Siehe auch Deutsches Kriegskind
Hörspiel für 5 Stimmen
THERAPEUT
MANN / KLAUS
DAS MÄDCHEN
VATER
THERAPEUT: Sie sollten täglich mit der U-Bahn zu fahren. Haben Sie das getan?
MANN: Ja. Und es ging besser, als ich dachte. Nur einmal ein Schweißausbruch, da kam ein Pulk Hertha-Fans herein.
THERAPEUT: Na, da würde auch ich nervös werden. Was haben Sie da? Ein Buch? Darf ich mal sehen?
MANN: Gleich.. Dazu muss ich Ihnen was sagen. Ich krame in der letzten Zeit in alten Sachen. Was soll man sonst tun. Wissen Sie, im Laufe des Lebens, da sammelt sich was an. Man hat es nicht
weggeworfen damals, nicht wegwerfen können oder nicht wollen, aber jetzt kramt man halt darin und denkt, was sollen die Leute damit, wenn man tot ist. Und man denkt, eigentlich ist es längst
vergessen, man sollte sich davon trennen können, das ist ja alles Vergangenheit und nutzlos. Aber dann hat man plötzlich was in der Hand, eine Türklinke, man drückt darauf aus Gewohnheit, die Tür
geht auf, nur einen Spalt, und dann.. Ich rede heute viel. Entschuldigen Sie... .
THERAPEUT: Was ist mit dem Buch?
MANN: Das Buch, richtig. Ich schlug es auf an einer Stelle… nein, es ging fast von selbst auf. Da ist es wohl schon sehr oft geöffnet worden. Und dann erkannte ich es. Dieses Foto...(Pause) Das
war eine Überraschung, ja... Ich erinnerte mich. Ich war noch ganz jung... Wie soll ich das erklären?.. Dass ich bei Menschen einen Schweißausbruch bekomme, als erwarte mich eine Prüfung,
der ich nicht gewachsen bin... Ich glaube, daran ist das Buch schuld.
THERAPEUT: Ich behandle Sie seit einem Jahr und das sagen Sie mir erst heute.
MANN: Ja, richtig, Sie fragten mich, ob ich nicht irgend etwas erlebt hätte, das die Ursache meines Problems sein könnte. Und warum jetzt im Alter von 70? Ich wusste keines. Mein Leben war
normal.. Doch jetzt…vielleicht. Bitte, hier, das Foto. Seit vorgestern, als ich das Buch fand.. Da ist ein Foto, das muss ich mir immer wieder ansehen.
THERAPEUT: Es fasziniert Sie?.
MANN: Faszinieren! Das Foto ist ungeheuerlich! Es ist ein Schock. Es hat mich getroffen.. Faszinieren.. Bei diesem Buch! Unmöglich.. Ich wünschte, ich könnte das Buch einfach wegstellen zu allen
anderen Büchern. Aber ich muss wissen, warum das Foto mich so berührt. Es ist nicht so grausam wie die anderen Fotos im Buch. Bei weitem nicht. Aber das Bild lässt mich einfach nicht los..
Warum?
THERAPEUT: Darf ich das Buch sehen?
MANN: Natürlich, hier…. Es ist ein Bildband. .
THERAPEUT: Ja, ich sehe. ..Das Titelbild sagt schon alles. Und dann der Titel: Der gelbe Stern.
MANN: Das Titelbild sieht geradezu human aus, nicht wahr?
THERAPEUT: Ein Ehepaar, Mann und Frau tragen einen gelben Stern... mit Reisegepäck... Ein kleiner Junge an ihrer Seite….
MANN: Auch der trägt einen gelben Stern, sehen Sie genau hin! Seine Jacke ist so hell, das macht den Stern blass... Haben Sie Reisegepäck gesagt?
THERAPEUT: Ja.
MANN: Die Familie ist auf dem Weg zu einem Sammelplatz! Von dort geht es in ein KZ.
THERAPEUT: Das ist aus dem Bild nicht zu ersehen.
MANN: Das sollten Sie eigentlich wissen.
