Siehe auch Kriegsgeburt
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Hörspiel für 5 Stimmen
THERAPEUT
MANN / KLAUS
ANNA
VATER
THERAPEUT: Wie geht's? Sie sehen besser aus als sonst.
MANN: Finden Sie? Seit zwei Wochen bin ich 70.
THERAPEUT: Große Party zum Geburtstag?
MANN: Der reinste Rummel. Ich wollte das nicht, aber meine Frau bestand darauf.
Etwa 30 Leute..
THERAPEUT: Und?
MANN: Einmal ein Schwindelanfall. Setzte mich kurz. Hat keiner
bemerkt.
THERAPEUT: Sie sollten täglich ein paar Stationen U-Bahn zu fahren. Haben Sie das getan?
MANN: Ja. Und es ging besser, als ich dachte. Nur einmal ein Schweißausbruch, da kam ein Pulk Hertha-Fans herein.
THERAPEUT: Na, da würde auch ich nervös werden.. Was haben Sie da? Ein Buch?
MANN: Ja, und darüber muss ich mit Ihnen reden. Ich krame in meinen alten Sachen. Und da fand ich das hier..
THERAPEUT: Darf ich mal sehen..
MANN: Aber natürlich.. Sie sollen sogar. (Man
hört Blättern in einem Buch.)
THERAPEUT: Der gelbe Stern..196 Bilddokumente.. Die Judenverfolgung in Europa....
MANN: Sehen Sie den Bruch im Buchrücken.. Da klappt es von selbst auseinander..
THERAPEUT: Ein altes Buch. Ein Bildband..
MANN: Von 1960. . Ich war gerade 16. Da bekam ich es zum ersten Mal in die Hände...
THERAPEUT: Und jetzt wieder..
MANN: Ja.. Das ist merkwürdig. Oder auch nicht. Ich möchte Sie um etwas bitten.THERAPEUT: Gerne. Worum geht's?
MANN: Sie wissen ja, ich mochte meinen
Vater nicht, ja, ich hasste ihn sogar.
THERAPEUT: Darüber sprachen wir schon.
MANN: Diesmal geht es um
etwas anderes. Er war Nazi. Anfangs nahm ich das nicht so wichtig. Er hielt sich ja auch zurück. Eigentlioch redete er nie darüber.. Naja, ich war schon ziemlich informiert,
aber es war eben bloß eine Geschichte, Vergangenheit, es machte mir höchstens Spaß, ihn aufzuziehen. Einmal sagte ich ihm: Ihr habt alle Heil Hitler geschrien. Aber geheilt hat ihn dann
doch keiner.. Na, da ging er auf mich los, meine Mutter warf sich dazwischen.. Obwohl auch sie damals „Heil Hitler“ geschrien hat.. Das lassen wir mal so stehen. Oder auch nicht.. Was ich
sagen wollte.. Herrgott, ich eier ja herum. Also das Buch hier. Ein Freud gab es mir und meinte, ich soll das lieber keinem zeigen, es sei sozusagen ein verbotenes Buch. Als ich es vor zwei Tagen
fand und darin blätterte.. Die Fotos.. Da erinnerte ich mich. Von einem Foto kam ich nicht los.. Ich schaute es mir wieder an, da musste ich das Buch zuschlagen.. Ich ertrug es nicht..
Warten Sie. Ich zeig Ihnen das Foto.. (Man hört ihn im Buch blättern). Hier ist es. Es ist nicht einmal das schlimmste. Was hat mich da so aufgeregt?
THERAPEUT: Darf ich mal sehn?
MANN: Aber natürlich. Das sollen Sie sogar.
THERAPEUT(man hört, wie er das Buch nimmt, kleine Pause): Ein schreckliches Bild.. Ein Zug von Zivilisten..
Bestimmt Juden.. Und Wehrmachtssoldaten begleiten sie..
MANN:
Begleiten ist gut..
THERAPEUT: Entschuldigung.. Ja, das hier
endet sicher in der Gaskammer.. Schrecklich..
