Betrachte ich mein früheres Leben, kommt es mir vor wie in Wasserfarben gemalt. Alles fließt ineinander. Vermutlich liegt der Grund darin, dass ich zwei Leben lebte. Nicht gleichzeitig, ich
pendelte von einem ins andere. Jetzt aber habe ich mich für ein Leben entschieden und es hat klare Umrisse, es hat Grenzen … ja, Grenzen, und ich akzeptiere sie. Darin bin ich dem Bullen ähnlich,
der am Elektrozaun stehen blieb und uns einen langen Blick nachsandte. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich jemals mit einem Tier vergleichen würde, noch dazu mit einem Bullen, schließlich ist
wirklich nichts von einem Bullen an mir. Ich meine ja auch nur die Situation. Innerhalb meiner Grenzen bin ich jetzt glücklich und letzten Endes war die grenzenlose Freiheit in Vita Univers nur
eine Droge, deren elektronischer Finger die verschiedenen Zentren meines Hirns berührte und etwas schuf, das ich heute so nennen möchte: ein recyceltes Leben. Dabei besaß ich von Anfang an das
Original.
Mein Name ist Ralf Benedikt, ich bin ein „Staatskind“, also elternlos. Oder, wie es auf der Wand des Speisesaales der Staatskinderfarm geschrieben steht: Mein Vater ist der Staat, meine Mutter
die Menschheit. Wie viele Frauen, die an ihren Neugeborenen nicht interessiert sind, hatte mich eine nach der Geburt dem Staat überlassen.
Man kann es sicher als Witz bezeichnen, dass mein Job darin bestand, männerlosen Frauen zu ihrem Mutterglück zu verhelfen. Ich war Vertreter der staatlichen Samenbank.
Zwei Jahre machte ich es schon, als ich zu Beatrice Bäumler geschickt wurde.
Man hatte mich gewarnt. Sie sei schwierig und eine Opponentin des Staates. Ihr Großvater, Professor Anders Bäumler, war der Gründer der Naturkolonie. Ihre Mutter, verheiratet mit Jacob Bäumler,
dem Sohn des Professors, erkrankte, als das Mädchen zwei Jahre alt war. Über die Art der Krankheit gab es keine Informationen. Nachdem Naturheilmittel nicht halfen, wollte ihr Mann sie in ein
Krankenhaus der Stadt einliefern, sein Vater verhinderte das. Gelingt eine Heilung nicht auf natürlichem Wege, dann ist der Tod eben der Wille der Natur, den gilt es zu respektieren, so lautete
die Maxime des alten Mannes. Noch in der Sterbenacht seiner Frau verließ Jacob Bäumler das Haus, möglicherweise nahm er sich das Leben. Jedenfalls hörte man nichts mehr von ihm. Das Mädchen wuchs
beim Großvater auf. Als dieser starb, war sie 19. Trotz ihrer Jugend wurde sie im selben Jahr in den Vorstand der Naturkolonie aufgenommen.
Vor drei Wochen war sie 25 Jahre alt geworden.
Sie wohnte in einem zweistöckigen Holzhaus in Sichtweite eines Sees. Das Gespräch fand in Parterre in einem Eckzimmer statt mit gläsernen Bücherschränken und einem Flügel. Nach all dem, was ich
wusste, war ich überzeugt, es handele sich um eine Prüfung, einen Test. Womöglich glaubte man im Kolonievorstand, ich überrede die Frauen zu einer künstlichen Befruchtung. Dabei war mir das ganz
egal. Ich meine sogar, man hätte man auf das Angebot verzichten sollen. Wozu war die Naturkolonie überhaupt nütze? Sollte sie doch durch Männermangel zugrunde gehen.
Während ich eingeklemmt in einem Korbsessel saß, der bei jeder Bewegung knarrte, lehnte sie mit dem Rücken am Flügel, die Ellbogen auf der Klaviatur, und starrte mich an.
Ich hielt meine Standardrede. Sie könne sich aus der Samenbank bedienen, die Eigenschaften jedes Samenspenders seien ausführlich dokumentiert. Kosten entstünden ihr keine, im Gegenteil, der Staat
finanziere sogar die Entbindung.
Dann reichte ich ihr das Informationsmaterial, sie stieß sich vom Flügel ab, der gab einen dunklen Ton von sich. Das verwirrte mich, ich zuckte leicht zusammen. Der Korbstuhl ächzte.
Auflachend griff sie nach den Papieren.
„Ich will nicht nur den Samen“, sagte sie, „ich will auch den Mann. Und ich weiß auch schon wen: Sie.“
Das war doch zu albern. Ich klappte meinen Koffer zu, verabschiedete mich und ging.
Die Sonne strahlte, die Bäume waren grün. Frühling, Zeit der Gerüche und Geräusche. Vogellärm und Pollenflug. Warme, dampfende Erde und gerade in diesem Augenblick besprang am Fuß der Haustreppe
ein gelbfarbiger Kater eine Katze, auch das gehört zum Frühling. Das macht mir die Natur nichts sympathischer. Sie kommt mir vor wie ein gefräßiges, krakenhaftes Ungeheuer, ohne Gehirn, aber mit
einer ungeheuren Wut der Begattung und Befruchtung.
Menschen, die dort leben, müssen selbst etwas Triebhaftes und Raubtierhaftes haben. Vermutlich auch ohne Gehirn, wie kann man sonst auf alle Errungenschaften der Moderne verzichten.
Das waren meine Gedanken auf der Rückfahrt in die Stadt.
Nachdem ich meine Besuchsprotokolle von heute an die Zentrale geschickt hatte, machte ich es mir gemütlich. Ich zog mir den Brainer über und loggte mich ins Spiel „Vita Univers“ ein. Durch den
Kontakter mit dem Gehirn verbunden, simulierte es ein reales Leben. Die Kritiker behaupteten, ein Spieler könne bald nicht mehr zwischen richtigem oder falschem Leben unterscheiden. Das ist
Unsinn. Seit Jahren spiele ich es und zwar täglich. Noch nie habe ich beide Welten verwechselt, aber eines gelernt: wirklich glücklich wird man nur in Vita Univers. Weil es das bessere Leben ist.
Es erfüllt jeden Wunsch.
Heute Abend war mir nach Entspannung und schon. Sekunden später war ich fern dem Planeten Erde, schwerelos, körperlos, nichts als ein offenes Auge, genau genommen nicht einmal das, ich war nur
Sehen und Dahintreiben. Stille und Unendlichkeit. Ins schwarze Grenzenlose hineingestreut Existenzen aus Licht und Farbe. Auch ich bin so etwas. Kein Körper, keine Materie. Sehender Geist.
Gedankenloser Geist. Die Ferne kam näher und erreichte mich doch nie. Aus dem Stecknadelglimmen unzähliger und einsamer Existenzen wuchs ein zeitlupenlangsames Feuerwerk. Als sich ein Nebel
ausbreitete, loggte ich mich aus und schlief ein.
Zum Frühstück zwei Snacks mit Fruchtaufstrich und eine große Tasse Milchkaffee. Danach Blick in meine Mailbox. Information der Zentrale: Ein Widerruf. Eine Kolonistin hatte ihren Antrag
zurückgezogen. Nicht ungewöhnlich, wahrscheinlich hatte sie einen weiteren Wunsch, ich werde sie noch einmal aufsuchen.
Kein Wort über Beatrice Bäumler.
Drei aktuelle Fällt im Computer. Frauen aus meinem Bezirk, die in Kürze das 25. Lebensjahr vollenden, ich musste die Unterlagen zusammenstellen und einen Besuchstermin vereinbaren.
Nach einiger Zeit wurde ich müde, ich legte mich wieder auf die Couch. Meine Arbeit war langweilig, reine Routine, ermüdend. Ich gönnte mir einen Ausflug ins Vita Univers. Den Brainer aufgesetzt,
hinein ins Spiel. Wunschort, Wunschzeit: Ägypten, Zeit der Pharaonen. Wüste .. Ein sanftes Ocker .. Ich schmeckte Sand zwischen den Zähnen, reduzierte die Windstärke. Lufttemperatur und das
Gefühl der nackten Füße im Sand bekam den Level der Behaglichkeit. Und jetzt: Kleopatra! Über eine marmorne Treppe kam sie mir entgegen, in ein leichtes Seidengewand gekleidet, doch als sie vor
mir stand und mich mit schwarz untermalten Augen ansah, gefiel sie mir nicht. Zu große Nase, zu dick geschminkt, und ihre Figur ging mehr in Richtung einer Bauchtänzerin als einer blutjungen
Kaiserin, also formte ich mir etwas Feineres, schlank und geschmeidig mit einem mädchenhaften Gesicht. Wurde nordisch, na und. Dieser strahlende grauäugige Blick … Lieber doch schwarz … war
geheimnisvoller. Plötzlich hatte ich den verrückten Einfall, ihr Männerkleidung zu verpassen. Reiner Übermut, hinaus geschmissenes Geld. Aber ich wollte es und geriet in einen
Begeisterungsrausch. Steckte ihr eine Zigarette in den Mund, entdeckte eine Ähnlichkeit mit einem Vamp, rückte sie wieder ins Majestätische, was aber misslang: sie glich jetzt einer
Voodoo-Priesterin. Schließlich, leicht erschöpft, überließ ich alles Weitere dem Überraschungsmodus. Wurde zum Tempelherrn, stand hinter ihrem Thron bei einer Regierungssitzung. Ließ mich mit ihr
in einer Sänfte durch das Volk tragen. Danach die sinnliche Verlockung: ich ölte ihren Körper ein, buchte einen Orgasmus der ersten Stufe (die anderen sind mir zu teuer …), und dann fiel ich in
eine wohlige Schlaffheit, bis mich ein widerliche Signal aufscheuchte. Ein Trompetensignal, das Chefsignal. Es musste etwas Wichtiges sein, wenn er mein Spiel zerstörte. Er behauptete zwar, er
nutze Vita Univers, weil man dort Geheimgespräche führen könne, aber ich meine, er wollte einfach auch während der Arbeit das Spiel nützen können. Ich gab seinen Code ein und schon stand ich ihm
gegenüber.
Er saß als Kosakengeneral auf einer Bank unter einem Laubbaum mit Blick auf einen Teich, auf dem Seerosen schwammen. Die Spitzen seines Seelöwenbartes baumelten an den Mundwinkeln. Er trug eine
weiße Pelzmütze und einen dunkelblauen Mantel mit rotem Schultertuch, am Gürtel baumelte ein kurzer Dolch. Ich war wie immer der getreue Leutnant im hellblauen Waffenrock, einer gelben Reithose,
Schaftstiefeln und einem Tschako auf dem Kopf. Ich salutierte.
„Setzen!“ Er zeigte neben sich. Ich gehorchte. Beinahe kam ich zu Fall. Der Säbel war mir zwischen die Beine geraten.
„Bitte gehorsamst um Entschuldigung, Herr General“, sagte ich.
„Mann! Säbel festhalten!“ knurrte mein Chef generalsmäßig.
