Als er seine erste Blockhütte baute – ich durfte ihm
dabei helfen – nahm er mich beiseite und flüsterte: „Ich bau noch viele, wirst du sehen! Und dann hänge ich ein großes Schild auf, darauf steht: Für die letzten Vagabunden der Welt!“
Denn er selbst war viele Jahre ein Weltenbummler gewesen. Er baute vier Hütten, aus ihnen machte seine deutsche Frau Ferienhütten für Sommergäste und sie hatte
Recht getan. Wie sonst hätte sie die Familie mit drei Kindern ernähren können.
Gunnar hatte neben seiner Wanderlust noch weitere Eigenarten. Eine davon war sein Pazifismus. Oft sagte er mir, ich solle das Militär abschaffen, dann würde ich
berühmt.
Bei meinem ersten Aufenthalt in Schweden gab es gerade sechs Millionen Einwohner und ich hatte den Eindruck, als würden sich alle persönlich kennen. So wunderte ich
mich gar nicht, als ich eines Tages auf seinem Arbeitstisch einen Brief des schwedischen Verteidigungsministers fand. Der Minister war ein Jugendfreund und Gunnar hatte ihm beim Amtsantritt einen
Brief geschrieben mit der Aufforderung, er solle jetzt das tun, was sie einst besprochen hätten: das Militär abzuschaffen.
Natürlich war die Antwort bei aller Herzlichkeit ablehnend. Man brauche das Militär zum Schutz vor der sowjetischen Armee in der DDR und im Baltikum.
Als wir einmal Fichten fällten, tauchten auf dem Waldweg plötzlich zwei Militärjeeps auf, sofort drückte er mir einen Astknüppel in die Hand und rief:
„Schnell! Jag sie weg!“
„Ja wie denn?“ fragte ich. „Mit dem Ding hier?"
„Lauf nebenher und hau kräftig drauf. Wie bei einem Schäferhund!“
Sonst Fürsprecher aller Tiere, lehnte er deutsche Schäferhunde radikal ab. Vor denen hatte er Angst.
Ich warf den Ast weg und machte mich wieder an meine Arbeit. Und er kniete sich vor die nächste Fichte, um sie mit der Handsäge zu fällen. Mit meiner Reaktion
schien er vollauf zufrieden zu sein.
Da ging mir ein Licht auf. Er war gewiss ein großer Idealist, aber ebenso ein großer Realist. Und dazu ein Schelm. Aber
das Aufregendste an ihm, zumindest für ländliche Verhältnisse in Schweden, war das: er war Kommunist. (Darüber siehe Gunnar macht Politik)
Das sah man ihm nicht an, ganz im Gegenteil. Sommergäste, die ins Strandhem einkehrten, konnten ihn für den Hausknecht halten oder für einen Waldarbeiter, der im Haus ein Zimmer gemietet hatte. Ich hatte den großen Vorzug, ihn nicht nur vorübergehend zu sehen, sondern ihn zu erleben, ja, mit ihm leben zu dürfen.
Wir haben Bäume gefällt, eine Hütte aufgebaut, Netze im See ausgelegt und jede Handbewegung von ihm entrückte mich meiner bisherigen Welt, der Welt der Autos, Schlipse und Büroklammern. Wohin eigentlich? Da war nur noch die Natur. Und mir schien, als käme ich nie an. Ich sank, sank, es war eine angenehme Betäubung, gleichzeitig war ich hellwach und spürte mich mitten im Leben - und dann riss mich in West-Berlin der Studentenaufruhr mit sich, ich geriet in eine anderen Welt. In was für eine? Mir kommt es heute vor, als hätte ich West-Berlin geträumt, Schweden dagegen als Wirklichkeit erlebt.
Heute, nach dem Tod meines Freundes, wird mir an ihm eine zweite und, wie ich meine, tiefere Eigenschaft bewusst. Darin ist er wie Buddha in einem seiner Sutras: ,,Tiefer, grenzenloser
Frieden – das ist die Lehre, die ich erfunden habe. Niemand aber würde mich verstehen. Darum werde ich schweigend in der Wildnis verharren.“
Ich glaube wirklich, er wurde von keinem verstanden, nicht einmal von seiner Familie. Die meisten hielten ihn für ein lustiges Original, andere kritisierten ihn scharf wegen seiner unangepassten
Art. Ja, er war für viele auf den ersten Blick belustigend. Als würde er schlafwandeln, ging er an ihnen vorbei in den Garten mit einem fernen Blick seiner blassgrauen Augen, in den Händen einen
Pflanzentopf, oder er war auf dem Weg in den Wald, die gelbe Bogensäge über die linke Schulter gehängt.
Auch mich erheitert das Bild, aber nicht ohne Bitterkeit, denn ich blieb in Berlin stecken zwischen Mauern und Autoschlangen. Leben in der Stadt.. Was für eine Torheit! Und so trinke ich Augenblicke der Erinnerung. Dann spüre ich das Kratzen von Tannennadeln auf der Haut, ein herbstlicher Ahornbaum flammt auf, ich rieche den Wind vom Bolmen und höre Lisa nach Gunnar rufen. Der ist mal wieder weit weg. Hinter dem Strandhem versank er in eine Pfingstrosenblüte. Und nun steht seine Frau wartend am offenen Küchenfenster. Schließlich zwingt sie ihn mit der Kraft ihrer braunen Augen aus der Versenkung. Und schon tritt er in die Küche, in der Hand eine Schüssel voll Salatköpfe.