MANN: Das ist ein Wort,
das trifft es, was ich damals empfand.. Natürlich war es auch schrecklich und entsetzlich.. Aber da war viel mehr.. Ich muss dabei etwas erlebt haben.. Aber was? Ich bitte Sie, bringen Sie mich
zurück, versetzen Sie mich in diesen Augenblick, als ich das Foto ansah... Sie machen doch auch Therapien mithilfe von
Hypnose.
THERAPEUT: Ja, aber nur bei einem Trauma. Bei Ihnen
geht es um eine Verhaltensstörung, einer Phobie, ich sehe da kein Trauma..
MANN: Vielleicht, weil ich Ihnen gar nicht das Wichtigste erzählt habe.. Könnte doch sein! Ich hatte es verdrängt.. Jedenfalls.. Ich bin jetzt 70.. Ich
weiß, das Foto wird mich quälen, für den Rest meines Lebens, und ich weiß nicht warum.... Bitte... Helfen Sie mir..
THERAPEUT: Ich weiß nicht..
MANN: Es war eigentlich eien gute Zeit. Uns ging es gut, auch mir natürlich... Wir hatten gerade eine Neubauwohnung
bezogen. Hatten unsern ersten Kühlschrank. Eine Waschmaschine. Ich hatte einen Plattenspieler. Mein Vater kaufte sich einen Opel .. Wir wollten in den Ferien nach Italien.. Ja, es ging uns gut,
sehr gut sogar... Und dann.. Das Buch..
THERAPEUT: Was an dem Bild ist besonders? Was fesselte sie?
MANN: Fesseln.. Ja, das war es.. Ich musste immer nur dieses Mädchen ansehen. Sehen Sie das Mädchen in der ersten Reihe? Eigentlich eine junge Frau, aber damals.. ja, ich hielt sie für ein Mädchen, nur wenig älter als ich. Sie müssen wissen, ich hatte noch keine Freundin.. Anna! Jetzt fällt es mir ein! Sie nannte sich Anna..
THERAPEUT: Sie nannte sich Anna?
MANN: Sehen Sie sich das Bild an! Ich erkenne sie ganzd eutlich. Sie hat sich nicht verändert! Immer noch schön und auf seltsame Weise glücklich, ja, sie
scheint mir wirklich glücklich zu sein. Wie kann das sein? Es ist doch ein Marsch in den Tod!
THERAPEUT: Glücklich? Nein, den Eindruck habe ich nicht. Sie sieht zu Boden.. Ich glaube, sie hat sich ergeben..
MANN: Nein! Sie lächelt, aber ich soll es nicht sehen.. Es ist ein leises, zärtliches Lächeln..
THERAPEUT: Warum sollte sie lächeln?
MANN: Weil sie mich gesehen hat.. Ich steh am Straßenrand..
THERAPEUT: Unter dem Foto steht "Die Straßen des Ghettos waren voll dichten, beißenden Qualm.“ Diese Menschen
haben die Hände erhoben. Menschen, die nichts mehr hoffen, nichts mehr fühlen, die nur noch marschieren.. wie automatisch....
MANN: Aber nein! Sie nicht! Da ist eine Kraft bei ihr.. Sie ist voller Leben...
THERAPEUT: Wie meinen Sie das?
MANN: Sehen Sie... Kann es sein, ich habe mich verliebt? Aber das geht doch gar nicht. Nicht bei so einem grauenhaften Foto...Helfen Sie mir! Was ist
mit mir passiert? Eine Liebe? Vielleicht eine große, die einzig wahre Liebe in meinem Leben? Verzeihen Sie.. Das ist lachhaft.. Anna.. Warum erinnere ich mich an ihren Namen?