Hufegetrappel. Eine Hundertschaft Kosaken in blauen Hosen und grünen Blusen galoppierte heran. Mit gezückten Säbeln, die Gesichter uns zugewandt und ein dröhnendes Hurra ausstoßend, jagten sie
vorbei. Dann herrschte Stille. Nein, leichtes Blattgesäusel über uns.
„Sie würden für mich sterben, Benedikt.“ Der General nickte wehmütig, nahm die Pelzmütze ab und ächzte. „Ganz schön warm das Ding ... Na, jetzt zur Sache, Benedikt. Ihr letzter Fall, Sie erinnern
sich? Beatrice Bäumler. Sehn Sie, die Frau, die hat Schneid, meldet sich ganz oben .. Mein lieber Mann … Wirbel im Kolonievorstand und jetzt bei uns. Sehen Sie .. Die ganze Sache ist höchst
politisch.“ Er nickte gewichtig und senklte die Stimme. „Das wird Sie jetzt überraschen, bewahren Sie Haltung, Mann. Sie sind gefordert. Als Besamer. Was sagen Sie dazu?“
Er sah mich mit einem schrägen Blick an, aber ich bin sicher, er konnte an meinem Gesicht nichts ablesen.
„Man wird sich erkenntlich zeigen. Hatten Sie nicht mal den Wunsch, im Orbit zu arbeiten? Ist von mir schon befürwortet. Und schließlich ist das doch nur eine Sache von Sekunden. Also, Benedikt,
ich höre.“
Dem Staat verdankte ich mein Leben. Ihm zu dienen war mir Pflicht und Freude zugleich. Und die Aussicht, auf einer Raumstation zu arbeiten, einfach verlockend. Aber da war etwas, das machte die
Sache unmöglich, und mich wunderte, dass keiner daran gedacht hatte. Ich stand auf, der verdammte Säbel geriet mir wieder zwischen die Beine, ich packte ihn, nahm Haltung an und sagte: „Erlauben
Herr General, hier liegt ein Irrtum vor. Wie Herr General sicher wissen, bin ich asexuell. Keine Besamung möglich. Seit bekanntem Vorfall.“
Der Vorfall war ein Totschlag. Im Alter von zwanzig Jahren hatte ich zum ersten Mal ein Mädchen. Ich prügelte einen Rivalen zu Tode. Verlor einfach die Beherrschung. Schuld war das Sexualhormon,
ich hatte das gar nicht geplant. Der Gutachter sah das ebenso und das Gericht bot mir zwei Alternativen: Desexualisierung oder eine Gefängnisstrafe von acht Jahren. Ich war für die
Desexualisierung, nichts ist schlimmer, als eingesperrt zu sein.
„Quatsch, Quatsch“, der General schüttelte den Kopf, dass die Bartspitzen flogen, „überlassen Sie das den Medizinern … Moment …“ Hastig stülpte er sich die Mütze auf. Wieder jagte die
Hundertschaft vorbei.
„Diese Burschen würden für mich sterben, das ist mal sicher“, brummte er und setzte die Pelzmütze wieder ab.
„Ganz schön warm das Ding ... Na, jetzt zur Sache, Benedikt. Ihr letzter Fall, Sie erinnern sich? Beatrice Bäumler. Sehn Sie, die Frau, die hat Schneid, meldet sich ganz oben .. Mein lieber Mann
… Wirbel im Kolonievorstand und jetzt bei uns. Sehen Sie .. Die ganze Sache ist höchst politisch.“ Er nickte gewichtig und senkte die Stimme. „Das wird Sie jetzt überraschen, bewahren Sie
Haltung, Mann. Sie sind gefordert. Als Besamer. Was sagen Sie dazu?“
Er sah mich mit einem schrägen Blick an, aber ich bin sicher, er konnte an meinem Gesicht nichts ablesen.
„Man wird sich erkenntlich zeigen. Hatten Sie nicht mal den Wunsch, im Orbit zu arbeiten? Ist von mir schon befürwortet. Und schließlich ist das doch nur eine Sache von Sekunden. Also, Benedikt,
ich höre.“
Dem Staat verdankte ich mein Leben. Ihm zu dienen war mir Pflicht und Freude zugleich. Und die Aussicht, auf einer Raumstation zu arbeiten, einfach verlockend. Aber da war etwas, das machte die
Sache unmöglich, und mich wunderte, dass keiner daran gedacht hatte. Ich stand auf, der verdammte Säbel geriet mir wieder zwischen die Beine, ich packte ihn, nahm Haltung an und sagte: „Erlauben
Herr General, hier liegt ein Irrtum vor. Wie Herr General sicher wissen, bin ich asexuell. Keine Besamung möglich. Seit bekanntem Vorfall.“
Der Vorfall war ein Totschlag. Im Alter von zwanzig Jahren hatte ich zum ersten Mal ein Mädchen. Ich prügelte einen Rivalen zu Tode. Verlor einfach die Beherrschung. Schuld war das Sexualhormon,
ich hatte das gar nicht geplant. Der Gutachter sah das ebenso und das Gericht bot mir zwei Alternativen: Desexualisierung oder eine Gefängnisstrafe von acht Jahren. Ich war für die
Desexualisierung, nichts ist schlimmer, als eingesperrt zu sein.
„Quatsch, Quatsch“, der General schüttelte den Kopf, dass die Bartspitzen flogen, „überlassen Sie das den Medizinern … Moment …“ Hastig stülpte er sich die Mütze auf. Wieder jagte die
Hundertschaft vorbei.
„Diese Burschen würden für mich sterben, das ist mal sicher“, brummte er und setzte die Pelzmütze wieder ab.
„Erlauben, Herr General..“ Plötzlich hatte ich einen Anflug von Entsetzen. „Erlauben.. Mit der Sexualität kommt wieder die Aggression, und das Gerichtsurteil besagt…“
Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Kriegen wir hin, kriegen wir alles hin.. Sie melden sich gleich morgen in der Staatsklinik. Abteilung Genetik. Ihre Arbeit ruht vorerst.“ Er setzte sich
die Pelzmütze auf, rückte den Gürtel zurecht. „Abtreten, Benedikt, und alles Gute. Ich bleibe noch, ich kann doch meine Söhne nicht enttäuschen. Sehen Sie, da sausen sie schon wieder
heran…“
Noch ehe die Kavallerie heranbrauste, kam ich aufs Sofa zurück.
In der Klinik war es wie in meiner Kindheit. Damals entstand mein Vertrauen, ja meine Zuneigung zu den Ärzten. Freundlich fragten sie mich, wie es mir ginge und hatte ich etwas zu klagen, sorgten
sie dafür, dass es sofort abgeschafft wurde. Sie mochten mich, das spürte ich an ihren Händen und an ihren Stimmen, und ich mochte sie. Und so überließ ich den Ärzten auch jetzt meinen Körper
ohne Furcht, sogar mit einen gewissen Behagen. Während der Untersuchung betrachtete ich durch die großen Fenster den Wolkenzug am Himmel. Die Situation hatte etwas Traumhaftes an sich: der
leichte Druck der Hände an meinem Körper und die lautlosen Bewegungen dort am Himmel, beides gehörte zusammen. Beim chirurgischen Eingriff glitt ich in die Vollnarkose wie ins Vita Univers, ich
genoss den Verlust meines Körpers. Eine kleine Schnittwunde am Hodensack war alles, was ich nachher an meinem Körper entdeckte. Ich bekam noch zwei Injektionen, schluckte Pillen und dann, eines
Morgens, berührte ein Arzt mein Glied so, dass es sich aufrichtete. Ich sah hinab und dachte mit leisem Grauen: Da ist es wieder. Er bemerkte mein Unbehagen und gab mir eine Schachtel mit gelben
Kapseln, von denen ich täglich eine einzunehmen hätte. Das würde die Aggressivität auf ein beherrschbares Maß reduzieren. Im schlimmsten Fall solle ich mich an den Arzt wenden, der mich begleiten
würde.
Das war mir neu. Wer von den Klinikmasken um mich herum war es? Ein Arzt fiel mir auf. Er war bei allen Sitzungen dabei, beobachtete mich, ohne auch nur ein Wort zu sagen, auffallend an ihm: er
hatte zwei verschiedene Augen, ein graues und ein blaues. Obwohl er mich kein einziges Mal berührte, hatte ich volles Vertrauen zu ihm, denn offensichtlich war er der leitende Arzt.. Und dann
berührte er mich doch, bei der Schlussuntersuchung. Er beklopfte meinen Hodensack und schien zufrieden. Ob er der mich begleitenden Arzt sei, fragte ich und hoffte, er würde die Klinikmaske
abnehmen, was aber nicht geschah.
Er schüttelte den Kopf und sagte. „Nein, mein Lieber. Sie kennen ihn. Es ist Dr. Franzen.“ Eine warme, sympathische Stimme.
Ja, ich kannte ihn, wir arbeiteten zusammen. Er bekam von mir die Unterlagen der Frauen, die sich zur künstlichen Befruchtung entschlossen hatte, und betreute sie bis zur Entbindung. Knollige
Nase, wässrige Augen und um den Schädel ein grauer Haarkranz. Ziemlich wortkarg und brummig, aber nicht ohne Humor.
Im Vorzimmer erkundigte ich mich, wie der Arzt hieß, der mich entlassen hatte. Professor Enzinger, Leiter der genetischen Abteilung.
Acht Tage später rief mich Dr. Franzen an. Eisprung bei Bäumler. Um die Mittagszeit kamen wir an.
Sie stand in der Diele, im Fensterlicht und in einem Kleid, das den Körper wie eine zweite Haut umhüllte. Sie kam auf mich zu, mit vorgestreckten Händen, die Handrücken nach oben.
Irritiert sah ich sie an. Sie lachte. „Die Fingernägel!“
Sie waren bis an die Fingerkuppen geschnitten.
„Keine Gefahr!“ Wieder lachte sie.
Himmel ja, dachte ich, was für ein Theater. Einmal hatte ich beim Doktor kurz erwähnt, wie gefährlich die Fingernägel bei Frauen seien. Er musste das ihr mitgeteilt haben.
Mit einem Hüftschwung, der das Kleid über meine Knie wehte, drehte sie sich um. Wir folgten ihr eine blau gestrichene Holztreppe hinauf und kamen in einen schmalen Flur mit drei Türen auf jeder
Seite. Die zweite rechts ging zu meinem Zimmer mit Fensterblick zum See. Dr. Franzen erhielt das Zimmer gegenüber zur Straßenseite.
Als erste untersuchte ich das schmale Holzbett links an der Wand. Unter dem blassgelben Spannlaken war eine blauweiß gestreifte Matratze. Vermutlich genau so antik wie gegenüber der Stuhl und der
kleine Schreibtisch aus schwarzem Holz mit dem Kästchenaufbau. Die Schubfächer waren leer. Auf dem Schreibtisch eine Vase mit gelben Blumen. Die Wandtapete war bedruckt mit winzigen grünen
Tannen, wie man sie auf alten Weihnachtskarten sieht.
