Dieter Lenz
Eine Geschichte für Kinder
In jedem März kauft Marios Großvater ein Bäumchen und dann geht er mit seinem Freund, dem Förster, in den Wald.
„Opa hat einen Tick!“ sagt Marios Vater.
Als Mario das seinem Opa erzählt, lacht der bloß und sagt: „Mario, willst du mal mitkommen? Groß genug bist du.“
Mario ist gerade sieben geworden und geht in die zweite Klasse.
Ja, sagt er, und obwohl sein Vater ein ärgerliches Gesicht macht, darf er mitgehen, aber vielleicht auch nur deswegen, weil die Mutter sofort zustimmt. Opa ist Mutters Vater.
Dann ist es soweit. Opa hat sich ein kleines Bäumchen mit einem Wurzelballen gekauft und geht mit Mario in den Wald. Sie treffen den Förster, er führt sie an eine Stelle mit einem freien
Himmel darüber und sagt: „Hier kannst du deinen Baum pflanzen!“
Großvater gräbt ein Loch, setzt das Bäumchen hinein und schiebt die ausgebuddelte Erde auf die Wurzeln. Aus dem Rucksack holt er vier Flaschen Wasser, die gießt er darüber und tritt die Erde
fest. Dann gehen sie nach Haus.
In den folgenden Wochen geht Opa an heißen Tagen mit einem Rucksack voller Wasserflaschen in den Wald, um das Bäumchen zu wässern. Mario ist immer dabei.
Und im Herbst zeigt er Mario, wie das Bäumchen schon etwas gewachsen ist. Dann geht er mit Mario etwas tiefer in den Wald. Da steht auf einer kleinen Lichtung ein Baum wie aus Gold gemacht.
Ein Baum mit gelben Blättern und Opa sagt: „Den hab ich gepflanzt, das war vor vielen Jahren, ein paar Tage nach der Geburt deiner Mutter.“
„Der leuchtet ja“, staunt Mario, „wie eine kleine Sonne..“
„Tja“, sagt Opa, „das könnte man meinen. Aber es ist nur ein Baum, ein Ahorn. Da siehst du, wie schön die Welt ist. Und jetzt sag ich dir, warum ich jedes Jahr ein Bäumchen pflanze. Ich will,
dass unsere Welt so bleibt, und ich will, dass die Erde nicht untergeht. Die Erde ist eine der schönsten Kugeln im Weltraum, und die Bäume halten die Erde mit ihren Wurzeln fest, sonst würde sie
runter fallen.“
„So ein Quatsch“, sagt der Vater zuhause. „Der Alte erzählt die reinsten Märchen.. Junge, wie sollen Bäume die Erde festhalten. Wenn die Erde fällt, dann auch die Bäume, denn die können sich doch
nirgends festhalten!“
Das sieht Mario ein und beim nächsten Mal sagt er es seinem Großvater. Der lacht wieder.
„Also weißt du, dein Vater ist einer, der kann sich vieles nicht vorstellen. Er hat nicht genug Fantasie. Natürlich halten sich die Bäume fest! Am Himmel nämlich… Das tun sie mit ihren Ästen, das
kannst du im Winter sehen. Dann sind die kahlen Äste ihre Wurzeln im Himmel, schau dir das mal im nächsten Winter genau an. Und was den Himmel betrifft.. Der muss natürlich schön fest und gesund
bleiben, verstehst du? Man darf ihn nicht kaputt machen durch zu viel Fliegerei! Sonst können sich die Bäume nicht festhalten. Das ist übrigens auch der Grund, warum dein Opa nie mit einem
Flugzeug fliegt!“
Und das sagt Mario stolz seinem Vater, worauf dieser den Kopf schüttelt und nichts anderes sagt als: „Alssso…“ Mit einem ganz ganz scharfen „S“.
Als der Junge das auch in der Schule erzählt, wird er ausgelacht. Die Erde kann keiner festhalten! Dafür ist sie doch viel zu groß. Und einige machen sich sogar lustig über ihn und nennen ihn
„Erdenretter“.
Eines Tages sehen alle im Fernsehen, wie ein Erdrutsch ein ganzes Dorf verschlingt und wie ein Mann in einem Interview sagt: „Ja, hätten sie die Bäume nicht gefällt, dann hätten die mit ihren
Wurzeln die Erde festgehalten.“
Danach verspottet Mario keiner mehr und der Lehrer sagt sogar, sein Großvater solle doch einmal die Schule besuchen und berichten, was er mit den Bäumen macht. Und Opa kommt in die Schule und
sagt, dass er jedes Jahr einen Baum pflanzt, und er zeigt auf Fotos, wie die Bäume größer werden, und viel sind schon so groß geworden, dass ein Mensch sich darunter stellen kann. Und dann
erzählt er, wie wichtig die Bäume sind für die Erde, ja, für die Natur und für die Menschen, für das ganze Leben .. Und dann sagt er noch etwas: dass die Bäume die Luft rein halten, die
verschmutzt wird durch Autoabgase, Fabrikrauch und Düsenflugzeuge.
In diesem Jahr weigert sich Mario in den Urlaub mitzufliegen, des Himmels wegen, er will lieber beim Opa bleiben. Beim nächsten Mal ist auch die Mutter dafür, kein Flugzeug mehr zu benutzen. Sie
machen an der Ostsee Ferien und dorthin kommt man gut mit dem Zug.
Die Jahre vergingen, Mario wurde größer, Opa noch älter, und als als sie im März wieder einmal in den Wald gingen, bat der Großvater Mario, den Baum zu pflanzen. Und der griff den Spaten wie ein
richtiger Mann, hob ein Loch aus, setzte den Baum mit dem Wurzelballen hinein, schaufelte Erde darauf, goss das Wasser darüber und trat die Erde fest.
Auf einmal fragte Opa: „Wirst du das auch machen, wenn ich nicht mehr bin?“
Da erschrak Mario.
„Du musst nicht erschrecken, Mario“, beruhigte ihn sein Großvater, „ich werde immer da sein. Wo immer Bäume sind, da bin auch ich und mit ihren Blättern rede ich zu dir..“
Drei Jahre später starb er.
Als sie in den Sommerferien wieder an der Ostsee waren, saßen sie unter einer Birke bei Kaffee und Kuchen, da kam ein Wind auf und es flüsterte im Baumlaub.
„Das ist Opa, hört ihr?“ sagte Mario. „Er spricht zu uns.“
„Nein, das ist ja verrückt“, sagte sein Vater. „Werd bloß nicht wie dein Großvater!“
Aber die Mutter umarmte ihn.
Im nächsten Jahr pflanzte Mario ein Bäumchen im Wald und in Trockenzeiten fuhr er mit dem Rad und einem Wasserkanister in den Wald, um es zu wässern.
Danach pflanzte er er jedes Jahr einen Baum und das tat er sogar, als er schon auf der Universität war.
Marios Vater schüttelte jedes Mal den Kopf und brummte: „Der Junge hat ja denselben Tick wie dein Vater, ist das ein Erbfehler?“
Dabei sah er Marios Mutter an, die lachte auf, und es war ein Lachen, das Mario an Opa erinnerte.
Siehe auch Das Geheimnis der Wikinger