THERAPEUT: Gut. Versuchen wir es. Aber seien Sie nicht enttäuscht, wenn nichts dabei heraus kommt.. Wnn es damals ein Scjhock war, dann ein merkwürdiger, das gebe ich zu.... Also versuchen wir's.. Bitte legen Sie sich hin.. Ganz locker.. Schließen Sie die Augen! Lassen Sie sich fallen! Sie fühlen das Gewicht Ihrer Arme, Ihrer Beine, ihr Körper sinkt immer tiefer.. Ihre Gedanken werden leicht, fließend... Sie sind wieder jung, es ist die Zeit des Wirtschaftswunders, Sie haben eine neue Wohnung, Ihr Vater hat einen Opel, der Kühlschrank ist gefüllt.. Sie sind 16 Jahre, Ihr Freund hat Ihnen ein Buch geschenkt. Es heißt Der gelbe Stern. Sie sind neugierig.. Sie schlagen es auf... blättern .. Fotos.. Viele Fotos.. (schweres Atmen des MANNES). Halt! Sie lassen das Buch sinken. Sie beruhigen sich.. Sie atmen ruhig.. Sie fühlen sich besser. Sie nehmen das Buch wieder auf, blättern.. Und jetzt sind Sie bei dem Bild.. „Der Marsch zum Umschlagplatz“ steht darunter.. Und: Die Straßen des Ghettos waren voll dichten, beißenden Qualm. Haben Sie es? Gut. Sehen Sie es sich an...
MANN: Ja... Das Foto.. Ja, ich sehe ... Ich sehe .. Hinten ist der Himmel schwarz. Und diese Menschen.. . Sie gehen wie eine Marschkolonne. Die Männer mit erhobenen Händen.. Alle gehen im Gleichschritt.. auch der Soldat am Rand mit dem Gewehr.. (Man hört die schleifenden Marschtritte auf dem Asphalt) Der Soldat hat ein verkniffenes Gesicht.. Er grinst, ja, er grinst.. Und da.. In der ersten Reihe ganz außen .. ein Mädchen. Sie geht eingehakt mit einer alten Frau.. An sie gedrängt ein kleines Kind.. Sie hat eine stolze Haltung.. Wieso schaut sie zu Boden?
ANNA (während das Geräusch des Marschierens bleibt): Weil ich dir zuhöre. Ich seh dich zwar nicht, aber ich höre dich. Und ich spüre dich. Wie hast du mich gefunden?
KLAUS: Ich?
ANNA: Mit wem spreche ich denn? Mit dir! Wie hast du mich gefunden?
KLAUS: Du bist in einem Buch. Auf einem Foto. Du gehst mit anderen.. Da ist ein Soldat, der euch bewacht..
ANNA: Steht da auch drin, wo wir hingehen?
KLAUS: Ich.. Ich weiß nicht..
ANNA: Schau nach..
KLAUS: Ich lese noch (schlägt mehrere Seiten um)..
ANNA: Du schnaufst ja... Ist Lesen so anstrengend?
KLAUS: Nein, bloß... Ich finde nichts...Doch.. Hier steht: "Auf dem Weg zum Umschlagplatz.."
ANNA: Umschlagsplatz, was ist das?
KLAUS. Ich weiß nicht...
ANNA: Wahrscheinlich geht es von dort ins Arbeitslager. Bei euch werden Arbeitskräfte gebraucht..
KLAUS (erleichtert): Jaja.. In ein Arbeitslager... Ganz genau. Arbeitslager... Da wird nur gearbeitet. Hab keine Angst.
ANNA: Hab ich nicht.
KLAUS: Woher weißt du, dass ich in Deutschland bin?
ANNA: Du sprichst deutsch.
KLAUS: Du auch..
ANNA: Ich bin aus Deutschland..
KLAUS: Und ich weiß, du bist Jüdin.. Dunkles Haar und schwarze Augen..
ANNA: Und du bist Katholik, blondes Haar und blaue Augen.
KLAUS: Gar nicht. Ich hab braune Augen und braunes Haar.
ANNA: Und meine Augen sind dunkelblau... Ich heiße Anna. Und du?
KLAUS: Klaus.
ANNA: Du hast da ein Buch, sagst du. Erzähl mir davon..
KLAUS: Das meiste sind Fotos..
ANNA: Schöne Fotos?
KLAUS: Ich weiß nicht.. Wie du gehst! Wie bei einer Wanderung... So viel Kraft zeigst du... Bei jedem Schritt schlägt dein Knie deinen Mantel nach oben.
ANNA: Wo bist du?
KLAUS: In meinem Zimmer.