Ich trat ans Fenster und blickte auf einen umzäunten Garten mit einem kleinen Treibhaus. Der Garten bestand zur Hälfte aus Nutzpflanzen und zur anderen Hälfte aus wild wachsenden Blumen. Zwischen
den Kräutern liefen Hühner herum. Jenseits des Gartens zog sich mit leichtem Gefälle eine Wiese hinab bis zu den Büschen und Birken am See. Der Himmel war makellos blau und machte mich
schwindlig. In der Stadt begrenzte meinen Blick eine Hochhausfassade und ich fühlte mich sicher und geschützt. Hier war bis zum Horizont alles offen, beim längeren Hinsehen spürte ich von dort
deutlich einen Sog.
Ich legte mich aufs Bett und schloss die Augen.
Nein, worauf wartete ich? Es sollte sehr bald geschehen, hatte Dr. Franzen versprochen. Warum nicht jetzt?
Ich ging hinunter. In der Diele war eine Schiebtür aufgeschoben, ich blickte in ein Zimmer mit einem weiß gedeckten Tisch und acht Stühlen. Zwei Fenster zum See. Rechts in der Stirnwand eine Tür,
neben ihr bis unter die Zimmerdecke ein verglaster Holzkasten mit einer Uhr. Das tellerförmige Pendel schwang mit rhythmischem Klacken hin und her.
Und da kam die Frau durch die Tür, ein Handtuch in der Hand. Sie fragte, ob ich nicht Lust hätte, mitzukommen? Zum See, baden.
Nein, danke. Wortlos ging sie an mir vorbei.
Eigentlich wollte ich den Doktor aufsuchen. Doch dann lief ich den Pfad hinunter zum See und versteckte mich hinter einem Birkenbusch.
Nackt, aufrecht stand sie an der Stegkante, als prüfe sie das Wasser, dann hob sie den Kopf und sah in die Ferne. Das dunkelblonde Haar war hochgesteckt, von dort floss das Sonnenlicht über ihren
Körper bis zu ihren Füßen. Ich machte ein paar Schritte zur Seite und sah ihre Brüste. Ein seltsamer Zorn packte mich. Was machte sie so stark, dass sie mit jedem Stück ihrer Haut prahlte?
Plötzlich versank sie mit einem angewinkelten Bein ins Wasser.
Ich lief zurück. Wahrscheinlich hatte mich Dr. Franzen beobachtet, denn er fing mich an der Tür ab und forderte mich zu einem Spaziergang auf.
Der Alte hatte einen seltsamen Gang. Mit den Schuhen schob er auf dem Sandweg kleine Staubwolken vor sich her. Einmal blieb er stehen, um am Wegrand eine kümmerliche Pflanze zu betrachten. Nach
einer Weile seufzte er auf und setzte den trödelnden Gang fort.
Um das Schweigen zu brechen, sagte ich: „Doktor, das gab’s doch noch nie. Wir sind eine Samenbank, aber keine Männerbank. Wissen Sie, warum sie mich braucht?“
Er hüstelte, wischte sich die Stirn mit dem Taschentuch und sagte: „Na, vielleicht ist sie verliebt.“
„Achja“, sagte ich, „und wie geht’s weiter?“
„Das müssen wir ihr überlassen.“
Aus der Ferne kam ein Aufstöhnen, dann ein Brüllen. Ein Blick dorthin und sofort flitzen wir davon. Aus dem Hintergrund einer Wiese, um nicht zu sagen aus dem Hinterhalt, donnerte ein Bulle
heran. Nach etwa hundert Meter sah ich zurück. Das Biest war stehen geblieben und schnaubte.
„Sie schnaufen ja mehr als der Bulle“, sagte ich, als der Arzt herankeuchte.
„Ja, aber wissen Sie was? Sie haben das noch vor sich.“ Er drehte sich um. „Das Ungeheuer glotzt ja nur noch.“
Einfach deswegen, weil ein elektrisch geladener Draht ihm den Weg versperrte. Und ich dachte: Ganz biologisch geht es in der Kolonie nun doch nicht zu, dem Himmel sei Dank.
Beim Abendessen, im Zimmer mit den acht Stühlen, hatte sieh neben mich gesetzt. Ihre Körperwärme strahlte auf mich ab. Ihr Haar roch nach dem See. Oder war es etwas anderes? Plötzlich legte sie
ihre Hand auf mein Knie. Nicht zu glauben. Und dabei redete sie ungerührt mit dem Doktor über Themen in der Literatur, vor allem über die Liebe. Ist das die Art, Paarungsbereitschaft zu
zeigen?
Ich rückte die Knie nach links, sie nahm die Hand weg, und ich sagte:
„Sie haben offenbar eine Menge Romane gelesen.“
„Warum siezt du mich? Sag du!“ Bei der Drehung zu mir streifte ihr Haar meine Wange.
„Und hauptsächlich Liebesromane“, fuhr ich fort. „Dabei könnte keiner der Autoren sagen, was eigentlich Liebe ist.“
„Aber du kannst es“, sagte sie spöttisch.
„Nein. Übrigens ist es mir egal. Ich vermute, der Begriff Liebe entstand, als die Menschen anfingen, an Gott zu glauben.“
„Na und?“
„Damit will ich sagen, Liebe ist Einbildung, eine Fiktion, so wie man sich Gott einbildet.“
„Das stimmt sogar, in gewissem Sinne. Liebe ist etwas Geistiges. Oder willst du behaupten, der Mensch ist bloß ein Tier?“
Was bist du anderes? dachte ich. Ich schwieg. Wenn Liebe etwas Geistiges sein soll in Verbindung mit Orgasmen, wie sie behauptete, dann hatte ich schon mehr als tausend Mal auf diese Weise
geliebt, immer im Vita Univers.
Plötzlich lag ihre Hand auf meiner. Ich zog meine weg, sagte „Gute Nacht!“ und ging auf mein Zimmer.
Kurz darauf kam der Doktor. Was mit mir los sei?
„Lassen Sie mich in Ruhe“, sagte ich. Bestimmt wusste er, was mit mir los war. Kurz darauf kam er wieder mit einer Pille. Ohne zu fragen, schluckte ich sie.
Es wurde dunkler und dunkler, aber ich machte kein Licht. Plötzlich wusste ich, ich wartete auf sie. Wo blieb sie nur? Am liebsten hätte ich gerufen: Hier ist mein Körper, nimm ihn!
Sie kam nicht. Und ich schlief ein.
Am Morgen weckte mich ein Stoß, Dr. Franzen saß an meinem Bett und sagte: „Sie will nicht.“ Erst verstand ich ihn nicht, dann war ich schlagartig erleichtert.
„Na bestens! In fünf Minuten bin ich angezogen.“
Er drückte mich ins Bett zurück. „Diesmal nicht! Verstehen Sie? Ich betone: diesmal nicht.“ Er verschränkte die Arme. „Sie sind nicht in der richtigen Verfassung, meint sie. Wir sollen in vier
Wochen wiederkommen, wenn Sie besser drauf sind.“
Was? Alles noch mal? Die ganze Prozedur?
„Nein!“ Ich sprang aus dem Bett. „Das mach ich nicht noch mal mit. Ich will es jetzt und zwar sofort.“
„Immer mit der Ruhe. Erst mal das.“ Er steckte mir eine Kapsel in den Mund. „Runter damit. Und jetzt ziehen Sie sich an. Wir machen wieder einen Spaziergang. Ja, noch vor dem Frühstück.“
Die Luft war kühl und frisch, die Sonne stand knapp über dem Horizont, unsere Schatten waren doppelt so groß wie unsere Körper. Fünf Minuten waren wir schon unterwegs und hatten noch kein
einziges Wort gesprochen. Wir näherten uns einem Busch mit violetten Dolden. Der Doktor blieb stehen.
„Brechen Sie ein paar davon ab. Ja, genau, die.“
Während ich einen Blütenstiel nach der anderen mehr abriss als abbrach, versank er ins Brüten. Dann, aufblickend und mit ärztlicher Strenge: „Und jetzt bringen Sie ihr den Flieder.“
Holztreppen krachen gerade dann, wenn es leise gehen soll. Ich klopfte an ihre Tür, sie rief „Herein!“ Sie band vor dem Spiegel ihr Haar zum Pferdeschwanz. Ich sah ihr Gesicht im Spiegel und
registrierte am Rande ihre Bekleidung. Irgendetwas Dünnes mit zwei schmalen Trägern auf den nackten Schultern. Ich verbeugte mich tief, den Strauß hoch über meinem Kopf haltend, wortlos wurde er
mir abgenommen. Noch immer in Bückhaltung zog ich mich zurück, rammte mit dem Gesäß die Wand, jetzt lachte sie, war plötzlich bei mir, fasste unter mein Kinn, hob mein Gesicht. Dann legte sie
ihren Mund auf meinen. Sehr weiche Lippen. Was mich verwirrte: waren es ihre oder meine, die so weich waren.
Beim Frühstück saß sie wieder an meiner Seite. Wenn sie sich beugte, fiel das blassgelbe Sommerkleid ein wenig nach vorn und ich sah ihre Brüste. Es kostete mich einige Anstrengung, den Blick
abzuwenden. Sie bemerkte es und lächelte. Allmählich begriff ich: wir balzten.
Nach dem Frühstück glaubte ich an eine Fortsetzung des sexuellen Aufreizens. Aber sie verschwand in den Garten und der Doktor ging in sein Zimmer.
Sie lassen mich einfach stehen, dachte ich. Das war kränkend – vielleicht lag auch eine Absicht dahinter. Wieder fühlte ich den aufsteigenden Zorn. Das kam von diesem gedopten Körper! Ich musste
mich ablenken. Durch ein Fenster im Esszimmer konnte ich Beatrice beobachten. Sie ging durch die Kräuterreihen, zupfte hier und dort etwas, sammelte die Blätter in der Hand. Einmal sah sie lange
einem Vogel zu, der über dem See kreiste.
Die Unruhe war noch da. Ich musste mir Bewegung verschaffen und ging durch das Haus. Ein Museum der alten Zeit. Überall roch es nach Holz und Bohnerwachs. In den Räumen der oberen Etage stand
jeweils ein Bett, in einem sogar ein Doppelbett. Vom Doktor hatte ich erfahren, die Frau beabsichtige, die Zimmer an Sommergäste zu vermieten – gegen den Widerspruch des Kolonievorstandes. Frisch
gepflückte Blumen in Vasen, fast auf jedem Tisch.
Ich kam ins Webzimmer. Auf der Webstuhlbank hatte es sich eine schwarze Katze bequem gemacht. Ich berührte sie mit der Fingerspitze. Ein Leichtsinn, denn Tiere waren unberechenbar, aber mir war
nach etwas Unsinnigem, nach etwas Verrücktem. Die Katze rührte sich nicht, im Gegenteil, sie schnurrte. Aus einem plötzlichen Impuls heraus begann ich ihr seidenweiches Fell zu streicheln. Mit
Erstaunen spürte ich, wie mein Glied steif wurde. Und mit jeder Fellberührung wurde es härter, das war prickelnd, ich fuhr mit dem Streicheln fort, mir wurde heiß, vor meinen Augen dunkelte es …
Sofort zog ich die Hand zurück und verließ den Raum.
