Als ich zum ersten Mal in Schweden war, tippte ich auf einer Reiseschreibmaschine "Erika" ein Tagebuch, das hier ist eine der Eintragungen:
Als Gunnar heute Nachmittag auf der Wiese liegt, die Hände unter dem Kopf, den Blick zum Himmel gerichtet, ruft Lisa, seine immer geschäftige deutsche Frau: „Du sollst zum Händler gehen!
Einkaufen!“
Und ohne sich zu rühren, kaum hebt er die Stimme, sagt er: „Hab keine Zeit.“
Da lacht sie auf, trocken und zornig, ihr Zopf fliegt von einer Schulter auf die andere. Wenig später zieht sie mit dem einjährigen Lasse im Handwagen Richtung Dorfhändler. Sie kommt zurück, der
Wagen ist beladen mit Lebensmittel für die nächste Woche, Lasse sitzt auf einem Karton Waschpulver, die Beine über dem Wagenrand baumelnd.
Inzwischen hat die Erde zig Millionen km zurückgelegt, der Schatten des Fliederbuschs ist dem im Gras liegenden Mann um 30 cm Zentimeter näher gerückt, und Astrid, die neu geborene, die unter der
Birke im Kinderwagen schlummert, hat zehn Gramm zugenommen.
Wieder bin ich in Schweden, 40 Jahre später, und lebe in einer Hütte am Waldrand. Ich habe Zeit, ich bin Rentner. Am liebsten radle ich durch den Wald, setz mich auf einen Findling und lass mich
von den Bäumen, den Büschen und Kräutern betrachten. Mit Wohlwollen sehe ich zurück und mir wird plötzlich klar, was Gunnar meinte, als er zu seiner Frau „Keine Zeit“ sagte. Es war wohl dies:
Komm, leg dich zu mir, nichts Besseres kann dir passieren, als keine Zeit zu haben.
Ja, ich wünschte, ich hätte in den vergangenen Jahrzehnten keine Zeit gehabt. Die Zeit des Geldverdienens, der Wohlstandssteigerung. Es war eine Kette von Anstrengungen, jede Anstrengung zog eine
neue nach sich. Streich sie aus, was bleibt?
Aber was machte mein schwedischer Freund noch, außer dass er keine Zeit hatte? Klar arbeitete er auch, am meisten im Wald und im Garten. Am liebsten tat er das: Auf der Steintreppe vor
der weit offenen Haustür stehend, sah er zu, wie die Sonne über dem Berg unterging und wie ein Hahn, der sich an keine Zeit hält, rief er mit seiner heiseren Stimme: „Das Leben ist
herrlich!“
Und schenkte dem Dorf und der ganzen Welt ein Stück Zeitlosigkeit.