ANNA: Beschreib es mir..
KLAUS: Die Zimmertür ist links von mir.. Wenn ich vom Buch aufsehe, sehe ich das Fenster.. Es geht in den Garten..
ANNA: Mach es auf, bitte.
(KLAUS öffnet ein Fenster, man hört Vogelgezwitscher)
ANNA: Da, das war ein Buchfink... Und jetzt.. wie schön...eine Amsel. Was siehst du?
KLAUS: Einen Fliederbusch.. Fünf oder vier Meter von hier.
ANNA: Blüht er?
KLAUS: Ja, es ist Mai.
ANNA: Riechst du den Duft?
KLAUS: Ja.
ANNA: Und der Himmel?
KLAUS: Blau, ein paar Wolken..Da fliegt ein Flugzeug..
ANNA: Ein Bomber?
KLAUS: Nein, wieso.. Es ist doch Frieden. (Plötzlich Schreie, Befehle: Zurück! Zurück! Schüsse.. Wieder Marschtritte) Was ist
passiert?
ANNA: Einer wollte weg.. (Marschtritte) Kann ich noch mal die Vögel hören.. (Vogelgezwitscher) Ja, jetzt spür ich es auch.. Es ist Frühling.. Die Welt ist nie so schön wie im Frühling. Die Nächte sind Klavierstücke, jede Nacht ein anderes Lied, jeder Stern ein anderer Ton... Und der Wind, der Wind, das himmlische Kind... (singt)
Sie aber steht, des Windes Beute,
umrahmt von weißem Kirschenflor.
Der Wind kommt sich wahrscheinlich heute
wie ein ganz großer Künstler vor.
KLAUS: Du singst.. Wie kannst du das? Jetzt singen?
ANNA: Weißt du, ich seh das so. Die in den Uniformen sind tot und wir sind die die Unsterblichen und leben.
KLAUS: Die Uniformen kenne ich. Ich hab sie auf Fotos gesehen, bei meinem Vater.. Die Soldaten sind deutsche Soldaten..Und der, der auf eurer linken Seite
mitläuft, das Gewehr unterm Arm, der sieht zu mir rüber.. Er hat einen schiefen Mund.. Das ist... Das könnte mein Vater sein. Er sieht mich an. Sein Grinsen sagt, er weiß, dass ich nichts tun
werde... Vielleicht glaubt er sogar, ich bin auf seiner Seite. Aber es stimmt nicht, ich würde eingreifen.. Ich würde ihn anschreien, er soll euch freilassen, und wenn er nicht hört,
dann..
ANNA: Er würde dich erschießen!
KLAUS: Ja, das trau ich ihm zu. Ich war acht, da kaufte er uns einen Schäferhund. Einen Jahr später hat er ihn im Wald erschossen. Weil er nicht gehorchte.
ANNA: Möge er nicht dein Vater sein! Schau nicht mehr hin..
KLAUS: Er grinst!
ANNA: Sag etwas. Ich höre dir zu. Wie alt bist du?
KLAUS: Sechzehn. Und du?
ANNA: Ich bin älter als du! Achtzehn.. Deine Stimme hat sich verändert. Bist du heiser? Was ist passiert? .
KLAUS: Ich bin sicher.. Dieser Soldat mit dem Gewehr. Es ist mein Vater! Ich muss mit ihm reden...
ANNA: Versuch es.
KLAUS: Er ist auf der anderen Seite.. Ich muss rufen.. (ruft) Papa! (im Sprechton) Nein, das geht
nicht. (ruft) Vater! Vater! Hörst du mich? Das sind Kinder, alte Frauen und Männer.. Und das ist Anna, meine Freundin! Lass die Leute frei! Sie haben nichts getan! Sie sind unschuldig. (Marschtritte) Er sagt nichts. Er grinst. Er lacht mich aus..
ANNA: Vergiss ihn.
KLAUS: Aber ich muss was tun... Was hier passiert.. Das darf doch nicht sein..