Ein Poltern auf der Treppe. Der Doktor. Ich lief ihm entgegen.
„Doktor“, sagte ich, „es muss heute sein. Und je früher, je besser.“ Er sah mich prüfend an, dann nickte er und versprach, es ihr zu sagen.
Zum Mittagessen gab es ein gewürztes Hähnchen mit Pellkartoffeln und Kopfsalat. Ich bin kein Freund von derben Gerichten, aber nach dem dritten Bissen schmeckte es mir und ich lehnte nicht ab,
als Beatrice mir einen Nachschlag anbot.
Der Doktor dagegen legte das Besteck auf den Teller.
„Schmeckt es Ihnen nicht?“ fragte sie.
„Doch, doch..“ Er presste die Lippen zu einem Lächeln. „Sie wissen doch. Essen ist die Erotik des Alters. Und ich genieße sie sehr, sehr vorsichtig.“
Nach dem Essen wollte Beatrice mit mir einen Spaziergang machen, aber der Arzt riet uns, eine Ruhepause einzulegen und erst nach der Mittagshitze zu einem Spaziergang aufzubrechen.
Wir gehorchten. Es war etwas Merkwürdiges in unserem synchronen Verhalten.
Es war drei Uhr, als sie an die Tür klopfte, um mich abzuholen. Sie sagte, sie wolle mir den Wald zeigen.
Ich hätte es vorgezogen, auf der Straße zu bleiben. Ein Wald ist nicht geheuer. Und bald passierte es. Kugeln prasselten herab, trafen Kopf und Schulter von mir, hüpften und rollten über den
Waldweg. Dann lagen sie still, als lauerten sie auf eine Bewegung von uns.
„Kienäpfel!“ Sie lachte und zeigte prachtvolle Zähne.
Ich sah nach oben in den Kiefernwipfel und fand das nicht lustig: „Als hätte jemand einen Korb über mich ausgeschüttet. Spürst du einen Wind? Totale Windstille. Ich sag die was: das war ein
Anschlag!“
„Ach was, das passiert öfter. Wirklich, du bist komisch.“ Sie nahm meine Hand. „Komm, ich weiß einen Platz, da passiert so was nicht.“
Beim Gehen kam sie mir näher, unsere Schenkel rieben sich, das hatte dieselbe Wirkung wie das Streicheln der Katze.
Das läuft falsch, das ist ganz und gar nicht richtig, nicht nach der Checkliste, dachte ich. Wir erreichten eine freie Stelle, eine Lichtung, sie blieb stehen, nahm meine Hände, schob sie unter
ihr Kleid. Ich sollte es ausziehen. Und weil ich nicht gleich reagierte, sagte sie: „Über den Kopf.“
Ich gehorchte. Dann tat sie das gleiche mit mir. Ich vermutete, es sei nur eine gegenseitige Begutachtung, aber dann glitt ihre Hand zwischen meine Beine. Plötzlich sagte sie: „Fass meine Brüste
nicht an, hörst du?“
Und das in einem solchen Ton, dass ich meine Hände sozusagen beiseite legte und alles Weitere ihr überließ.
Es kam zu keinem Samenerguss. Es kam eigentlich zu nichts.
„Hat’s dir gefallen?“ fragte ich auf dem Rückweg. Es sollte spöttisch klingen, aber meine Stimme war heiser vor Zorn.
„Na, was meinst du?“ sagte sie. „Du brauchst wohl ein Bett, was?“
Darauf schwieg sie. Den ganzen Weg schwieg sie.
Als wir am Haus ankamen, sahen wir am Straßenrand ein fremdes Auto stehen. Beatrice verzog das Gesicht. „Geh einfach an denen vorbei hinauf in dein Zimmer, du brauchst dich nicht
vorzustellen.“
Zwei vollbärtige Männer in Baumwollhemden und fleckigen Overalls standen in der Diele, ich ging an ihnen vorbei, während Beatrice sie aufforderte, ihr ins Bibliothekszimmer zu folgen. Ich war
noch auf dem Flur vor meinem Zimmer, da hörte ich schon die dröhnenden Männerstimmen von unten.
Die Zimmertür des Doktors öffnete sich, er gab mir mit dem Kopf ein Zeichen, einzutreten.
„Wie war’s?“ flüsterte er. Ich berichtete ihm kurz. Schließlich fragte ich, ob er wüsste, was das für Männer da unten seien.
„Sind aus dem Kolonievorstand“, sagte er. „Erzfanatisch bis auf die Knochen. Es hat sich herumgesprochen, warum Sie hier sind. Wahrscheinlich glauben sie, von Ihnen geht eine ansteckende
Krankheit aus.“
Die Stimmen brachen jäh ab, Türen schlugen. Wir traten ans Fenster. Im Gegensatz zu dem heftigen Schritt der Männer ruckelte ihr solargetriebene Auto langsam davon.
Und während wir so nebeneinander standen, murmelte Dr. Franzen: „Machen Sie sich keine Gedanken. Ich werde ihr sagen, wie man Sie behandeln muss. Und das Bett ist keine schlechte Idee.“
Ich ging nach unten und traf Beatrice in der Diele.
„Die waren ganz schön wütend“, sagte ich.
Ihre Antwort: „Kannst du schießen? Wenn sie mit ihren Jagdgewehren kommen, müssen wir uns verteidigen… Keine Angst, sie bellen bloß.“
Als ich abends zu Blutabnahme beim Doktor war, sagte ich, was dem Haus drohen könnte.
„Sie fürchten einen Angriff?“
Ich nickte.
„Na, dann erhöhen wir mal die Dosis.“ Er gab mir zusätzlich zu der Kapsel eine Injektion in die Hoden.
Dann kam die Nacht. Diesmal holte sie mich. Das Mondlicht vom Fenster fiel auf ein breites Bauernbett mit Schnitzereien am Kopf- und Fußende. Über die vier Eckpfosten war ein blaues Tuch
gespannt, eine Art Baldachin.
Nur zwei Kerzen brannten.
Laut Checkliste war Punkt 1 das Vorspiel. Noch ehe ich damit ansetzen konnte, berührte mich ihre Hand. Weich und warm. Wie von selbst übernahm sie die Führung. Das fand ich bequem und nach
einiger Zeit sogar angenehm, ich spürte, wie sich mein Körper dehnte, und als sie dies schließlich mit Lippen und Zunge tat, war ich sicher: gleich geschieht es. Aber dann sollte ich das gleiche
bei ihr tun. Dabei bekam ich eine trockene Zunge, doch als ich spürte, wie auch sie darunter anschwoll und bebte, machte es mir Spaß.
Und jetzt tat ich etwas, was ich schon die ganze Zeit tun wollte: Ich umfasste vorsichtig ihre Brüste, darauf stieß sie einen Laut aus, einen klagenden Laut - ich hielt erschrocken inne, sie
lachte auf, sah mich mit glänzenden Augen an, sprang aus dem Bett und zog mich zu sich.
Nackt standen wir uns gegenüber, wie auf der Waldlichtung. Was jetzt? Ich zitterte. Sie schob mit der Hand mein Glied in ihre Vagina. Mit fast klinischem Interesse sah sie eine Weile nach unten.
Auf einmal wurde ihr Blick ganz weich, und langsam begann sie sich zu bewegen.
Als der Samen aus mir schoss, schrie ich, danach brach ich fast zusammen, sie musste mich halten.
Am Frühstückstisch sagte sie kein Wort. Ganz so wie gestern im Wald, das ärgerte mich, ich sagte leicht aggressiv: „Zufrieden?“
„Wird sich zeigen“, antwortete sie, sich Kaffee eingießend.
Ich sah zum Doktor hinüber, der brummte: „Ob es gezündet hat. In vier Wochen wissen wir Bescheid.“
„Und wenn nicht“, sie setzte die Kanne ab und blickte mich an, ihre Stimme war vergnügt, „dann wiederholen wir das. Reichen Sie mir die Butter, Doktor?“
„Es hat geklappt.“ Ich ärgerte mich, weil es trotzig klang. „Ganz bestimmt“, setzte ich hinzu.
Darauf lachten beide.
Eine Stunde später umarmten wir uns, sie presste sich an mich. Meine Hände glitten wie von selbst an ihr Gesäß. Wir fuhren davon.
Meine Wohnung kam mir anders vor. War ich sonst den Dingen gegenüber gleichgültig, so stand ich jetzt verwundert vor ihnen. Ich sah Formen und Farben, aber ich brauchte Zeit, um ihren Sinn, um
die Funktion der Gegenstände zu begreifen. Das war unheimlich.
Mir wurde bewusst, dass ich ihn in den letzten Tagen den Brainer nicht benutzt hatte, vielleicht litt ich daher an Entzugserscheinungen. Ich loggte mich in Vita Univers ein. Trubel wollte ich,
ein buntes, aufregendes Leben, das Gegenteil von dem, was ich hinter mir hatte. Ich geriet nach New York im Jahre 1952, ein Strom an Autos und Menschen brauste durch die Straßenschluchten, ich
konnte nicht stehen bleiben, ich wollte es auch nicht, ich ließ mich mitreißen. Aber ich ertappte mich, wie ich die Nähe der Passanten suchte, ich sah in ihre Gesichter, um in ihnen so etwas wie
ein Erkennen zu entdecken, aber sie blickten an mir vorbei, ich war für sie offensichtlich gar nicht vorhanden. Und dann kamen mir die Farben blass vor, die Geräusche hatten einen maschinellen
Charakter und die Gerüche waren stumpf. Eine Kellerwelt. Ich loggte mich aus und war verunsicherter als zuvor.
Ich stürzte mich in die Arbeit. Innerhalb von einer Woche fuhr ich fünfmal in die Kolonie. Um das Dorf von Beatrice machte ich einen Bogen. Ich hatte ja nichts mehr mit ihr zu tun. Meine Aufgabe
war erledigt. Aber nach etwa einer Woche, als ich einmal in der Nähe des Sees war, wollte ich sie besuchen. Nur um Guten Tag zu sagen. Kurz vor der Dorfeinfahrt machte ich kehrt, ich hatte
plötzlich Angst bekommen.
Trotz meiner schlechten Erfahrung ging ich wieder ins Vita Univers, und wieder fand ich nicht den richtigen Eingang in die frühere Welt. Das Leben dort schien mir uninteressant, fad, sinnlos, es
schaffte mir kein Vergessen, keine Betäubung. Ich legte den Brainer beiseite, holte mir ein Glas und die Kognakflasche. Zum ersten Mal seit Monaten trank ich wieder Alkohol. Mit dem Glas trat ich
ans Panoramafenster. Unter mir lag die Straße, der Abendschatten begann an der Fassadenwand hochzuklettern. Ich versuchte ein Zeichen von Leben zu erblicken, ich blickte auf Leere. Ja, hier,
dachte ich, und dann fand ich den Mut, es zu flüstern: Nicht dort.