THERAPEUT: Reden wir doch von Ihnen.
MANN: Gut. Ich kann mich erinnern, wann ich das Buch bekam. Ich war 16. Das Buch in die Hände bekam ich von einem Schulfreund. Eigentlich hätte ich es ihm zurückgeben müssen. Warum tat ich es
nichtß Das weiß ich nicht mehr.. Schauen Sie mal rein. .(Man hört das Aufklappen des Buches) Sehen Sie. Auch Sie öffnen es an der Stelle. Da geht es fast von alleine auf. Ich muss mir das Foto
auf der rechten Seite oft angesehen haben.
THERAPEUT (nach einer kleinen Pause): Ich finde nichts Ungewöhnliches daran. Eine Gruppe Zivilisten, begleitet von Wehrmachtssoldaten.
MANN: Begleiten? O Gott, wann sind Sie geboren?
THERAPEUT: 1974.
MANN: Sie haben keine Ahnung.
THERAPEUT: Pardon. Ich lese erst jetzt die Bildunterschrift... "Die Straßen des Ghettos waren voll dichten, beißenden Qualm.“ Ja, das sind sicher Juden...
MANN: Jetzt schockiert Sie das Bild. Ja, das tut es. Und ich war damals 16, viel empfindlicher als Sie heute! Was ist in diesem Augenblick mit mir passiert? Ich will es wissen! Ich muss es
wissen! Es bewegt mich, es berührt mich noch immer. Ich erinnere mich, ich erinnere mich. Irgendwas passierte da.... Helfen Sie mir! Sie machen doch auch Hypnose.
Versetzen Sie mich in den Moment, als ich das Foto zum ersten Mal sah.
THERAPEUT: So was mach ich nur mit Trauma-Patienten. Sie sind keiner, Sie haben eine Verhaltensstörung.
MANN: Entschuldigen Sie.. Mein ganzes Leben war eine Verhaltensstörung!
THERAPEUT: Lassen Sie uns zuvor erst darüber reden.
MANN: Ja, gut. Ich fange an. Das war 1962, eine gute Zeit. Wir hatten gerade eine Neubauwohnung bezogen. Meine Eltern kauften sich den ersten Kühlschrank, dann die erste
Waschmaschine, bald kam ein Fernseher dazu. Ich bekam einen Plattenspieler. Mein Vater schaffte sich einen Opel an,. Elvis Presley, Rock'n Roll und Mädchen... Mein Gott, jetzt fällt es mir
ein. Sehen Sie das Mädchen auf dem Foto... in der ersten Reihe?
THERAPEUT: Eine junge Frau.
MANN: Nein, sehen Sie doch, wie unschuldig sie ist. Bitte, lassen Sie mich noch mal einen Blick darauf werfen. (Man hört seinen Atem, während er das Bild ansieht) Nein. Sie hat sich nicht
verändert.
THERAPEUT: Natürlich. Es ist ein Foto.
MANN: Ein Foto... Ich sagte schon, Sie haben keine Ahnung! Seltsam.. Sie ist Immer noch schön und… glücklich.
THERAPEUT: Glücklich? Wie kommen Sie darauf. Sie muss doch wissen, wohin es geht.. Sie sieht überhaupt nicht her, sie sieht zu Boden.
MANN: Weil sie lächelt, aber ich soll es nicht sehen..Verstehen Sie?
THERAPEUT: Nein. Warum sollte sie lächeln?
MANN: Weil sie mich sieht. Ich steh ja am Straßenrand..
THERAPEUT: Wirklich?
MANN: Sie verstehen nichts, gar nichts verstehen Sie. Was sind Sie für eine Generation.
THERAPEUT: Ich sehe nur das Foto.
MANN: Und fühlen nichts?.. Dieses Mädchen ist voller Leben. Wie stolz sie geht, und wie kräftig ihre Schenkel bei jedem Schritt gegen den Mantel schlagen!
THERAPEUT: Übrigens, es ist eine junge Frau.
MANN: Sie kann höchstens 18 sein.. Sie hat bestimmt noch nicht die erste Liebe erlebt!
