argwöhnisch sah er mich an.

,,Ich bin doch kein Weib. Oder was denkst du?“

Er schnaufte gekränkt und ging davon.

 

4

Rudi Dutschke sprang auf die Umrandungsmauer des Blumen­beetes am U-Bahnho­f Wittenber­gplatz und redete. Wir waren etwa hundert Leute und dräng­ten uns um ihn. Seine hei­sere, eruptive Kopfstim­me kam stoßweise, in an- und abschwel­lenden Schüben.

Ich sah: Er hatte meine Hoff­nung in den Augen, er hatte meine Unge­duld in seinen Gesten, stundenlang hätte ich ihm zuse­hen, zuhören können, diesem klein­gekrümmten, athle­tischen Red­ner, der über uns hinweg in die Ferne zu sehen schien, immer wei­ter und noch weiter, bis an die Wurzel der Dinge und noch weiter, weil auch die Wurzeln nicht aus dem Nichts entstehen.

Am 11. April 1968, nachmittags, ich wollte gerade in den Bus steigen, drückte mir eine Schülerin ein has­tig abgezogenes Flugblatt in die Hand:

,,Springer erntet seine Früchte! Attentat auf Rudi Dutschke! 4 Schüsse vor dem SDS-Zentrum auf dem Kurfürstendamm auf Rudi Dutschke abgefeuert. Dutschke lebensgefährlich verletzt. Täter gefasst.

ZUR DISKUSSION UNSERER SITUATION: HEUTE 20.00 AUDI MAX TU GROSSVERANSTALTUNG"“

Ich nahm die U-Bahn zum Ernst-Reuter-Platz. Das Au­ditorium war überfüllt, ich stand draußen in der Menge, die Reden kamen durch einen Lautsprecher auf die Straße.

Es war schon Nacht, da hieß es: „Auf zu Sprin­ger!“  Wir stürmten in die U-Bahn. Wie ein erleuchteter Eiszapfen schimmerte das Hochhaus. Den Druckereiarbeitern, als Schatten hinter den Fenstern zu sehen, rief Horst Mahler zu, sie müssten sich mit uns solidarisieren. Und wir skandierten:,,Springer, Mörder! Springer, Mörder!“

Aus dem Dunkel des Parkplatzes flogen die ersten Steine. Scheiben klirrten, die Planen von zwei Bild-Lieferwagen brannten, Martinshörner der Polizeiwa­gen ertönten. Und kaum hundert Meter entfernt stand die Mauer: totenstill und  im Scheinwerfer­licht mondweiß.

Drei Tage später, am Ostersonntag, einem sonnigen Frühlingstag, genossen Touristen am Ku-Damm ein besonderes Schauspiel:

Wie wütende Ameisen wichen wir vor einem Was­serwerfer zu­rück und gleich darauf umwogten wir ihn wieder mit neuer Angriffslust. Einige kletterten auf ihn hinauf und versuchten, seine Ka­none gegen die Polizeikette zu dre­hen.

Andere hielten ein Lattenkreuz gegen den Was­serstrahl, er zersplitterte auf dem Kreuz und den Kör­pern, silbern flogen die Tropfen im Gegenlicht der Son­ne. Mit zusammenge­pressten Augen hielten sie dem Wasser stand, Heilige der Revolution, Verzweifel­te der Re­volution.

Die Revolution war nicht mehr lustig.

Das Foto ging um die Welt. Für uns hatte es dieselbe symbolische Bedeu­tung wie für die Amerika­ner das Foto der GIs, die ihre Flagge in einen japanischen Hügel rammten.

 Auszug aus "68 - Es gab nicht nur Demos"

 

 

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Foto: Nickie Galliner
Foto: Nickie Galliner

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Harald Schmid

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