Ich setzte mich ins Auto und fuhr durch die Dämmerung in die Kolonie. Zu beiden Seiten verschmolzen die Baumstämme zu einer schwarzen Wand. Als ich ankam, war die Haustür verschlossen, die
Fenster dunkel, ich schlug mit der Faust gegen die Tür. Ächzend öffnete sich ein Fenster, ein Schatten bewegte sich und ihre Stimme rief: „Wer ist da?“ Als ich antwortete, lachte sie ihr kehliges
Lachen, und dann ...
Es war Körperkontakt, heftiger Körperkontakt.
Zwei Tage später Anruf vom Doktor. „Gratuliere. Sie sind werdender Vater!“ Und von einem Hustenanfall unterbrochen. „Sie können sich deaktivieren lassen.“
Nein, ich dachte nicht daran. Ich hatte genau das gefunden, was ich brauchte.
Ich blieb sogar einmal über Nacht bei ihr. Als ich am Morgen ein Fenster ihres Zimmers aufschlug und zum See blickte, war der Sommer da. Ich hatte noch die Wärme ihres Körpers in mir und dachte
fröhlich: der Sommer ist wie ich geradewegs aus ihren Armen gekommen.
An diesem Tag schwänzte ich die Arbeit und blieb bei ihr. Wenn in der Kolonie meinetwegen von Ansteckungsgefahr gewarnt wurde, so kann ich behaupten, ich war längst von einer Kolonistin
kontaminiert. Und ihre Krankheit war interessant und aufregend, mein Körper war komplett infiziert. Jede Berührung spürte ich wie ein Aufflammen in mir, vom Spielen des Windes in meinen Haaren
bis zum feuchten Druck des Sandes unter meinen Füßen.
Mitunter muss ich mich komisch verhalten haben. Wenn Beatrice mich in solch einem Augenblick überraschte, lachte sie auf und zog mich mit sich. Oft landeten wir im See, denn der Sommer war
ungewöhnlich warm. Langsam, vorsichtig ging ich ins Wasser, wie alles, was ich gegenwärtig tat. Es umschwappte meine Füße, stieg die Beine hoch, zog einen kalten Ring um meine Hüften, und dann
hoben sich meine Füße vom Seegrund. Ich lachte, schon mit Wasser im Mund, denn ich konnte nicht schwimmen, aber das war mir egal, sie war neben mir. Sie fasste meine Hände und hielt mich – und da
war’s, dass ich begriff. Mein Körper hatte sein Gewicht verloren, er war keine Last mehr. Er war noch vorhanden, aber seine Form, seine Begrenzungen hätte ich nicht mehr aufzeigen können.
Ich wurde Welle, wurde Wind, wurde der weite, blaue Himmel. Und alles ruhte in einer leicht schwankenden Hand aus flüsterndem, zartem Stoff.
Danach lagen wir nackt im Sand in der Schwere unserer Körper. Der Kontrast war ungeheuerlich und unsere Umarmung steigerte ihn noch, er schoss uns in den Mittelpunkt des Universums.
Sie fragte, was ich von der Liebe hielte.
Bloß das nicht, dachte ich. Keine Analyse, kein Sezieren. Es sei wie es sei! Ich tat, als hätte ich ihre Frage nicht gehört, aber sie wiederholte sie. Und mir fiel ein, was ich vor nicht mal
einer Stunde erlebt hatte.
Ich hatte im Bibliothekszimmer das Knarren des Rohrsessels gehört, ich vermutete an Beatrice dort, doch als ich eintrat, war der Sessel leer. Es war das gewöhnliche Knarren danach, wenn der
Sessel in seine alte Form ruckte. Auf dem Flügel lag ein aufgeschlagenes Buch, ich nahm es und fand auf der rechten Seite einen blau unterstrichenen Satz:
„Er glaubte daran, dass die Liebe nicht nur Begierde ist, sondern ein Opfer, verborgene Freude und die Poesie dieser Welt.“
Als säße sie wieder im Sessel, knackte es, ich kam mir vor wie ertappt, legte das Buch rasch zurück und verließ das Zimmer.
So ein Wahnsinn, dachte ich. Liebe als Schmerz, heimlich Freude und dabei soll sie auch noch schön aussehen Das ist doch pervers ...
Aber jetzt lag sie neben mir und wartete auf eine Antwort. Also gab ich mir einen Ruck und sagte:
„Liebe ist doch nur ein verdruckstes Wort für körperliches Begehren. Und das war immer so – von der Minneliebe des Mittelalters bis zur Sexliebe des letzten Jahrhunderts. Liebe machen, das ist so
was Typisches .. Damit meint ihr Sex, das weißt du doch. Warum nennt ihr es ehrlicherweise nicht gleich Sex?“
Sie setzte sich auf, legte die Arme um ihre Knie und sprach zum See hinaus, als glaubte sie, alles höre ihr zu. Von all den bedeutenden Liebespaaren sprach sie, die es in der
Menschheitsgeschichte gab, von den Männern und Frauen, die für ihre Liebe starben oder die große Leistungen, ja, Heldentaten vollbrachten, von Eroberern, Künstlern und Wissenschaftlern, die aus
Liebe zur Menschheit jedes Leid auf sich nahmen. Merkwürdig allerdings – und da verlor ihre Stimme den heiligen Ton, wurde sachlich – merkwürdig sei, dass dieses Streben in dem Maße nachließ, wie
der Sex an die Stelle der Liebe rückte.
Schon wieder diese Unterscheidung. Ich wollte einen versöhnlich Abschluss finden und sagte: „Ja, du hast recht. Sexualität ist eine Fessel, sie reduziert das Denken auf das rein Biologische,
außerdem macht sie aggressiv.“
Da verstummte ich erschrocken.
„Was du nicht sagst. “ Sie schnippte eine Ameise vom Fußknöchel, machte eine Kehrtwendung, sah mich lauernd an und warf sich auf mich. „Jetzt geb ich dir Liebe, pass mal auf du …“
„Du wirst mich noch mal töten durch deine Liebe“, murmelte ich. Und da stopfte sie mir den Mund.
Trotz meiner zahlreichen Ausflüge in die Kolonie erledigte ich meine Arbeit. Allerdings mit wenig Erfolg, nur zwei Frauen stellten innerhalb von zehn Wochen einen Förderungsantrag. Wahrscheinlich
lag es am Wetter. Es war Herbst und mir saßen Frauen gegenüber, die mich anstarrten wie aus weiter der Ferne. Statt mich anzuhören, hörten sie auf etwas ganz anderes, schien mir.
An einem nebligen Herbsttag war ich gerade aus dem Wagen gestiegen, als mich ein Hieb in den Nacken traf, ich taumelte, ein neuer Schlag, diesmal in den Magen und, im Fallen, ein Fußtritt ins
Gesicht. Dann knallte es, jetzt zertrümmern sie den Wagen, dachte ich. Im Liegen sah ich einen Schnürstiefel auf mich zukommen, ich bog den Kopf beiseite, der Tritt streifte mich an der Schläfe,
wieder knallte es und ich hörte die Stimme von Beatrice, sie schrie. Und dann war Stille, sie waren weggerannt.
Ich richtete mich auf, ich blutete aus der Nase. Mit dem rechten Arm half sie mir aufzustehen, unter dem linken hielt sie das Gewehr.
Sie wusch mir das Gesicht.
„Na, die Nase ist wenigstens noch heil. Tut’s weh?“
„Ja… Wer war das?“
„Drei Idioten.“ Sie trug Schüssel und Handtuch in die Küche. Sie kam zurück, setzte sich auf einen Stuhl. „Ich muss dir was sagen. Du bist der zweite, den sie verprügeln. Sie sind wütend. Es gibt
schon vier Frauen, die sich Männer aus der Stadt geholt haben. Einen schlugen sie vorgestern krankenhausreif. Und an allem bin ich schuld. Aber das überrascht mich nicht, ich habe damit
gerechnet, sie werden sich damit abfinden müssen. Aber ich muss dich bitten, vorläufig nicht mehr zu kommen. Außerdem, in vier Wochen kommt das Kind, dann habe ich sowieso keine Zeit mehr für
dich …“
Auch das war ein Schlag und dessen Folge würde ich noch lange spüre. Und als sei das nicht genug, kam der nächste. Die Klinik forderte mich auf, sie zur Desexualisierung aufzusuchen. Das hatte
ich ganz vergessen. Desexualisierung oder Antritt der Gefängnisstrafe.
Nein, bloß kein Gefängnis. Andererseits: Kein Sex … Nie wieder Beatrice ...
An diesem Abend bestellte ich im Vita Univers das Angebot der schönsten Frauen. Ich verzichtet auf spezielle Vorgaben. Überraschen sollten sie mich. Und sie kamen: von der zierlichsten zur
üppigsten, von der geistreichen bis zur triebhaften. Nackt bewegten sie sich vor mir, alle Arten der Verführungskunst ließ ich an mir ausprobieren. Aber keine keine berührte mich wirklich. Es
fehlte die körperliche Berührung. Ich war zwar „drin“, wie es so heißt, aber doch nur so, wie man in einem Spiegel „drin“ ist, als Täuschung.
Ich loggte mich aus.
Mir war plötzlich klar, ich war nicht mehr derselbe wie früher. Und ich erinnerte mich an eine Bemerkung von Beatrice. Nachdem ich ihr erklärt hatte, was die Kolonisten durch Verweigerung des
Fortschritts alles verpassten - zum Beispiel das Spiel Vita Univers, das dem Menschen grenzenlose Freiheit und die Erfüllung aller Wünsche biete - sagte sie nach einer Pause, während ihr Blick
mein Gesicht zu scannen schien: „Und als er sie berührte, war es das wahre Leben, was er spürte.“
Aus welchem Buch auch der Satz stammte, ich fand ihn ausgesprochen albern. Als hätte ich vorher nicht gelebt! Allerdings stellte ich mir damals manchmal vor, wie es wäre, wenn ich in Vita Univers
tagelang, wochenlang ja, vielleicht für immer bliebe. Es wäre die Verheißung aller Religionen: Wie die Seele im Himmel der Seligen weilt, während der Körper sich in der realen Welt auflöst.
Da die Klinik hatte mir eine Frist von drei Wochen gegeben hatte, konnte ich die Entscheidung noch ein wenig hinausschieben.
Am nächsten Tag kaufte ich mir eine Vase und einen Strauß bunter Blumen. Als ich sie auf den Couchtisch stellte, stieg mir der Duft in die Nase. Jäh überfiel mich Traurigkeit. Ich begriff nicht,
warum. Es musste an den Blumen liegen, aber wegwerfen wollte ich sie nicht. Ich stellte die Vase in die Küchenecke, wo sich ihr Duft mit den Kochdünsten mischte, denn ich hatte begonnen, mir
Gerichte zu kochen.
Es war Winter, es fiel Schnee, aber er taute sofort. Keine Koloniebesuche, keine Besuchsaufträge. Mit Verwaltungsarbeiten versuchte ich die Zeit hinzubringen.