ANNA: Du tust ja schon was, du redest mit mir. Hör nicht auf zu reden. Bitte. Ich höre dich, auch wenn ich dich nicht sehe. Du bist aus der Zukunft..Der
Gedanke macht mich froh.. Die Zukunft ist gut, sie spricht durch dich zu mir.. Es ist Frühling, Mai, der Flieder blüht.. . Vergiss das nicht, Sohn dieses Mannes. Dieser gehört zu den Toten,
die keiner beklagen wird.. .Aber du in der Zukunft, du bist das Leben und wir leben mit dir..
KLAUS: Nein, nein.. Ich will das nicht, du sollst nicht so sprechen! Nicht so! Schreien musst du! Und so laut, dass sich alle die Ohren zuhalten müssen, du sollst diesen Verbrechern ins Gesicht schreien, was sie sind: Mörder! Mörder! Ich will, dass du um dich schlägst, dass du beißt und kratzt, dass du deine Wut auf sie wirfst, deinen Hass, dein Entsetzen, deine Angst.. Du hast doch Angst! (schreit) So wehr dich doch! (Pause)
ANNA: Du weißt doch, was passiert. Sie schießen sofort! Aber ich will nicht schuld an meinem Tod sein! Die Schuld soll bei ihnen bleiben! (Schuss) Siehst du, da hat sich wieder einer aus der Reihe gewagt.
KLAUS: War das mein Vater?
ANNA: Ist das so wichtig?
KLAUS: Ja! Ich werde dich rächen! Ich werde euch alle rächen!
ANNA: Es heißt, du sollst Vater und Mutter ehren.
KLAUS: Und es heißt auch: Du sollst nicht töten.
ANNA: Ja, auch das ist wahr.
KLAUS: Wenn du wenigstens schreien würdest.. Ich verstehe das nicht.. Du redest doch mit mir, also hast du eine Stimme. Ich würde mitschrein! Alle müssten es
hören. Hier im Haus und draußen auf der Straße! In der ganzen Stadt würden sie das hören! Also lass uns schrein!
ANNA: Schreien, ach Gott. Da hat man einer Frau die Geldbörse gestohlen und sie schreit. Da ist ein Hund überfahren worden und der Hundebesitzer schreit..
KLAUS: Du willst mich nicht verstehen!
ANNA: Weil ich dich zu gut verstehe. Du sollst hoffen. Glaub an die Zukunft. Uns zuliebe! Mir zuliebe!
KLAUS: So wein doch wenigstens.
ANNA: Wir saßen an den Bächen Babylons und weinten.. Ja, wenn wir uns setzen dürften, für eine kleine Rast, dann würden wir uns ausruhen und würden weinen.
KLAUS: Könnte ich wenigstens mit dir sein. An deiner Seite mitgehen! Geradeaus blicken wie du, den Kopf erhoben, stolz, ja, du siehst so stolz aus.. Und ich neben dir.. Ich könnte sogar lächeln. Weil morgen alles vorbei ist.
ANNA: Vorbei? Was ist vorbei?
KLAUS: Weil....
ANNA: Ich weiß..
KLAUS: Nein, nein, das meine ich nicht.. Ich meine, diese Geschichte wird vorbei sein. Und wir werden auf einem anderen Planeten sein. Einem Planeten ohne
Angst, ohne Schrecken, ohne Mord... Wir könnten neu beginnen... Alles besser machen..
ANNA: Du weißt schon? Kain erschlug seinen Bruder Abel. Und wenn sich schon Brüder umbringen...So fängt die Geschichte des Menschen an, sie geht bis heute. Sag mal, bevor du mich sahst – hättest du gedacht, dein Vater könnte einen anderen töten?
KLAUS: Nein. Niemals. Er hält sich an die Gesetze. Wer das nicht tut, ist kriminell, sagt er.. Er gehorcht, jedem Gesetz, jeder Vorschrift, das verlangt er
auch von mir.. Warum folgt er nicht dem größten Gesetz: Du sollst nicht töten? Ich versteh ihn nicht....
