Mit steifen Knochen aufgewacht. Es ist dunkel. Ich schlage den Vorhang beiseite: der Himmel ist grau. Sieht nach Schnee aus.
Ich steige in Jeans und Pullover wie in eine Rüstung, mache Feuer im Herd, brüh mir Kaffee und ziehe mich mit der dampfenden Tasse in mein Zimmer zurück. Das Licht der Leselampe umschließt mich
mit seiner gelben Wärme. Ich bin ein Insekt in einem Bernsteintropfen.
Ich werde lesen, vier Bücher hab ich mir ausgesucht.. Vier spirituelle Getränke, an jedem werde ich nippen..
Die Zeit vergeht ohne Anzeichen einer Veränderung, es ist Spätnachmittag, draußen ist es stockdunkel. Ich bin schon wieder (ehrlich gesagt: noch immer) im Bett, aus der Kassette lockt Dean
Martin mit seiner süffigen Stimme eine Frau in seine Welt, ich überlege genüsslich, ob ich mir einen heißen Kakao machen soll.. Da, ein Rumsen.. Noch mal.. Das muss auf der Terrasse sein.. Ich
geh zur Glastür, schiebe den Vorhang zurück: Ich sehe Gunnar, hinter ihm, im schwachen Licht der Terrassenlampe, steht noch jemand.. Ich lasse sie herein, Gunnar reicht mir ein Glas mit einer
Hyazinthen, ich, im Bademantel, bedanke mich förmlich, der fremde Mann lächelt verlegen. Es ist Sven, Gunnars alter Freund aus Lidhult, sie kommen aus Halmstad, wo sie ein Eishockey-Spiel besucht
hatten. Sven ist etwas korpulent, der Kopf sitzt dicht auf dem Hals, seine dicke Nase ist rot vom Frost oder vom Wein. Ihm ist der späte Besuch sichtlich unangenehm.
Gunnar verwirrt mich, auch wegen der Blume, die so intensiv duftet, dass ich sie in die hinterste Ecke der Hütte stellen muss. Er ist geradezu festlich gekleidet, trägt einen blitzsauberen
blauweißen Pullover und nagelneue Jeans. Bloß dass die Schwellung des Bauches den Hosenstall etwas aufplatzen ließ, was er nicht sehen kann. Es ist ja außer Sichtweite, unterhalb des
Bauches.
Kaum hat er sich in einen Sessel fallen lassen - ich serviere schnell Kekse zum Knabbern - beginnt er zu erzählen und will nicht mehr aufhören. Mehrmals fordert Sven ihn zum Gehen auf, er sagt,
seine Frau warte auf ihn, doch Gunnar ist nicht zu bremsen, sprüht vor Witz und Erzähllust.
Mal sehen, ob ich noch einiges zusammenkriege:
Mit 22 baute er sich einen Kajak aus Brettern und wasserdicht präparierten Bettlaken. Beim ersten Schwimmversuch auf dem See kam Sturm auf, er befand sich weit draußen, plötzlich zog die Leinwand
Wasser, heftig begann er Richtung Ufer zu paddeln, Wind und Wellen wurden immer stärker. Da war es, dass er zum ersten Mal betete, er betete, Gott möge ihn retten.. Die letzten Meter waren
schrecklich, sagt er (und der Schrecken steigt in seine Augen) die Arme schmerzten höllisch, ständig kippte der Kajak nach Lee, die Leinwand schien sich aufzulösen, aber er schaffte es. 5 m vom
Ufer entfernt, auf den Steinen im Wasser, sprang er an Land...
„Na, und dann? Hast du Gott gedankt?“
Verwundert sieht er mich an.
„Nein. Wieso? Ich schaffte es doch...“
Mit anderen Worten: Er hatte ein richtiges Wunder erwartet. Ein Engel würde kommen und ihn über das Wasser tragen und aufs Land heben. Oder aus dem Kajak würde ein langes småländisches Ruderboot,
mit außerhalb des Bootes gestützten Rudern, völlig unsinkbar.... Dass Gott keine Wunder braucht, um Menschen zu helfen, auf den Gedanken kam er nicht.
Ich sage: „Wahrscheinlich hat er dir übermenschliche Kräfte verliehen..“
„Neihein..“ Er schüttelte heftig den Kopf. „Ich war so stark!“
„Jetzt müssen wir aber gehen;“ murmelt Sven und nimmt sich den letzten Keks vom Teller.
„Nein, wart noch.. Gleich... Ich muss noch was sagen..“
Im Jahr darauf war er „on the road“. Mit einem Freund trampte er nach Florenz, er hatte eine Adresse auf einem Zettel notiert, es stellte sich heraus, es war die Adresse einer Gräfin in
einem Schloss, dort wohnten sie ein paar Tage, danach brachen sie auf nach Rom, wo sie sich in einer Außenstelle des Vatikans „vom Pförtner durch die Etagen bis nach oben arbeiteten“, zu einem
Kardinal mit roter Bauchbinde. Sie seien auf einer Pilgerreise, sagten sie, der Kardinal war entzückt, denn Katholiken in Schweden sind in der Diaspora, im Land der Ketzer. Als sie am Schluss
nebenbei erwähnten, sie seien mittellos, verschaffte er ihnen kostenloses Wohnen in einem Hotel mit Marmorbad, bezahlt von der katholische Kirche.
„Moment.. Ihr seid doch Lutheraner? Und warst du nicht schon aus der Kirche ausgetreten? Hat er das nicht gemerkt?“
„Woher denn. Wir knieten uns, als er das machte!“ Feierlich demonstrierte er die Geste des Segnens. „Sogar das Kreuzzeichen machten wir richtig.. Aber den Ring haben wir nicht geküsst..“
Anschließend gingen sie in die Schweiz, wo sie Antroposophen beim Bau eines Gemeinschaftshauses halfen.. Usw.usw.. Ich hoffte, er würde endlich aufhören, ich war erschöpft. Endlich stand Sven
auf, nachdem er noch einen langen Blick auf den Teller geworfen und ich keine Reaktion gezeigt hatte. Gunnar begriff, das war endgültig, und rutschte aus dem Sessel. Ich machte ihnen Licht und
sah sie langsam und leicht schwankend im Schatten der Linde eintauchen.
An Schlaf war nicht mehr zu denken. Also sitze ich hier am Computer und notiere den Vorfall. Jetzt aber Schluss. God natt.