Dann endlich eine Unterbrechung. Mein Chef forderte mich auf, in die Zentrale zu kommen. Eine Stunde später war ich bei ihm. Sein Aussehen war fabelhaft, viel interessanter als in Vita Univers.
Zwar saß er wuchtig und aufrecht hinter seinem Schreibtisch, aber unter dem Tisch baumelten seine Füße handbreit über dem Teppichboden. Ein Sitzriese. In seinem feisten Gesicht waren kleine
schwarze Augen, die sich unter schweren Lidern wie Tierchen synchron hin und her bewegten. Kein Militär, eher leutselig mit einem Schuss Theatralik.
Ihm läge eine Mitteilung vor, dass meine Sexualität noch aktiviert sei. Also, ich möge doch endlich die Klinik aufsuchen, er würde ungern seinen besten Mitarbeiter an den Knast verlieren.
Ja, das wusste ich doch schon. Noch was?
Er kniff ein Auge zu.
„Nun heißt es Mut zeigen, Soldat!“ Die Bäumler wünsche meine Gegenwart bei der Entbindung, sie stünde kurz davor.
Ich machte mich sofort auf den Weg. Es war ein frostklarer Wintertag, die Fahrt auf der verschneiten Straße war schwierig.
Trotzdem kam ich zu früh an ihr Bett, es zog sich hin, Stunde um Stunde. Ich hielt ihre heiße Hand, wischte ihr die Stirn, gab ihr zu trinken. Aber zu meiner Schande muss ich sagen, als es so
dann wirklich so weit war, hatte ich nur Augen für das, was weiter unten geschah. Die Hebamme sprach in einem an- und abschwellenden Singsang abwechselnd zu Beatrice und zu dem Kommenden in ihren
Händen. Es wirkte auf mich wie das geheimnisvolle Ritual eines Alchemisten, der Gold aufzufangen hofft. Zuerst ging es ganz langsam, und dann plötzlich, flutsch: da lag das neue Geschöpf in einer
Blutlache zwischen den Schenkeln. Die Haut, in die es eingewickelt war, platzte, es streckte die Beine, großartig wölbte sich der Hodensack, mit einem Ausdruck von Prahlerei. Dann erschrak ich,
weil der Körper des Jungen ganz blau war, die Hebamme packte ihn an den Füßen, ein Schlag auf den Po und los ging das Geschrei. Wie er dann bäuchlings unter der Plastikhaube lag und immer wieder
nach vorn gegen die Plastikwand krabbelte, obwohl die Hebamme ihn jedes Mal wieder nach unten zog, dachte ich, zutiefst berührt: Das ist das Leben.
Beatrice lächelte glücklich, ich versprach ihr, sie bald wieder zu besuchen.
Aber ich kam nicht mehr dazu. Fünf Tage später wurde ich in eine Raumstation versetzt. Vorher wurde ich desexualisiert. So war alles entschieden. Keine Beatrice mehr. Nur noch Schweben im
Weltall, nach unbekannten Planeten forschen, mit fremden Wesen Kontakt aufnehmen.
Ja, so hatte ich mir das als Kind geträumt. Doch jetzt prüfte ich im 6-Stunden-Turnus Reihen von Karotten und Tomaten, sortierte die kränklichen aus, justierte Belichtung und Wärme, sorgte für
flüssige Düngerzugabe. Jeder Handgriff erfolgte unter dem Druck größter Konzentration, selbst das Bewässern einer Tomatenpflanze könnte eine Katastrophe auslösen, so sagte man mir. Und das
Schweben entpuppte sich als besonderer Stressfaktor. Ich vermisste die Last meines Körpers, unter der ich mich weit besser bewegen konnte als in der Schwerelosigkeit. Dies führte dazu, dass ich
mehr und mehr zu einem Automaten wurde und nur im Schlaf zu mir fand.
Und dann, ich glaube, es war in der sechsten Woche, ihr Anruf. Ich vermute, sie hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, um dafür eine Erlaubnis zu bekommen. Man gab uns zehn Minuten. Die Qualität
war schlecht, das lag an ihrem primitiven Telefon. Manchmal krächzte sie wie ein Rabe. Das Kind gedieh, so verstand ich, und sie hatte Sehnsucht nach mir.
Danach fragte ich mich: Was ist Sehnsucht? Der Wunsch, bei einem anderen zu sein. Ja, dann hatte auch ich Sehnsucht, Sehnsucht nach ihr, in einer milden Form. Es waren Erinnerungen, die lebendig
wurden, aber Schemen blieben, und das hatte bald etwas Bitteres, Grausames. Ich versuchte, das Erinnern zu stoppen, doch jetzt tauchte ein Bild nach dem anderen auf. Ihre Augen, die Art, wie sie
mir über ihre Schulter einen Blick zuwarf, wenn ich in die Küche kam, ihre Hand, deren Finger sich beim Spaziergang mit meinen verschränkten, die Haarlocke, die sie aus der Stirn blies und die
schmerzlich gekrümmte Augenbraue, wenn sie ihren Unmut zeigte. Ja, und das Lachen! Das Lachen … Deutlich sah ich ihr Gesicht vor mir. Die hohe Stirn mit den zarten Brauen wie aus Staub. Ich
spürte das Verlangen, mit beiden Händen das Gesicht zu fassen und an mich zu ziehen.
Sie hätte nicht anrufen dürfen.
Ich machte Licht und betrachtete das Ding zwischen meinen Beinen. Es war tot. Und vielleicht war auch ich schon tot. Dieser Körper, der mit nichts mehr in Berührung kam, war eine empfindungslose
Hülle geworden.
Ich wollte mein altes Leben zurück. Es dauerte nicht lange, dann fiel ich der Bordpsychologin auf. Sie rief mich zu sich. Sie beobachte mich schon länger Zeit und sei zum Ergebnis gekommen, dass
ich für die Arbeit im Orbit nicht gut geeignet sei.
„Wollen Sie zurück?“
„Mit Vergnügen“, sagte ich.
Wieder auf Erden und alles kam mir fremd und ungewöhnlich schön vor. Schwer lagen die Dinge in meiner Hand lag, ich betrachtete sie erstaunt und beglückt. Bis mir bewusst wurde, dass ich dieses
Entzücken meiner Hand verdanke. Das Gewicht meines Körpers rührte mich, als fände ich einen alten Freund wieder, ich bewegte mich langsam, jeden Schritt, jede Geste genießend. Um dieses
großartige Gefühl immer wieder neu zu erleben, pendelte ich zwischen Vita Univers und der Wirklichkeit hin- und her. Noch beim vierten oder fünften Mal war ich euphorisch, so dass ich im Spiel
einem Sänger aus dem 20. Jahrhundert befahl, dem Körper ein Loblied zu singen. Er war seinerzeit sehr berühmt, seine Songs waren Renner, er hatte eine Tolle in der Stirn und eine Gitarre und
einen glitzernden Anzug, aber er sah mich irritiert an, zupfte einen Akkord und begann schmalzig von der Liebe zu singen, von Einsamkeit, von Verlust und von Ketten, die er lösen wollte. Dahinter
steckte eine Frau, ja, das begriff ich. Aber das war nicht das Thema. Ich zeigte ihm meine Hand, er starrte darauf und begann wieder seinen Singsang, ich merkte, die Hand hatte keine Bedeutung
für ihn, er wiederholte, was er gesungen hatte. All das abstrakte Zeug. Liebe, Sehnsucht, Verlassenheit, Freiheit. Aber ich dachte jetzt an ihre Hand, an ihre kleine, feste und zarte Hand. Und an
die Arme, die Schultern, die Hüften, die Brüste, die Schenkel, den Schoß ... Immer wilder wurden meine Forderungen. Besinge ihren Körper! Besinge jeden Körper! Er ist das Kostbarste, was das
Leben zu bieten hat! Sing, sagte ich, sing eine Hymne über den Körper, laut und weltweit für alle Menschen der Welt. Damit niemand mehr diesen Körper verletze, weder durch Kriege noch durch
Überanstrengung, weder durch Chemie noch durch die Messer der Schönheitschirurgen.
Indessen ich so auf ihn einredete, stierte mich der Sänger an, das sah ganz nach einem Systemabsturz aus. Das Spiel abbrechend, kehrte ich in meinen Körper zurück, in meinen geliebten
Körper.
An diesem Tag starb Vita Univers für mich. Und das, was ich anfassen konnte, war für mich unendlich reizvoller geworden als das, was ich denken konnte.
Meine Rückkehr zur Erde hielt ich vor Beatrice geheim.
Um nicht in die Kolonie zu müssen, beschäftigte ich mich mit der statistischen Aufarbeitung meiner Fälle. Trotzdem, irgendwann würde sie erfahren, dass ich wieder hier war. Und dann? Was sollte
ich sagen, wenn wir zusammen lagen und nichts regte sich bei mir? Und doch sehnte ich mich nach ihr.
Eines Nachts lag ich zwischen Traum und Wachsein. Ich sah die Waldwege, die kleinen Holzhäuser, den Himmel, den See, sogar die Birke am Haus von Beatrice, ihr flirrendes Laub vor einem blauen
Sommerhimmel, die Katze, die am Fenster mit den Pfoten nach Fliegen schlägt. Jedes Bild hielt kaum einen Augenblick, dann folgte schon das nächste, aber dann wollte ich die Bildauswahl bestimmen,
ich wollte sie sehen, Beatrice wollte ich sehen, ich wollte mein eigenes Vita Univers-Spiel. Und da war sie auch schon. Sie trug ein blaues Kleid mit weißem Kragen, Stück für Stück begann ich sie
zu entkleiden. Als sie nackt vor mir stand, wollte ich sie berühren, aber jetzt schob sich meine Hand dazwischen, ich beobachtete, wie sie sich ihren Brüsten näherte, ich versuchte, die Hand zu
löschen, sie sollte verschwinden, ich wollte es sein, der den Körper berührt, und da, ganz plötzlich, vergrößerte sich alles, bis nur noch ein Gewoge von farbigen Wolken vorhanden war.
Ich fuhr hoch, schweißgebadet.
Zwei Stunden später machte ich mich auf den Weg. Professor Enzinger war immer besonders freundlich zu mir gewesen. Ich wollte nichts Illegales verlangen. Nur die Eingabe eines Begnadigungsgesuchs
für mich. Immerhin hatte ich mich um den Staat verdient gemacht. Die Besamung hätte ich ja auch ablehnen können.
