Vor mir liegen vergilbte Papiere aus der Zeit vor 40 Jahren. Ich tippte auf einer Reiseschreibmaschine mit Namen "Erika" eine Art Tagebuch, und das waren dann solche Texte:
Und da schimmerte das Brett dunkelbraun, die Splitter wurden zu einem flaumigen Fell. Und dann kam es mir vor, als atmete es. Und plötzlich wusste ich es, ich roch es, ich schmeckte es. Es waren die goldbraunen Wellen der Zeit.
Damals war ich 22 Jahre alt und, na klar, ich las gerade ein Buch über den Buddhismus. In Wirklichkeit wusste ich nichts
von der Zeit, aber ich hatte die Augen eines Kindes, ich war aus einer deutschen Großstadt in ein schwedisches Dorf gekommen und wie die Schweden selber sagen: Schweden ist anders. Für mich war
alles anders, ich kam mir vor wie in ein Märchenbuch gefallen.
Gott sei Dank legte ich das buddhistische Buch bald beiseite, und meine Texte wurden anders, wie zum Beispiel der
hier:
Als Gunnar heute Nachmittag auf der Wiese liegt, die Hände unter dem Kopf, den Blick zum Himmel gerichtet, ruft Lisa: „Du sollst zum Händler gehen! Einkaufen!“
Und ohne sich zu rühren, kaum hebt er die Stimme, sagt er: „Hab keine Zeit..“
Da lacht sie auf, trocken und zornig, ihr Zopf fliegt von einer Schulter auf die andere. Wenig später zieht sie mit dem einjährigen Lasse im Handwagen Richtung Dorfhändler. Sie kommt zurück, der Wagen ist beladen mit Lebensmittel für die nächste Woche, Lasse sitzt auf einem Karton Waschpulver, die Beine pbr den Wagenrand baumelnd.
Inzwischen hat die Erde zig Millionen km zurückgelegt, der Schatten des Fliederbusches ist dem im Gras liegenden Mann um 60 cm Zentimeter näher gerückt, und Astrid, die neu geborene, die unter der Birke im Kinderwagen schlummert, hat zehn Gramm zugenommen.
Das war, wie gesagt, vor 40 Jahren. Wieder bin ich in Schweden, allein in einer Hütte am Waldrand. Ich lese nichts mehr über den Buddhismus. Überhaupt lese ich
wenig. Am liebsten radel ich durch den Wald, setz mich auf einen Findling und lass mich von den Bäumen, den Kräutern, den Büschen betrachten. Ich sehe mit Wohlwollen zurück und mir wird klar, was
Gunnar damals meinte, als er „Keine Zeit“ sagte. Es war wohl dies: Komm, leg dich zu mir, nichts Besseres kann dir passieren, als keine Zeit zu
haben.
Ja, ich wünschte, ich hätte in den vergangenen
Jahrzehnten keine Zeit gehabt. Die Zeit des
Geldverdienens, des Kaufens und Verkaufens, des Steigern des Wohlstands. Anstrengungen, die nicht endeten, jede Anstrengung zog eine neue nach sich. Nimm sie weg, was
bleibt?
Und Gunnar? Was machte er noch, außer dass er keine Zeit hatte? Ich sehe es deutlich vor mir. Er steht auf der Steintreppe vor der geöffneten Haustür, sieht dem Sinken der Sonne über dem bewaldeten Hügel zu und wie ein Hahn, Herr über seine eigene Zeit, schenkt er dem Dorf und der ganzen Welt eine Kostprobe der Zeitlosigkeit, indem er mit krächzender Stimme ruft: „Das Leben ist herrlich!“