Einmal war Gewalt ein Tabu. In den Medien durfte sie nur angedeutet werden.
Doch dann passierte etwas. Gewalt wurde zu einem Mittel der Kunst. Sie sollte schockieren und sie tat es. Man war schockiert, aber mit heimlichem Behagen, und der Publikumserfolg war groß.
Nach und nach nahmen in den Medien die Gewaltszenen einen immer größeren Raum ein. Natürlich war das Publikum noch immer gegen die Gewalt, doch wenn sie
„ästhetisch“ daher kam, war sie akzeptabel. In der Besprechung eines ungewöhnlich brutalen Films war zu lesen, er sei sehenswert – besonders weil die Gewaltszenen ästhetisch perfekt gelungen
seien. Wenn die Gewalt schön aussieht, dann geht es. Dann wird sie sogar gelob.t Der gute Gschmack findet so Geschmack an
Gewaltszenen.
Dabei wird übersehen: Die Grenze zwischen Ästhetisierung und Bewunderung der Gewalt ist fließend. Und dan wird sie gesellschaftsfähig.
Hinzu kommt die heimliche Lust des Menschen an Grausamkeit. Sie zieht den Menschen an. Es ist weit mehr als Neugier, wenn sich Schaulustige um die Bergung Verunglückter drängen. Und da es die Wirtschaft schon immer verstandt, die Lüste des Menschen sich nutzbar zu machen, wurde Gewalt zu einem Mittel der Unterhaltung, das heißt: zu einem profitablen Geschäft. Es kamen die Computerspiele. Pfeif auf die Ästhetik. Das Blut muss spritzen. Der Run auf das blutigste Kriegsspiel begann.*)
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(Ja, ich weiß, was die Fachleute sagen. Videospiele, in denen es z. B. um das Töten von menschlichen Gestalten geht, haben keine Auswirkung auf die Psyche von Jugendlichen. Andererseits heißt es, man solle den Kindern und Jugendlichen unsere Werte nahe bringen. Z. B. mit guten Geschichten, guten Kinderfilmen usw... Das forme ihren Charakter, das präge sie fürs Leben. Aber wenn das eine gilt, muss es doch auch für das andere gelten. Anders rum: Wieso sollen nur humane Bilder und Geschichten auf Kinder eien Wirkung, aber nicht inhumane?)
Von der Vorstellung zur Verwirklichung, vom Gedanken zur Tat ist es nur ein kurzer Weg.
Was der Mensch beim Zusehen als wonnig empfindet, ist doch letzten Endes die virtuelle Beteiligung an einer Grausamkeit. Was soll ihn hindern, sie einmal in Wirklichkeit zu erleben? Und gelingt es ihm, passiert etwas Überraschendes, das zur Wiederholung drängt: Die Tat bringt nicht nur Lustgewinn, sie bringt Befriedigung.
Befriedigung, was für ein Wort im Zusammenhang mit der Gewalt. Aber der Mensch ist so gebaut. Seit Urzeiten schläft ein Wilder in ihm, und es braucht nur einen
Anstoß, um ihn zu wecken.
Und dann es gibt noch etwas, etwas Zusätzliches, das befördert den Ausbruch von Gewalt. Man hat sich ja so oft zurückhalten müssen: gegen den Chef, den Vermieter, den Nachbarn, die Behörde, gegen alle, die Macht haben, die uns ständig ungerecht behandeln und denen es besser geht als uns. Jetzt können wir sie loslassen: die aufgestaute Wut, den Hass, jetzt endlich haben wir die Oberhand und wir zeigen sie, wir schlagen drauf los. Und schon mit dem ersten Hieb kommt die Erleichterung, wächst sich aus zur Lust und steigert sich bis zum Höhepunkt tiefster Befriedigung..
Und damit die Gewalt uns kein schlechtes Gewissen macht – denn Wilde wollen wir ja keinesfalls mehr sein – rechtfertigen wir sie mit einer Ideologie. Oder einer Religion. Oder einfach mit dem Andersartigen, der falschen Hautfarbe, der fremden Kultur.
Warum gab es Tabus, als die Menschen noch Wilde waren?
Sie waren klüger als wir.
Sie wussten, dass man den Menschen vor sich selbst schützen muss.
*) Ja, ich weiß, was man sagt: Kriegerische Videospiele hätten keine Auswirkung auf die Psyche von Kindern und Jugendlichen.
Andererseits behauptet man, gute Bücher und Filme wirken positiv auf Kinder und Jugendliche. Frage: Aber wenn sie brutal sind, sollen sie auf Kinder und Jugendliche keine Wirkung
haben?