Vom Professor wusste ich nur die Augenfarben und den Klang seiner Stimme. Sie war weich und dunkel. Ich schätzte ihn um die 50. In seinem Arbeitszimmer am Flurende sah ich ihn ohne Klinikmaske
und war erschrocken. Ein zerknittertes Greisengesicht, die dünnen Haare in Strähnen an einen kantigen Schädel geklebt. Aber es waren die bekannten Augen und schließlich kam seine Stimme, sanft
und beruhigend: „Na, Benedikt, was haben Sie auf dem Herzen?“
Ich trug ihm meine Sache vor, er hielt den Kopf geneigt, und als ich fertig war, kam er zu mir. Er legte die Hand auf meine Schulter, blickte mir in die Augen, das graue streng, das braune warm,
und sagte: „Lieber Freund! Ich schlage Sie für jeden Orden vor, aber gegen das Gerichtsurteil vermag ich nichts. Wozu noch einmal alles aufwirbeln? Nehmen Sie die Gefängnisstrafe auf sich. Bei
guter Führung kommen Sie zwei, drei Jahre früher heraus. Denken Sie in Ruhe darüber nach. Und glauben Sie mir: Je kleiner das Zimmerchen, um so intensiver das Leben.“
Er legte den Arm um mich und brachte mich zur Tür. „Ich werde Sie besuchen, ich verspreche es.“
Wie betäubt stolperte ich hinaus. Und was sollte dieser Schlusssatz! Meinte er etwa, ich könnte mich in einen Buddha verwandeln?
Auf der Außentreppe der Klinik stieß ich mit einem alten Mann zusammen, auffallend sein blauer Schal, ein Ende baumelte über seine Brust, das andere über seinen Rücken. Für eine Sekunde kamen
unsere Gesichter ganz nah, die Pupillen seiner braunen Augen weiteten sich, und ich glaubte, diese Augen schon einmal gesehen haben. Noch bevor ich ein Wort der Entschuldigung sagen konnte,
drückte er mir unter dem Schal einen Gegenstand in die Hand und verschwand in die Eingangshalle.
Ich stieg die restlichen Steinstufen hinab, dann betrachtete ich, was ich in der Hand hielt: Es war ein Computer-Stick.
Zu Haus schob ich ihn in den Computer. Im Bildschirm erschien Dr. Franzen. Klein und abgemagert saß er in einem alten Ohrensessel, über dem Schoß eine Filzdecke, die bis auf den Boden hing. Er
begann sofort zu reden: „Seit Monaten zerfrisst mich eine Krankheit, Sie sehen ja, ich bin schon fast nicht mehr da. ... Erinnern Sie sich an unsere Spaziergänge auf der Landstraße und an den
Staub, den unsere Füße aufwirbelten? Und wenn wir uns umdrehten, war schon nichts mehr zu sehen. Das ist die Ruhe, mein Freund, und ich werde sie genießen. Aber das wollte ich Ihnen nicht sagen.
Hören Sie ...“ Er hüstelte, wischte sich den Mund mit einem Tuch. „Um es kurz zu machen: Ihr Junge wurde nach der Geburt vertauscht. Das Kind, das die Bäumler hat, ist ein falsches. Ein
Staatskind.“ Er seufzte, rieb sich die Stirn. „Vertauscht, ja. Und ich half dabei. Warum? Ja, kurz vor der Entbindung rief mich der Professor zu sich, er hätte in den Spermien Defekte entdeckt.
Das Kind würde eine Behinderung aufweisen, und das wäre eine Katastrophe. Schließlich sei es das Kind von Bäumlers Enkelin. Aber, Benedikt, das war gelogen, bis heute wurde am Kind keine
Behinderung entdeckt, ich konnte es in der Klinik mehrmals untersuchen, im Gegenteil: es entwickelt sich ausgezeichnet. Ich glaube eher, er hat was mit dem Kind vor, irgendein Experiment. Also
holen Sie es zurück. Es ist alles arrangiert. Morgen um 21 Uhr im Arbeitszimmer des Professors, er wird nicht da sein. Er ist auf einer Tagung. Man wird Ihnen das Kind geben und durch ein
Staatskin ersetzen. Das wird man nicht gleich entdecken. Bis dahin muss aber Ihr Kind in Sicherheit sein. In der Kolonie wird es doch ein Versteck geben. Grüßen Sie mir Beatrice, sie möge mir
verzeihen. Und jetzt, mein Freund, leben Sie wohl, es ist Zeit zu gehen. Es hat mir Spaß gemacht, mit Ihnen zu arbeiten.“
Die Andeutung eines Lächelns, dann verschwand sein Bild.
Ich saß einen Moment wie benommen. Wenn das stimmte, war das ungeheuerlich. Aber warum hat er mich nicht persönlich aufgesucht? Er schien unter Druck zu stehen. Und was sollte das heißen: Es ist
Zeit zu gehen?
Ich musste ihn sehen. Ich setzte mich ins Auto und fuhr an seine Privatadresse. Als ich den Haussummer druckte, rührte sich nichts. Dann erschien auf dem Display ein weibliches Gesicht, eine
Mitarbeiterin der Hausverwaltung. Was ich wünsche? Nun ja, den Arzt wollte ich sprechen.
„Tut mir leid. Er ist gestern Abend verstorben.“
„Wieso so plötzlich?“
„Überhaupt nicht plötzlich. Er war seit Jahren schwer krank.“
Verstorben. Wer weiß, dass er stirbt, verbreitet keine Unwahrheiten.
Am nächsten Abend war ich Punkt 21 Uhr in der Klinik. Ich ging an der Anmeldung vorbei, nickte dem Wachhabenden zu, er nickte zurück. Wir kannten uns. Die Flure waren ausgeleuchtet und leer. Wenn
alles stimmte, was der Doktor gesagt hatte, erwartete mich jemand mit dem Baby im Arbeitszimmer des Professors. Ich erreichte das Flurende, überlegte, ob ich klopfen sollte, nein, natürlich
nicht, ich öffnete die Tür, da saß der Professor am Schreibtisch. Eine Falle.
Ich fasste mich und sagte: „Guten Abend, Herr Professor.“
Er machte eine Handbewegung. „Schließen Sie die Tür und setzen Sie sich..“
Er wusste also, dass ich kommen würde.
„Nein, ich möchte lieber stehen bleiben.“
Er betrachtete mich forschend. „Wie Sie wünschen, Benedikt. Ich sehe, Sie sind ruhig, das ist gut so. Wollen Sie sich nicht doch setzen? Nein. Nun gut, ich bin Ihnen wohl eine Erklärung schuldig.
Zuvor möchte ich Sie etwas fragen. Was meinen Sie, wozu ist das Leben da? Sie wissen es nicht? Da sind Sie nicht allein. Die Sinnfrage. Seit Jahrhunderten quälen sich die Philosophen damit ab.
Dabei ist die Antwort ganz einfach. Passen Sie mal auf. Wo war das Leben vor vier, fünf Milliarden Jahren? In einem Einzeller. Und wo ist es heute? In Ihnen, in mir, mit einem Wort: im Menschen.
Eine großartige Entwicklung. Sehen Sie, das ist der Sinn des Lebens. Genau das. Die Weiterentwicklung. Aber betrachten Sie mal den Zeitraum, vom Einzeller bis zu uns. Etwas lang, nicht wahr? Und
außerdem eine riesige Anstrengung der Natur. Da muss die doch jetzt erschöpft sein, meinen Sie nicht aus? Aber wir wollen uns doch weiter entwickeln, nicht wahr? Also los, packen wir’s an, nehmen
wir der Natur die Arbeit ab und heben wir uns selbst auf die nächste Entwicklungsstufe. Und das tu ich hier. Begreifen Sie das? Eines Tages wird man mir dafür dankbar sein, doch heute ist das
kriminell. So denken Sie doch auch, nicht wahr?“
Ich dachte etwas ganz anderes. Mein Kind, dachte ich, was machst du mit meinem Kind. Ja, und Beatrice gehört es auch. Vielleicht noch mehr als mir.
„Ich will das Kind“, sagte ich. „Es gehört zu seiner Mutter.“ Ich machte eine kurze Pause „Und es gehört mir. Ich bin schließlich der Vater.“
„Nicht doch.“ Er lachte krächzend. „Das sind Sie nicht, ich wollte es Ihnen eigentlich nicht sagen, aber da hier in diesem Zimmer Ihr Leben zu Ende geht: Sie sind nicht der Vater. Niemals. es ist
meines. Das Kind hat meine Gene. Verstehen Sie? Sie und die Frau waren mein Instrument, für meine Gene und die von Professor Bäumler.“ Er hatte das ganz langsam gesprochen, danach schloss er
genießerisch die Augen. Als er mich wieder ansah, hatte seine Stimme einen spöttisch-tröstlichen Klang. „Nebenbei, wozu brauchen Sie ein Kind? Sie haben doch bisher ohne ein Kind ganz gut gelebt,
stimmt’s?“
Ich bekam kaum die Zähne auseinander, ich konnte nur flüstern: „Ich werde Sie töten.“
Er nickte. „Verstehe. Sie leiden. Ich sehe es Ihnen an. Seien Sie unbesorgt, das ist gleich vorbei. Sie werden einfach alles vergessen, und die Pein hat ein Ende.“ Er wandte sich zur Tür rechts
von mir und rief: „Baumgartner!“
Als ein Mann im weißen Kittel erschien und ich in ihm den Alten erkannte, der mir den Stick zugesteckt hatte, war ich für einen Moment erleichtert. Aber er hatte eine Spritze in der Hand und als
aus der Ferne die weiche Stimme des Professors kam: „Wehren Sie sich nicht, dann spüren Sie auch nichts.“, warf ich mich über den Schreibtisch und schlug zu, mitten in das Gesicht. Sein Kopf
schnellte zurück, flog wieder nach vorn und noch einmal traf ihn meine Faust. Darauf sackte er mit einem Seufzer vom Stuhl. Sofort drehte ich mich, um Baumgartner niederzuschlagen, doch zu meiner
Verblüffung ging er hinter den Tisch und bückte sich. Für ein paar Sekunden sah ich nur die Wölbung seines Rückens. Als er sich wieder aufrichtete, sagte er fast heiter: „Der Gedächtnisverlust
steht ihm besser als Ihnen. Schließlich ist er auch älter, nicht wahr.“
Gut, dachte ich, wenn er tot ist, er hat es verdient. Diesmal aber hatte ich keinen Hormonstoß zur Entschuldigung, das hatte ich mit Überlegung getan. Aber das war mir gleichgültig, wartete
darauf, was jetzt geschehen würde.
„Vielleicht sollte ich auch Ihnen eine Injektion geben, aber eine, die Sie lebendig macht? Los. Nebenan ist die Tasche mit dem Kind. Und dann verschwinden Sie durch den Park.“ Er zeigte zur
Terrassentür hinter dem Schreibtisch. „Beeilen Sie sich…“
Aber ich konnte mich immer noch nicht rühren. Er warf mir einen prüfenden Blick zu, dann ging er nach nebenan und kam mit einer Babytasche zurück. „Na, los, bewegen Sie sich!“ Er stieß mich an,
ich griff die Tasche, er öffnete die Terrassentür und ich lief an ihm vorbei die Freitreppe hinunter in den Park. Während meines Klinikaufenthaltes hatte ich dort manchmal auf einer Bank gesessen
und zum Arbeitszimmer des Professors hochgesehen. Nachdem ich meinen parkenden Wagen erreicht hatte, blieb ich kurz unter einer Laterne stehen und blickte in das Plastikfenster. Ich sah das
Gesicht eines kleinen schlafenden Kindes.