ANNA: Und wenn es in einem Gesetz heißt, du sollst töten? Es könnte auch bloß eine Vorschrift sein. Ja, er gehorcht, er wird
immer gehorchen. Wie viele andere. Sie gehorchen, ohne nachzudenken. Aber weißt du, dieser Soldat da – möge es nicht dein Vater sein! – wird noch heute einen Glockenschlag hören, so oft einer von uns an ihm vorbei geht. Dieser Glockenschlag ertönt in
seinem Herzen, er wird glauben, es ist sein Herzschlag, aber in Wirklichkeit ist es die Glocke, die ihn vors Gericht ruft... Ich fühle etwas.. Du wirst müde..
KLAUS: Ja, es wird Nacht.
ANNA: Geh schlafen! Und komm morgen wieder!
KLAUS: Dann wird es zu spät sein. Und wie soll ich schlafen.. Ihr höre eure Titte auf dem Pflaster..
ANNA: Tut mir leid.. Ich denke, wir sind bald da. Dann hörst du uns nicht mehr.
KLAUS: Ich werde euch immer hören. Keine Glocken, aber den Klang eurer Schritte..
ANNA: Damit schreiben wir unsere Geschichte. So schreiben wir sie in den Planeten, schon
immer, Tag und Nacht... (Stille) Was ist?
KLAUS: Da kommt jemand..
(Tür geht auf)
VATER: Mit wem redest du?
KLAUS: Mit keinem.
VATER: Lüg nicht! Ich hab dich reden hören. Und du hast nach mir gerufen? Warum?
KLAUS: Und bist du gekommen?
VATER: Bin ich dein Hund? Warum pennst du nicht schon?...Was hast du da? Ein Buch?
KLAUS: Geht dich nichts an.
VATER: Und ob das mich was angeht. Ist das ein Porno? Zeuig mal.. Her damit! (reißt ihm das Buch aus den Händen, blättert darn) Das schaust du dir an? So einen Mist! Woher hast du das? Das ist Propaganda!
KLAUS: Ich weiß jetzt, was du getan hast!
VATER: Was denn du Blödmann? Was denkst du wohl, was man im Krieg macht? (ruhig) Das hier.. So was gabe s gar nicht. Hab ich nie gesehn. Das sind gestellte Fotos. Von den Amis. Ich werde dir einmal erzählen, wie es wirklich war.
KLAUS: Gib das Buch her!
VATER: Das verschwindet im Müll.
KLAUS: Und dann ist alles gut?
VATER: Ja, natürlich. Hast du keine Augen im Kopf? Alles ist gut, sogar sehr gut. Uns geht es doch gut oder nicht? Weißt du, wie Deutschland 45 aussah? Totale Zerstörung. Das waren die Feidnme Deutschlands. Die gibt es heute noch. Denk mal darüber nach. Das schmeiß ich weg. (Man hört, wie KLAUS aufspringt) Verdammt.. Was fällt dir ein!.. (Man hört sie ringen. Stille. Geschnaufe.)
KLAUS: Jetzt musst du mich totschlagen, wenn du es wieder haben willst..
VATER: Dein Glück, dass ich mich beherrscht habe... Deine Mutter schläft. Halt wenigstens die Klappe beim Lesen! Und morgen reden wir noch mal
ausführlich darüber!
(Tür schlägt zu)
ANNA: Wo warst du? Ich hab dich nicht mehr gehört.. Ich dachte schon, du kommst nicht wieder.
KLAUS: Der Soldat war da. Wollte mich schnappen.. Hab ihn verjagt.
MÄDCHEN: Du meinst deinen Vater.
KLAUS: So was ist kein Vater. Das ist ein Soldat in Zivil. Ein Soldat auf ewig.
ANNA: Aber du bist auch sein Sohn.
KLAUS: Ja und? Was kann ich dazu? Sohn sein... Was ist das schon? Ist doch nur auf dem Papier! Oder? Ich bin doch ich.
Oder nicht? Bin ich ihm vielleicht ähnlich? Das ist doch nur äußerlich. Also, was bin ich? Ein Sohn? Ich bin doch mehr als ein Sohn! Oder bin ich etwas ganz anderes? Es kann doch nicht sein, dass
man immer nur ein Sohn bleibt! Sag es mir.. Sag es! Du kennst mich!