THERAPEUT: Wie kommen Sie darauf?
MANN: Weil wir uns sofort verstanden. Hören Sie! Ich muss mit ihr reden. Wir hatten eine Beziehung.. Ja doch! Lächeln Sie nicht!
THERAPEUT: Das tu ich nicht, keineswegs. Ich glaube Ihnen.
MANN: Also dann.. Versetzen Sie mich zurück! War ich in sie verliebt? Ist das möglich? Nicht auszudenken.. Dann wäre ja dieses Mädchen meine erste Liebe gewesen!
THERAPEUT: Ich brauch Sie gar nicht zurück zu versetzen, Sie sind ja schon wieder 16.
MANN: Spotten Sie nicht! Ist denn dieser Gedanke so verrückt?
THERAPEUT: Nein. Also gut. Versuchen wir es. Aber seien Sie nicht enttäuscht, wenn Sie etwas ganz anderes erfahren.. .
MANN: Ich habe keine Angst.
THERAPEUT: Na schön, versuchen wir's.. Bitte legen Sie sich hin.. Ganz locker.. Sehen Sie den Stift an, ganz genau, sehen Sie auf die Spitze.. Sie werden müde, sehr müde, die Augen fallen
zu. Sie sinken.. Immer tiefer.. Sie sind angekommen.. Es ist die Zeit des Wirtschaftswunders, Sie haben eine neue Wohnung, Ihr Vater hat einen Opel, der Kühlschrank ist gefüllt.. Sie sind
16 Jahre, Ihr Freund hat Ihnen ein Buch geschenkt. Es heißt Der gelbe Stern. Sie sind neugierig.. Sie schlagen es auf... blättern .. da sind Fotos. Schlimme Fotos. (schweres Atmen). Sie
lassen das Buch sinken. Sie beruhigen sich.. Sie atmen ruhig.. Sie fühlen sich besser. Sie nehmen das Buch wieder auf, Sie blättern darin.. Und jetzt sind Sie bei dem Bild. „Der Marsch zum
Umschlagplatz“ steht darunter. Und: Die Straßen des Ghettos waren voll dichtem, beißenden Qualm. Haben Sie es? Gut. Sehen Sie es sich an..
MANN: Ja... Das Foto.. Ja, ich sehe ... Dahinten ist der Himmel schwarz. Und diese Menschen.. . Eine Gruppe von Menschen.. Männer, Frauen, ein Kind... Die Männer mit erhobenen Händen.. Da, an der
Seite, ein Soldat mit Gewehr.. (Man hört die schleifenden Schtritte auf dem Pflaster) Ein deutscher Landser. Ich kenne diese Uniform. Er grinst, ja, er grinst.. Und da.. In der ersten Reihe
links, ganz außen, so nah, dass ich sie greifen könnte .. ein Mädchen. Eingehakt mit einer alten Frau.. An sie drängt sich ein Kind.. Warum schaut das Mädchen zu Boden? Will sie mich nicht sehen?
Bitte, schau mich an!
DAS MÄDCHEN (während das Geräusch der schleifenden Füße bleibt): Ich weiß, dass du da bist.. Zu deinem Schutz schau ich dich nicht an.
KLAUS: Zu meinem Schutz?
DAS MÄDCHEN: Sie würden glauben, du gehörst zu uns. Und du musst mitrkommen.
KLAUS: Ich werde mitgehen.
DAS MDCHEN: Wie heißt du?
KLAUS: KLaus. Und du?
DAS MÄDCHEN: Anna.. Reden wir leise, sie sollen es nicht hören. Wie hast du mich gefunden?
KLAUS: Du bist in einem Buch. Auf einem Foto. Du gehst mit anderen.. Soldaten bewachen euch.
DAS MÄDCHEN: Vielleicht haben sie Angst vor uns... Du hast da ein Buch, sagst du. Erzähl mir davon..
KLAUS: Das meiste sind Fotos..
DAS MÄDCHEN: Schöne Fotos?
KLAUS:. Ich kann nicht wegsehen.. Wie du gehst! Bei jedem Schritt schlägt dein Knie deinen Mantel nach oben.
