Gunnar. Ja, was ist das für ein Mensch?
Schwer zu sagen. Man muss ihn erleben.
Wir haben Bäume gefällt, eine Hütte aufgebaut, Netze im See ausgelegt und jede Handbewegung von ihm entrückte mich meiner bisherigen Welt, der Welt der Städte, Schlipse und Büroklammern.
Einmal hörte ich, wie er seinem kleinen Sohn die Stadt erklärte: ,,Also pass auf. Wenn du hier im Dorf über die Straße gehst, musst du nach rechts und links gucken, ob ein Auto kommt ... In der
Stadt musst du nach vier Richtungen sehn. Nach rechts und links wegen der Autos und dann nach oben wegen der Flugzeuge und dann nach unten wegen der U-Bahn ... Jaha ... Und die Luft, die
würde ich lieber nicht einatmen.. Hast du das fantastisch verrostete Fahrrad im Schuppen gesehen? Bernd hat es aus Berlin mitgebracht, wo es immer im Freien stand, in der Berliner Luft. Und da
ist es dick verrostet. Die Stadtluft ist voll Salpetersäure, und die Häuser, die Bäume und die Menschen werden langsam von ihr zerfressen, nicht nur die Fahrräder ... Ja, und die Polizisten hauen
mit Knüppeln auf dich ein, wenn du nicht gehorchst ... Weil ...das ist bei Demonstrationen so, da gehen die Leute auf die Straße, schmeißen Tomaten und warum: weil sie so viel schuften müssen...
Ja, so ist das... Jaha, du ..“
Nach seiner Schilderung der Zivilisation glitt ich wieder ein paar Meter aus meinem alten Leben. Wohin eigentlich? Da war nur noch die Natur. Und mir schien, als käme ich nie an. Ich sank, sank,
es war eine wache Betäubung, ich spürte, sah alles, gab mir keine Mühe, es zu verstehen, und vergaß es, als ich später nach Berlin kam. Aber jetzt, nach zwei Jahrzehnten in der Stadt,
taucht es plötzlich wieder auf.
Fielen mir damals sein spöttische Verstand und das fast lexikalisch Wissen auf, so ist mir heute nach der Lektüre von buddhistischen Schriften seine zweite und tiefere Eigenschaft bewusst
geworden. Er gleicht Buddha in einem seiner Sutras: ,,Tiefer, grenzenloser Frieden – das ist die Lehre, die ich erfunden habe. Niemand aber würde mich verstehen. Darum werde ich schweigend in der
Wildnis verharren.“
Das ist mystisch und lustig zugleich. Ja, belustigend für die, die ihn so schlafwandeln sehen, auch mich erheitert es, aber nicht ohne Bitterkeit, denn ich stecke fest zwischen Mauern und
Autoschlangen. Leben in der Stadt.. Was für eine Torheit! Es häufen sich Augenblicke der Erinnerung. Dann spüre ich Tannennadeln zwischen den Zähnen, der Ahornbaum flammt im U-Bahn-Schacht,
ich rieche den Wind vom Bolmen und höre Lisa nach Gunnar rufen. Der ist mal wieder weit weg und hört nichts. Wenige Schritte vom Strandheim entfernt versank er in eine Pfingstrosenblüte. Und
Lisa, seine Frau, sie steht wartend am Küchenfenster. Schließlich zwingt sie ihn mit der Kraft ihrer braunen Augen aus der Versenkung. Und schon tritt er in die Küche, in der Hand eine Schüssel
voll Salatköpfe.
Ein Alltag mit der Magie des Lebens.