ANNA: Ach bitte.. Soll ich dich bemitleiden? (Stille) Ich bestimme das nicht. Keiner bestimmt das. Wer du
bist, das bestimmst du selbst.
KLAUS: Ja, das werde ich.. Ich weiß schon, ich muss was tun. Ich hau ab. An meinem 21. Ich verschwinde von hier.. Möglichst weit weg.. über alle Grenzen.. (stöhnt)
ANNA: Was ist?
KLAUS: Ihr geht so schnell.. Ich komm nicht mehr mit.. Ich glaub.. meine Beine ....
ANNA: Was ist damit?
KLAUS: Ich weiß nicht... Meine Schritte werden kleiner.. Nein.. Die Beine! Meine Beine schrumpfen!
ANNA: Du bist das lange Gehen nicht gewohnt.
KLAUS: Da stimmt eas nicht.. Mit mir passiert etwas.. Und jetzt die Arme! Auch meine Arme schrumpfen. Anna! ... Hilf mir! Hol mich rüber! Schnell!
ANNA: Ach, du erwartest ein Wunder..
KLAUS: Ja!. Ich glaube daran! Du bist Jüdin und ich Katholik, wir glauben an Wunder!
ANNA: Das Wunder ist doch schon da. Wir reden miteinander.
KLAUS: Reden! Nein, das ist zu wenig. Ich muss was tun.! Ich komme jetzt zu euch... Ich springe.. (Pause) Es geht nicht Die Beine sind weg... Gib mir deine Hand, Anna! Rette mich!
ANNA: Wovor soll ich dich retten? Vor deinem Leben? Da... Siehst du, wir sind schon da!
KLAUS: Wo? Was ist das für ein Ort?
ANNA: Ein Haus, ein großes Haus. Da gehen wir jetzt hinein. Sie sagen, wir werden geduscht. Und das haben wir auch nötig. Ich bin ganz verschwitzt...
KLAUS: Nein! Das stimmt nicht! Ich weiß, was es ist!
ANNA (leise): Ich auch, Klaus. Ich weiß es schon lange. Alle wissen es.. Aber siehst du das kleine
Mädchen hier? Das läuft schon die ganze Zeit mit.. (laut) Wir werden geduscht. Endlich mal wieder gewaschen! Es ist auch wirklich nötig, nicht wahr, Kleines?
KLAUS: Anna! Warte! Hier.. hier.. . im Buch.. da steht was! Die russische Armee ist schon ganz nah, sie befreien euch. Reißt aus! Rennt, rennt alle! Sie
können nicht alle erschießen!
ANNA: Ja, wir werden befreit, dann werden wir tanzen! Kannst du tanzen?
KLAUS: Wie denn? Ohne Beine!
ANNA: Wir werden uns umarmen!
KLAUS: Ich hab keine Arme!
ANNA: Und wir werden uns küssen!
KLAUS: Anna! Siehst du mich noch?
ANNA: Wir müssen uns jetzt ausziehen, Kleines, komm ich helf dir..... Sieh mal, Klaus.. Bin ich schön?
KLAUS: Jaja! Aber ich! Kannst du mich überhaupt noch sehen?
ANNA: Jetzt gehen wir hinein. Wir sehen uns im Frieden!
KLAUS (schreit): Anna, Anna! Du wirst mich nicht erkennen! (Die eiserne Tür schlägt zu) Anna! Ich bin ein Wurm!
THERAPEUT: Stop! Und ganz ruhig.. Alles weicht zurück, verblasst, verschwindet. Vorbei. Es ist vorbei.. Alles ist gut. Sie öffnen die Augen..Gut so. Es ist vorbei. Richten Sie sich auf. Sie sind bei mir.. Hier...das Tuch.. Wischen Sie sich das Gesicht.
MANN: Gott.. Ich weine..
THERAPEUT: Halten Sie die Tränen nicht zurück..
MANN: Ich konnte sie nicht retten! Ich konnte sie nicht retten.
THERAPEUT: Das war unmöglich. Es ist ein Buch!
MANN: Ich weiß, ich weiß.. O Gott.. Ich hab sie nicht retten können..