DAS MÄDCHEN: So geh ich immer. Was ist seltsam daran?
KLAUS: Die Umstände!
DAS MÄDCHEN: Ich sagte doch, ich geh immer so...: Wo bist du?
KLAUS: In meinem Zimmer.
DAS MÄDCHEN: Beschreib es mir..
KLAUS: Die Zimmertür ist links von mir.. Wenn ich vom Buch aufsehe, sehe ich das Fenster.. Es geht in den Garten..
DAS MÄDCHEN: Mach es auf, bitte.
(Öffnen eines Fensters, Vogelgezwitscher)
DAS MÄDCHEN: Da, das war ein Buchfink... Und jetzt.. wie schön...eine Amsel. Was siehst du?
KLAUS: Einen Fliederbusch.. Fünf oder vier Meter von hier.
DAS MÄDCHEN: Blüht er?
KLAUS: Ja, es ist Mai.
DAS MÄDCHEN: Riechst du den Duft?
KLAUS: Ja.
DAS MÄDCHEN: Und der Himmel? Wie sieht er aus?
KLAUS: Blau, ein paar Wolken..Da fliegt ein Flugzeug..
DAS MÄDCHEN: Ein Bomber?
KLAUS: Nein, wieso.. Es ist doch Frieden. (Plötzlich Schreie, Befehle: Zurück! Zurück! Schüsse.. Wieder Marschtritte) Was ist passiert?
DAS MÄDCHEN: Einer wollte weg.. (Marschtritte) Kann ich noch mal die Vögel hören.. (Vogelgezwitscher) Ja, jetzt spür ich es auch.. Es ist Frühling.. Die Welt ist nie so schön wie im Frühling. Die
Nächte sind Klavierstücke.
KLAUS: Wie kannst du jetzt so was sagen!
DAS MÄDCHEN: Ich lebe. Und es ist Frühling. Es gibt immer einen Frühling. Das kann keiner verhindern, auch die hier nicht. Übrigens..Die da in den Uniformen.. Die sind tot, sieh mal, wie
ausgetrocknet sie aussehen.
KLAUS: Die Uniformen kenne ich. Ich hab sie bei meinem Vater gesehen, auf einem Foto... Das sind deutsche Soldaten..Und der, der auf eurer linken Seite mitläuft, das Gewehr unterm Arm, siehst du?
Er guckt zu mir rüber.. Als wollte er mir etwas sagen.. Sein Mund ist schief... Das ist...das ist mein Vater!. Ja, das ist er. Der schiefe Mund ist sein Grinsen. So lacht er mich aus.. Er
verspottet mich, er nimmt mich nie ernst.. Wahrscheinlich weiß er, dass ich jetzt nichts machen werde.. Aber er wird sich wundern! Ich schrei, er soll euch gehen lassen. Und dass er ein Mörder
ist, wenn er es nicht tut. Und alle sollen es hören!
DAS MÄDCHEN: Schrei nicht. Das hilft nichts. Er würde dich bloß erschießen!
KLAUS: Mein Vater?
DAS MÄDCHEN: Möge er nicht dein Vater sein! Schau nicht mehr hin..
KLAUS: Er grinst!
DAS MÄDCHEN: Sag etwas. Ich höre dir zu. .. (Stille) Du sagst nichts. Was ist passiert? .
KLAUS: Dieser Soldat mit dem Gewehr. Ich bin fast sicher.. Ja. Es ist mein Vater! Ich muss mit ihm reden...
DAS MÄDCHEN: Versuch es.
KLAUS: Er ist auf der anderen Seite.. Ich muss schreien.. Er muss euch frei lassen. Sofort! (ruft) Vati! Vati! Lass sie frei! Die haben nichts getan! Die sind alle unschuldig .. Und das
Mädchen ist meine Freundin! (Schleifende Schritte, Normalton) Er grinst. Ich kenne das. Er lacht mich aus..
DAS MÄDCHEN: Vergiss ihn.
KLAUS: Aber ich muss doch was tun.
