Ich habe mich in meine schwedische Ferienhütte zurück gezogen. Vor mir liegen vergilbte Papiere aus der Zeit vor 40 Jahren, als ich hier in einer schwedisch/deutschen Familie Aufnahme gefunden hatte. Eine Art Tagebuch, manches darin ist lustig, manches befremdlich, zum Beispiel diese Notiz:
Und da schimmerte das Brett dunkelbraun, die Splitter wurden zu einem flaumigen Fell. Und dann kam es mir vor, als atmete es. Und plötzlich wusste ich es. Ich roch es, ich schmeckte es. Ich sah die goldbraunen Wellen der Zeit.
Damals war ich 22 Jahre alt. Was wusste ich schon von der Zeit?
In ziemlich blasser Schreibmaschinenschrift ein anderer Text:
Als Gunnar heute Nachmittag auf der Wiese liegt, die Hände unter dem Kopf, den Blick zum Himmel gerichtet, ruft Lisa: „Du sollst zum Händler gehen! Einkaufen!“
Und ohne sich zu rühren, kaum hebt er die Stimme, sagt er: „Hab keine Zeit..“
Da lacht sie auf, trocken und zornig, ihr Zopf fliegt von einer Schulter auf die andere, wie immer in solchen Momenten. Wenig später zieht sie mit dem einjährigen Ulf im Handwagen Richtung Dorfhändler.
Sie kommt zurück, der Wagen ist beladen mit Lebensmittel für die nächste Woche, Ulf sitzt auf einem Karton Waschpulver, die Beine außen baumelnd.
Gunnar liegt immer noch auf der Wiese. Die Erde hat eine weite Strecke zurückgelegt, ein paar Millionen km, der Schatten des Fliederbusches ist dem Mann um 30 cm Zentimeter näher gerückt, und Astrid, die neu geborene, die unter der Birke im Kinderwagen schlummert, hat zehn Gramm zugenommen.
„Keine Zeit..“ Wie bitte? Hätte er nicht aufstehen und einkaufen gehen können? Wo doch so vieles um ihn herum in ständiger
Bewegung ist? Er war doch sonst nicht so träge.
Ich habe erlebt, wie er in der Bucht einen ganzen Nachmittag Bienen aus dem See fischte, sie zum Trocknen auf den Bootsrand in die Sonne setzte, worauf sie zum Ufer surrten. Dann strahlte sein Gesicht. Vögel, die sich einen Flügel gebrochen hatten, pflegte er auf geheimnisvolle Weise gesund, ein sich liebendes Froschpärchen wickelte er vorsichtig aus den Maschen eines Fischernetzes und ließ es schmunzelnd ins Wasser gleiten, blutende Bäume verband er. Und wer ließ auf seinem nackten Arm eine Bremse Blut saugen und freute sich, als sie prallgefüllt davonflog? Und wem brachte man eine kranke Pflanze, um sie gesund pflegen zu lassen? Er hielt seine schwielige Hand unter ein schlaff hängendes Blatt, hob es sanft hin zum Stängel, als wollte er ihm zeigen, wo sein Zuhause ist. Und wer stieg vom Fahrrad und hob es über die Ameisenstraße, um ja keine Ameise zu zerdrücken? Dazu hatte er immer Zeit.
Ja, ich wünschte, ich hätte in den vierzig vergangenen Jahren keine Zeit gehabt. Es war die falsche gewesen! Die Zeit des Kaufens und Verkaufens und des Geld Verdienens, des Wahrens von Wohlstand und Sicherheit. Nichts anderes als Anstrengungen, die nicht endeten, weil jede Anstrengung eine neue nach sich zog. Nimm sie weg, was bleibt?
Was er damals mit „Keine Zeit“ sagen wollte, war wohl dies: Komm, leg dich zu mir, nichts Besseres kann dir passieren, als
keine Zeit zu haben.
Und am Abend stand er wie immer in der offenen Haustür, warf einen Blick über das Dorf und den bewaldeten Hügel, hinter dem die Sonne vbersank. Wie ein Hahn, der durch sein Krähen die Zeit mitteilt und zwar die richtige, schenkte er uns allen eine Kostprobe der Ewigkeit, indem er mit krächzender Stimme ausrief: „Das Leben ist herrlich!“