THERAPEUT: Es ist ein Foto, nur ein Foto!
MANN: Ja, natürlich. Aber so in den Tod gehen! Vor meinen Augen!
THERAPEUT: Hören Sie.. Schauen Sie her! Sehen Sie.. Wir klappen das Buch jetzt zu und legen es beiseite. . Beschäftigen wir uns mit Ihnen. Wenn Sie auf Ihr Leben zurück blicken, wie beurteilen Sie es?
MANN: Normal, denke ich.. Vielleicht ein wenig lahm...
THERAPEUT: Erklären Sie das bitte etwas genauer.
MANN: Das klingt vielleicht komisch, was ich jetzt sage. Aber ich habe oft darüber nachgedacht. Mein Leben änderte sich nach dem Lesen des Buches. Ich war nicht mehr 16, ich war plötzlich so alt wie mein Vater.. Verstehen Sie das?
THERAPEUT: Ich glaube, ja.
MANN: Jedenfalls.. Wenn ich sehe, wie die jungen Leute heute leben. So
ohne Spaßbremse. Sie leben, wie sie wollen.. Das konnte ich nie.. . Das Leben war anstrengend, es ging von Aufgabe zu Aufgabe.. bis heute... Ja, ich bin neidisch auf die Jugend von heute.. Ich habe selbst Kinder, sind jetzt
erwachsen.. Als ich jung war, war ich der Sohn eines Mörders. Meine Kinder sind nur Kinder eines Vaters, was kümmert sie meine Vergangenheit.. Dabei gab es doch eine Lösung, damals:
Hätte mein Vater zu seinen Verbrechen gestanden und sich schuldig gefühlt, wäre ich bestimmt anders geworden. Aber es war das Gegenteil. Er sah sich im Recht und
wenn irgendwo Schuld war, dann höchstens bei den anderen. Leider hatte ich nicht die Kraft des Vatermordes. Entschul-digung. Das ist mir so raus gerutscht.
THERAPEUT: Hm.. Das klingt nach Selbstmitleid...
MANN: Selbstmitleid.. Ach Gott... Ich will
Befreiung.. Wenn das möglich wäre. Oder genauer: Wiedergutmachung. Ja, ich will es ungeschehen machen.. Ich möchte Anna retten! Ja! immer noch! Wenn das möglich wäre.. Ich würde alles dafür
geben.. Aber Anna ist tot!
THERAPEUT: Ja. Und das ist unumkehrbar. Sie konnten nicht helfen. Wie auch.. Sie waren noch gar nicht geboren. Warum also sahen Sie sich als Wurm? Wollten Sie das sein? Genossen Sie das etwa?
MANN: Ich bitte Sie..
THERAPEUT: Es gibt ein Entzücken in sein eigenes Unglück oder Verderben.. Es kann sogar ein gewolltes Unglück sein. Man kann sich daran weiden.. Aber ein Leben lang? Hören Sie auf damit! Sie sind weder behindert noch machtlos. Die Gegenwart gehört Ihnen, sie steht Ihnen voll und ganz zur Verfügung, also handeln Sie! Und verhindern Sie, was Sie einmal verhindern wollten und nicht konnten!
MANN: Ich verstehe Sie nicht..
(Demonstrationslärm von draußen)
THERAPEUT: Hören Sie das?
MANN: Was ist das?
THERAPEUT: Moment... Ich mach das
Fenster auf.. (Man hört, wie er zum Fenster geht und es öffnet. Demonstration mit Naziparolen, z. B. "Wer Deutschlan liebt, ist Antisemit")
MANN: Entsetzlich!
THERAPEUT: Sie sitzen da.. Sie sind nicht mehr 16! Das ist vorbei! Warum handeln Sie nicht?
MANN: Wie meinen Sie das?
THERAPEUT: Was ich sage! Gehen Sie! Gehen Sie! Dort draußen ist Anna.. Irgendwo.. Sie heißt bloß anders.. Man will sie jagen.. Vielleicht sogar töten..
Handeln Sie! Retten Sie, bevor es zu spät ist!
ENDE