DAS MÄDCHEN: Du tust ja schon was, du redest mit mir. Hör nicht auf damit, bitte. Ich höre dich, auch wenn ich dich nicht sehe. Ich weiß, du bist aus der Zukunft. Der Gedanke macht mich froh.. Es
gibt also eine Zukunft. Und die Zukunft ist gut, sie spricht durch dich zu mir.. Sag mir die Jahreszeit!
KLAUS: Es ist Frühling, Mai, der Flieder blüht.
DAS MÄDCHEN: Frühling. Vergiss das nicht, Sohn dieses Mannes. Und denke daran: Dieser Mann gehört zu den Toten. Aber du bist das Leben und ich lebe mit dir.
KLAUS: Nein, nein.. Sprich nicht so! Nicht so! Du musst schreien! Und so , dass sich alle die Ohren zuhalten müssen. Das da sind Mörder! Mörder! Zeig deine Wut, deinen Hass, dein Entsetzen,
deine Angst.. Du hast doch Angst! (schreit) So wehr dich doch! Oder lauf davon! Renne! Renne! (Pause)
DAS MÄDCHEN: Du weißt doch, was passiert. Sie schießen sofort. Aber ich will nicht schuld an meinem Tod sein! Die Schuld soll bei ihnen bleiben! (Schuss) Siehst du, da hat sich wieder einer aus
der Reihe gewagt.
KLAUS: Wer war das? Mein Vater?
DAS MÄDCHEN: Ist das so wichtig?
KLAUS: Ja! Ich werde ihn bestrafen! Ich werde alle bestrafen!
DAS MÄDCHEN: Es heißt, du sollst Vater und Mutter ehren.
KLAUS: Es heißt auch: Du sollst nicht töten.
DAS MÄDCHEN: Ja, auch das ist wahr.
KLAUS: Wenn du wenigstens schreien würdest.. Ich verstehe das nicht.. Du redest doch mit mir, also hast du eine Stimme. Ich würde mitschrein! Alle müssten es hören. Hier im Haus und auf der
Straße! In der ganzen Stadt! Also schrei und ich schrei mit!
DAS MÄDCHEN: Schreien, ach Gott. Da hat man einer Frau die Geldbörse gestohlen und sie schreit. Da ist ein Hund überfahren worden und der Hundebesitzer schreit..
KLAUS: Machst du dich lustig?
DAS MÄDCHEN: Entschuldige.. Aber über das Schreien sind wir schon weit hinaus.
KLAUS: Du willst mich nicht verstehen!
DAS MÄDCHEN: Weil ich dich zu gut verstehe. Nur hilft es uns nicht. Du sollst nicht schreien. Das bringt nichts. Du sollst hoffen und an die Zukunft glauben.. Uns zuliebe! Mir zuliebe!
KLAUS: So wein doch wenigstens.
DAS MÄDCHEN: Ja, wenn wir uns setzen dürften, für eine kleine Rast, dann hätten wir Zeit zum Weinen.
KLAUS: Könnte ich wenigstens bei dir sein. An deiner Seite mitgehen. Und ich wäre glücklich. Selbst wenn morgen alles vorbei ist.
DAS MÄDCHEN: Was ist vorbei?.. Schon gut. Ich weiß.. Nein, es ist nie vorbei. Du weißt doch.. Kain erschlug seinen Bruder Abel. So geht die Geschichte des Menschen bis heute. Sag mal,
bevor du mich sahst – hättest du gedacht, dein Vater könnte einen anderen töten?
KLAUS: Nein. Niemals. Das wäre je kriminell, das tut er nicht. Er gehorcht dem Gesetz, er hält sich an jede Vorschrift, und so soll auch ich sein, das verlangt er.
DAS MÄDCHEN: Ja, er gehorcht. Wie viele andere. Sie gehorchen, ohne nachzudenken. Aber weißt du, dieser Soldat da – möge es nicht dein Vater sein! – wird gezeichnet sein. Sein Herz
schlägt, er glaubt, es ist sein Herzschlag, aber in Wirklichkeit ist es die Glocke des Gerichts... Und das wird er bald wissen.. Bist du müde?.
