Eine Weihnachtsgeschichte
Für ihn war das Strafrecht mehr Strafe als Recht. Nur so, meinte er, könne man kriminelles Verhalten rechtzeitig stoppen. Darum verurteilte er selbst Ladendiebe zu Gefängnis. Das gleiche tat er
mit denen, die mit ein paar Gramm Marihuana zu viel ertappt worden waren. Man nannte ihn „Richter Gnadenlos“.
Es war auf einem Weihnachtsmarkt, als der Richter im Gedränge bemerkte, dass ihm Geldbörse und Smartphone abhanden gekommen waren.
Sein erster Gedanke: Ein gezielter Anschlag der Unterwelt! Und schone erzitterte er vor Zorn. Dann wankte der Boden unter ihm: das Smartphone! Darauf waren Fotos und Nachrichten gespeichert, die
sein geheimes Leben offenbarten, und das war mehr als schockierend. Denn er hatte Lüste, die im juristischen Sinne zwar nicht verboten waren, aber vernichtend in den Augen der Öffentlichkeit -
erst recht für einen Richter seiner Art.
Zuerst wollte er die Polizei informieren, erkannte aber schnell die Sinnlosigkeit, denn der ihn bestohlen hatte, würde den Inhalts des Smartphones zu nutzen wissen. Schon in der nächsten Stunde
würden die ersten Fotos seiner Ausschweifungen im Internet erscheinen oder bei einer Zeitung landen.
Es gab keinen Ausweg. Er ging nach Hause, suchte sich einen Strick, band ihn ans Fensterkreuz und gerade, als er sich die Schlinge um den Hals legen wollte, klingelte es an der Haustür. Er
wartete. Es klingelte wieder. Erneutes Abwarten. Und wieder klingelte es. Der Besucher wollte offenbar nicht aufgeben, also ging der Richter zur Haustür, öffnete sie. Aber da war niemand. Er sah
sich um, dann entdecket er zu seinen Füßen sein Smartphone. Es lag auf einem Zettel. Er hob beides auf, entfaltete den Zettel und las: „Welch eine weihnachtliche Überraschung! Sie sind auch bloß
ein Mensch. Das Christkind.“
Und das Wunder geschah: er lächelte. Vor allem das Wort „Christkind“ löste etwas in ihm aus, für das er noch nicht benennen konnte. Als in den folgenden Tagen weder im Internet noch in einer
Zeitung etwas über ihn erschien, wusste er, dass er endgültig gerettet war und dass es in seinen künftigen Urteilen mehr um Rettung als um Strafe gehen würde.