„Hast du das Baby entführt?“ Das war das erste, was sie sagte. Vielleicht war es lustig gemeint. Es war Nacht, die Fenster waren schwarz, sie stand im Bademantel, das geraubte Baby in den Armen.
Ich saß am Küchentisch und war zu erschöpft, um sofort zu antworten.
„Was ist los? Wem gehört das Kind?“ Das war die Frage, die ich am leichtesten beantworten konnte.
„Uns“, sagte ich. Für sie war es freilich die unverständlichste Antwort. Das Baby schlief immer noch.
„Ja, uns“, wiederholte ich. „Es ist gleich nach der Geburt vertauscht worden.“
„Du bist verrückt… Wie kommst du darauf?“ Ich hatte meinen Laptop aus dem Wagen mit hereingebracht, ich steckte den Stick hinein.
Während Beatrice Dr. Franzen mit wachsender Unruhe zuhörte, kümmerte ich mich um das Baby. Es war erwacht. Ein graues und ein braunes Auge sah mich an. Es war tatsächlich nicht mein Kind. Wie
sollte ich das Beatrice erklären?
Das Video war erloschen, sie wandte sich zu mir, sie bat um das Baby. Ich legte es ihr in den Arm.
Sie sah es lange an, lächelte und sagte: „Sieh mal. Es hat das graue Auge von dir und das braune von mir.“
Welch ein Glück, dachte ich.
Nachdem sie das Baby auf das Bett im Zimmer von Dr. Franzen gelegt und zur Absicherung zwei Stühle mit der Rückenlehne an die Kante gestellt hatte, gingen wir wieder in die Küche. Dort erzählte
ich, was in der Klinik passiert war.
„Der Professor ist bestimmt tot. Das wird man mir anhängen, obwohl der Alte es getan hat.“
„Ich finde ein Versteck für dich, sei unbesorgt.“ Ihre Stimme war ganz ruhig. „Aber als erstes fahre ich morgen früh in die Stadt und erkundige mich in der Klinik. Als Vorstandsmitglied, einen
Grund finde ich schon.“
Wir schliefen zusammen, aber wir rührten uns nicht an. Dazu waren wir zu müde und zu aufgeregt. Ich fragte mich, wie es weitergehen sollte. Heute kam es zu keinem Sex. Aber morgen oder übermorgen
.. Was dann? Wie sollte ich ihr erklären, dass ich kein Mann mehr war?
Auch sie schlief unruhig. Immer wieder stand sie auf und ging über den Flur, um nach dem Kind zu sehen. Nach unserem Kind.
Sie war vor mir wach, sie hatte gerade eine Tasse Kaffee getrunken, als ich nach unten kam. Ich sollte auf die Babys achten, sagte sie, dann fuhr sie davon. Und ich setzte mich an den Tisch, um
zu frühstücken. Aber ich hielt es nicht aus. Ich musste hinauf, um mir unseren Jungen anzusehen.
Er schlief, aber mir schien, als hätte er seinen der Körper verlassen und befände sich weit, weit weg. Ich beugte mich über sein Gesicht, dem Himmel sei Dank, er atmete.
Ich stand noch eine Weile. Wenn ich Beatrice richtig verstanden habe, so will sie das fremde Baby behalten. Wie will sie den Leuten erklären, dass sie auf einmal zwei Kinder hat? Ich ging über
den Flur in ihr Schlafzimmer und betrachtete das Baby in der Wiege. Es schlief ebenfalls. In diesem Alter sehen Babys ziemlich gleich aus. Und da fand ich die Lösung. Das hier hat Beatrice
adoptiert, dachte ich. Ich hatte ja mit Frauen zu tun, die schwanger werden wollten. Da konnte schon mal eine darunter sein, die es nach der Geburt bereute.
Kurzerhand tauschte ich die Babys aus. Unseres lag jetzt in der Wiege im Schlafzimmer von Beatrice und das adoptierte im ehemaligen Zimmer von Dr. Franzen.
Erleichtert ging ich wieder nach unten, setzte mich ins Bibliothekszimmer und blätterte ein Buch nach dem anderen durch, ohne auch nur einen Satz zu lesen.
Ich hörte den leisen Schlag der Wagentür des Solarautos. Beatrice war zurück, ich ging ihr entgegen, aber sie lief an mir vorbei, ich folgte ihr. Im Schlafzimmer zog sie eine Schublade der
Kommode auf, suchte nach etwas. Mit einem Foto in der Hand setzte sie sich und betrachtete es. Ich blickte ihr über die Schulter.
„Wer ist das?“ fragte ich.
„Mein Vater. Kurz bevor er verschwand.“ Sie reichte mir das Foto. „Erkennst du ihn?“
„Nein“, wollte ich schon sagen. Aber da sah ich die geweiteten Pupillen in ihren braunen Augen und ich erinnerte mich.
„Der Alte ist dein Vater“, sagte ich.
Sie nickte. „Ich ging zur Klinikleitung, da traf ich alle leitenden Ärzte, ich erfuhr, Professor Enzinger habe in der Nacht einen Gehirnschlag erlitten, sein Gedächtnis sei zerstört, er wüsste
nicht einmal mehr, wer er sei. Und dann ..“ Sie schluchzte auf, fasste sich wieder. „Und dann kam einer auf mich zu und nahm mich beiseite. Ich wusste sofort, es war der Alte mit der Spritze. Er
ging mit mir in den Park und begann zu erzählen. Dass er sich in der Klinik als Genetiker hochgearbeitet hätte, sein Ziel war, genetische Krankheiten zu bekämpfen, bis er eines Tages die
Experimente des Professors mit den Samen eurer Samenbank entdeckte. Insgesamt sind es neun Kinder, alle vertauscht und als Staatskinder in ein genetisches Testprogramm übernommen. Er stellte den
Professor zur Rede, doch dieser zeigte ihm Papiere, auf denen auch seine Unterschrift war. Damit war er in die Verbrechen verwickelt, ohne es zu wissen. Und dann stieß er vor gut einem Jahr auf
meinen Namen. Da beschloss er zu handeln.“ Sie machte eine Pause. „Ich verstand nicht, warum er mir das alles erzählte. Ich fragte ihn, warum ihm erst mein Name den Grund zum Handeln gab. Da
blieb er stehen, sah mich an und sagte: ‚Mein richtiger Name ist Bäumler. Ich bin dein Vater.’“ Sie schluchzte auf.
Ich wollte sie beruhigen, aber noch eh ich etwas tun konnte, war sie aufgesprungen und wollte über den Flur zu unserem Kind. Ich fasste ihre Arm und führte sie zur Wiege und sagte: „Hier ist es..
Ich habe sie ausgetauscht.“
Sie nahm das Baby in die Arme, es schlug die Augen auf und wieder schien sie von den verschiedenen Augenfarben fasziniert zu sein. Sie lachte leise und dann küsste sie jedes Auge. Ich bat sie,
das Kind zurückzulegen und sich hinzusetzen. Von der Manipulation mit den Genen des Professors hatte ihr Vater nichts gesagt. Das war gut so, schon jetzt war er mir äußerst sympathisch, auch ich
würde es ihr nie erzählen. Aber alles anderes von mir musste gesagt.
Sie saß ganz still, die Hände im Schoß gefaltet, sie unterbrach mich kein einziges Mal. Sie verhielt sich, wie ich gehofft hatte. Mir kam es fast vor, als säße sie vor mir, um sich mein Angebot
der Samenbank anzuhören.
„Beatrice“, sagte ich schließlich, „du siehst, ich bin kein Mann mehr. Wir können uns nicht mehr lieben.“
Vielleicht um mich zu trösten, widersprach sie. Zum Sex könnte ich doch meine Hände benutzen. Das wolle sie mir sofort zeigen. Wir zogen uns aus, legten uns ins Bett. Ich zitterte, mir war kalt,
sie streichelte mich, keine Regung, dann sollte ich es bei ihr tun, streicheln, küssen, bald schnellte ihr Körper wie unter Stromstößen. Aber ich empfand nichts, mich ließ es kalt, es war
Arbeit.
Wir brachen den Vorgang ab und ich sagte, ich wolle lieber die Gefängnisstrafe auf mich zu nehmen, als den Rest meines Lebens so zu leben.
„Nein!“ rief sie. „Wie viele Jahre? Acht? Niemals!“
Aber ich blieb dabei. Auf einmal strahlte ihr Gesicht. Sie würde ihren Vater bitten, seine Beziehungen einzusetzen, um für mich einen Straferlass zu erreichen.
Schon am nächsten Tag suchte sie ihn auf. Und sie hatte Erfolg, jedenfalls zum Teil. Nach einigem Hin und Her wurde meine Strafe auf zwei Jahre reduziert.
Am Tag meiner Entlassung holte sie mich ab und fuhr mich in die Klinik. Nach dem erfolgreichen Eingriff durch ihren Vater, ich kündigte meine Arbeit bei der Samenbank und zog zu ihr in die
Kolonie. Zu zweit führen wir jetzt das Haus als Ferienpension.
In der Kolonie hat sich einiges geändert. Der alte Vorstand wurde abgewählt, jüngere rückten nach, sie erlaubten das Fernsehen und die Computertechnik, sogar das Internet. Seitdem bekommt die
Kolonie wieder Zuwachs aus den Städten. Übrigens stellte man das Förderprogramm im selben Jahr ein, als man den Professor wegen irreparablen Gedächtnisverlusts in ein Pflegeheim für verdiente
Staatsbürger einwies. Ein halbes Jahr später starb er.
Unsere beiden Jungen entwickeln sich gut, sie sind jetzt 11 Jahre alt. Harry, das Adoptivkind, ist ein ausgezeichneter Sportler, und Jens, unser Sohn, ist hochintelligent, der Beste in seiner
Klasse. Seine besondere Fähigkeit: Nach wenigen Worten kann er jeden Satz zu Ende führen, sogar weitere folgerichtige Sätze hinzufügen. Spaßeshalber haben wir Freunde das nachprüfen lassen. Sie
stammelten zwei, drei Worte – und er sprach aus, was sie sagen wollten, auch das, was sie wohl nur gedacht hatten..
„Das ist ja wie Gedankenlesen!“ hieß es. Ich wünschte, ich könnte gewisse Gene bei unserem Sohn ausschalten.
Was mich und Beatrice betrifft: Sie weiß immer noch nichts von der Genmanipulation, und das wird so bleiben. Ihre Lebensphilosophie würde zerstört, die darin besteht, dass der Mensch sein Körper
ist. Manchmal sagt sie, sie vermisse Leidenschaft bei mir. Ich entgegne: Das ist ja gerade das, was Leiden schafft. Sie lacht, sie hält es für ein Wortspiel. Aber ich bin der Meinung, dass die so
genannten leidenschaftlichen Gefühle von Hormonen ausgehen und der Körper nicht über mich bestimmen darf. Ich bin mehr als mein Körper. Aber ich liebe ihn. Und vielleicht noch mehr den Körper von
Beatrice – und das, was hinter ihren Augen ist.