KLAUS: Ja, es ist spät. Fast schon Nacht.
DAS MÄDCHEN: Geh schlafen!
KLAUS: Wie soll ich schlafen.. Eure Tritte auf dem Pflaster sind so laut
DAS MÄDCHEN: Damit schreiben wir unsere Geschichte. So schreiben wir sie in die Erde... (Stille) Was ist?
KLAUS: Da kommt jemand.
(Tür geht auf)
VATER: Was ist hier los? Mit wem redest du?
KLAUS: Mit keinem.
VATER: Lüg nicht! Ich hab dich gehört. Und du hast nach mir gerufen.
KLAUS: Und? Bist du gekommen?
VATER: Ich bin doch kein Hund. ...Und Soldat.. Hältst du mich für deinen Untergebenen?
SOHN: Du warst doch Soldat! Erzähl, was du getan hast.
VATER: So sprichst du nicht mit mir...Was hast du da? Ein Buch?
KLAUS: Geht dich nichts an.
VATER: Und ob das mich was angeht. Zeig her. Her damit! (reißt ihm das Buch aus den Händen, blättert) Woher hast du das?
KLAUS: Ich weiß jetzt, was du getan hast! Du warst einer von denen, ein Mörder!
VATER: Was war ich?
KLAUS: Ihr alle wart Mörder!
VATER: Wovon redest du?
KLAUS: Von dem, was hier auf den Fotos ist!
VATER: Das kenn ich nicht, das ist gefälscht.. . Das ist Propaganda. Das hat der Ami gemacht, um uns vor der Welt schlecht zu machen.!
KLAUS: Gib mir das Buch zurück!
VATER: Alles gelogen! Ich werd dir was Richtiges besorgen.. Menschenskind! Es gibt tausende Bilder von den kaputten Städten in Deutschland1 Das musst du dir mal ansehen! Das waren die Amis!
Das ist die Wahrheit! Und das hier, das kommt in den Ofen. Das wird verbrannt!
KLAUS: Vergasen hats du vergessen! (Man hört Gekeuche)
VATER: Wirst du wohl loslassen!
KLAUS: Das gehört mir!
VATER: Idiot! In den den Müll gehört das! Na warte.. Ich sag das deiner Mutter.. Du kriegst Hausarrest....
(Tür schlägt zu)
DAS MÄDCHEN: Wo warst du? Ich hab dich nicht mehr gehört. Was ist passiert?
KLAUS: Der Soldat war da. Hab ihn verjagt.
MÄDCHEN: Du meinst deinen Vater.
KLAUS: So was ist kein Vater. Sieht nur so aus. Das ist ein Mörder.
DAS MÄDCHEN: Du bist sein Sohn.
KLAUS: Ja und? Was kann ich dazu? Und was ist das: Sohn sein. Ich bin ich und sonst nichts.
DAS MÄDCHEN: Doch. Jeder von uns ist eine ganze Welt.
KLAUS: Eine Welt? Was für eine?
DAS MÄDCHEN: Ach bitte. Soll ich dich bemitleiden? (Stille) Das musst du selbst wissen..
KLAUS: Ja, und das weiß ich. Das hier ist ein Gefängnis, ein Zuchthaus. Ich hau ab. An meinem 21. Nichts wie weg.. Über den Horizont hinaus.. und noch weiter.. (stöhnt)
DAS MÄDCHEN: Was ist?
KLAUS: Ihr geht so schnell. Ich komm nicht mit..
DAS MÄDCHEN: Sag das denen da.
KLAUS: Ich glaub.. meine Beine ....
DAS MÄDCHEN: Was ist damit?
KLAUS: Ich weiß nicht... Ich kann nur noch kleine Schritte machen.. Sie werden immer kleiner... Nein.. Das ist doch.. Meine Beine.... Sie schrumpfen!
DAS MÄDCHEN: Du bist das lange Gehen nicht gewohnt.
KLAUS: Nein, wirklich.. Da stimmt was nicht. Und jetzt.. sieh mal! Die Arme! Sie werden kürzer.. Hilf mir, DAS MÄDCHEN! Lass mich zu euch! Hol mich rüber! Es darf so nicht enden!
DAS MÄDCHEN: Wir tun schon viel.. Wir reden miteinander.
KLAUS: Reden! Ich muss was tun.! Ich komme jetzt zu euch... Ich springe. (Pause) Es geht nicht. Ich hab keine Beine mehr!
DAS MÄDCHEN: Wozu brauchst du Beine.. Du bist doch noch da!
KLAUS: Reich mir deine Hand! Rette mich!
DAS MÄDCHEN: Wovor soll ich dich retten? Vor deinem Leben? Da... Siehst du, wir sind schon da!
KLAUS: Wo? Was ist das für ein Ort? Wie sieht er aus?
DAS MÄDCHEN: Ein großes Haus. Langezogen, mit einem flachen Dach. Sie sagen, wir werden geduscht. Und das haben wir auch nötig. Ich bin ganz verschwitzt...
KLAUS: Nein! Das stimmt nicht! Ich weiß, was es ist!
DAS MÄDCHEN (leise): Ich auch, Klaus. Ich weiß es. Alle wissen es. Aber siehst du das kleine Mädchen hier? Das läuft schon die ganze Zeit mit. Es sagt kein Wort, so tapfer ist es.. (laut)
Wir werden geduscht. Endlich mal wieder gewaschen! Es ist auch wirklich nötig, nicht wahr, Kleines?
KLAUS: Warte! Hier. hier.. . im Buch. da steht was! Die russische Armee ist schon ganz nah,. Reißt aus! Rennt, rennt alle! Sie können nicht alle erschießen!
DAS MÄDCHEN: Wozu? Die Befreier kommen ja, bald ist alles vorbei.Und dann werden wir tanzen! Kannst du tanzen?
KLAUS: Wie denn?Sieh doch! Ich hab keine Beine!
DAS MÄDCHEN: Wir werden uns umarmen!
KLAUS: Ich hab keine Arme!
DAS MÄDCHEN: Und wir werden uns küssen!
KLAUS: Siehst du mich noch?
DAS MÄDCHEN: Jetzt gehen wir hinein. Wir sehen uns im Frieden!
KLAUS (schreit): Anna! Du wirst mich nicht erkennen! (Die eiserne Tür schlägt zu) Anna! Ich bin ein Wurm!
THERAPEUT: Stopp! Es ist vorbei.. Atmen Sie tief.. Alles versinkt, verschwindet.. . Es ist vorbei. Und alles ist gut. Öffnen Sie die Augen. Richten Sie sich auf. Gut so. Sie sind bei
mir. Hier...ein Tuch. Wischen Sie sich das Gesicht.
MANN: Gott.. Ich weine.
THERAPEUT: Nur zu.
MANN: Ich konnte sie nicht retten! Ich konnte sie nicht retten.
THERAPEUT: Nein, das konnten Sie nicht. Keiner hätte das können. Es ist ein Buch!
MANN: Ich weiß, ich weiß.. O Gott..
THERAPEUT: Ein Foto, es ist nur nur ein Foto!
MANN: Ich habe sie geliebt, ich weiß es jetzt. Es war meine erste Liebe.
THERAPEUT: Möglich.
MANN: Und ging in den Tod! Vor meinen Augen!
THERAPEUT: Passen Sie auf.... Sehen Sie her.. Wir klappen das Buch jetzt zu und legen es beiseite. Es ist vorbei... Brauchen Sie eine Pause?
MANN: Nein.
THERAPEUT: Sagen Sie.. Wenn Sie auf Ihr Leben zurückblicken, wie beurteilen Sie es?
MANN: Normal, denke ich.
THERAPEUT: Bitte etwas genauer.
MANN: Ein Leben, wie man eben lebt. Mit angezogener Handbremse. Man hatte sich anzupassen. Wenn ich die heutige Jugend mit meiner vergleiche, könnte ich neidisch werden.. Wieso könnte? Ich
beneide sie, ich beneide sie heftig. Womit hat sie das verdient? Sie kann sich alles leisten. Keine Grenzen, nirgendwo.Und vor allem, sie haben keine Väter, die sie nach ihrer Vergangenheit
fragen müssen. Ich habe zwei erwachsene Kinder. Meinbe Vergangenheit interessiert sie nicht. Und Recht haben sie. Ich bin ein Vater ohne Vergangenheit. Ja, hätte ich die Kraft zum Vatermord
gehabt! Entschuldigen Sie... Das war daneben.. Obwohl.. Das wäre vielleicht das Beste gewesen. Ja, und das will ich Ihnen lieber gleich sagen, Sie werden es wissen wollen: Ich bin nicht abgehaun.
Ich blieb zuhaus. Begreifen Sie das? Was für ein Scheißleben...
THERAPEUT: Hm... Das klingt nach Selbstmitleid...
MANN: Nein! Es stimmt doch! War ich besser als dieser Soldat da auf dem Foto?
THERAPEUT: Es ist nur ein Foto, mehr nicht.
MANN: Das sagen Sie als Nachgeborener! Und ich sagen Ihnen was: Sie haben eine Distanz, die ist typisch für Ihre Generation! Das ist eine Schande, wirklich.
THERAPEUT: Sie erniedrigen sich selbst. Ja, vielleicht genießen Sie es sogar.
MANN: Ich dachte, Sie wollen mir helfen.
THERAPEUT: Die Wahrheit ist, es gibt eine Lust am Schuldgefühl. Man kann sich sogar eines konstruieren, dann kann man sich hübsch darin zu suhlen..
MANN: Das ist doch Unsinn. Ich hab den Eindruck, Sie wollen mir ein Stück meines Lebens amputieren.
THERAPEUT: Im Gegenteil. Genau betrachtet, beschäftigt Sie das Leben Ihres Vaters mehr als Ihr eigenes. Im übrigen.. Ihr Leben war kein Scheißleben, überhaupt nicht. Es war ein Leben wie
bei allen anderen. Aber das Leben des Mädchens auf dem Foto... Das war heroisch! Wie sie da in den Tod geht, tapfer, mutig, schützt sogar noch ein Kind. Das zeigt Größe. Ja, da kann
man sich selbst wie ein Wurm vorkommen. Aber Sie sind keiner. Das wissen Sie doch. Ihr Leben war erfolgreich.
MANN: Meinetwegen. Und was jetzt? (Demonstrationslärm von draußen) Was ist da los?
THERAPEUT: Moment... Ich mach das Fenster auf. (Man hört, wie er zum Fenster geht und es öffnet. Von draußen Lärm einer Demonstration mit Naziparolen, z. B. "Wer Deutschland liebt, ist
Antisemit") Was ist Ihnen?
MANN: Ich.. Ich bekomme keine Luft.
THERAPEUT: Es kommt doch Luft herein!
MANN: Schließen Sie es, bitte schließen Sie es! (THERAPEUT schließt das Fenster. Nur noch gedämpftes Geschrei)
THERAPEUT: Besser?
MANN: Es geht wieder.. Aber mir geht es nicht gut. Das sehen Sie doch!
THERAPEUT: Ja, Sie haben ein Trauma. Wegen eines Fotos. Das kannte ich noch nicht. Interessant.
MANN: Ja, gut. Und was jetzt?
THERAPEUT: Ich verschreib Ihnen eine Therapie. (Macht das Fenster auf. Sprechchor: "Ausländer raus! Deutschland den Deutschen!" usw.)
MANN: Lassen Sie das!
THERAPEUT: Da draußen ist die Vergangenheit Ihres Vaters! Und Sie sind kein Wurm! Stellen Sie sich auf die Seite der Bedrohten! Bestimmt ist darunter jemand wie das Mädchen auf dem Foto.
MANN: Ich verstehe, ich verstehe! Sie haben Recht! Ich werde es tun. Und Sie?
THERAPEUT: Nicht nötig. Mir geht's gut.
ENDE